KG verhandelt Regeln für Badebekleidung: "Oben ohne" für alle?

von Dr. Max Kolter

28.09.2023

Der Sicherheitsdienst eines Wasserspielplatzes forderte eine Frau auf, ihre nackten Brüste zu bedecken. Eine hiergegen gerichtete Klage wies das LG Berlin ab. Nun geht es beim KG weiter: vollständige Bikini-Pflicht oder "Free the nipple"?

"Bitte bekleiden Sie sich oben rum!" Diese Aufforderung erhielt die Berlinerin Gabrielle Lebreton von Security-Mitarbeitern, als sie im Sommer 2021 auf dem Wasserspielplatz "Plansche" im Berliner Plänterwald verweilte – im Beisein ihres Kindes, eines Freundes und dessen Kindes. Der Sicherheitsdienst des vom Land Berlin betriebenen Kinderspielplatzes mit Planschbecken stellte Lebreton vor die Wahl: Entweder sie bedecke ihre Brust oder sie müsse das Areal verlassen. Sie aber wollte mit ihrem Kind dort bleiben – und zwar "oben ohne".  

Sie blieb standhaft, woraufhin der Sicherheitsdienst die Polizei rief, die Lebreton erneut vor die Wahl stellte: anziehen oder die "Plansche" verlassen. Sie ging unfreiwillig und klagte später vor dem Berliner Landgericht (LG) auf eine Entschädigung – ohne Erfolg. Mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und ihrer Rechtsanwältin Leonie Thum ging sie in Berufung, über die am Freitag das Kammergericht (KG) verhandelt (Az. 9 U 94/22). 

"Männer dürfen völlig selbstverständlich ihren Oberkörper entblößen. Warum gilt das für Frauen nicht? Diese Diskriminierung und systematische, gegen den Willen der Betroffenen geschehende Sexualisierung haben mich nachhaltig schockiert – deshalb kämpfe ich weiter, nicht nur für mich, sondern für alle von Diskriminierung betroffenen Menschen", wird Lebreton von der GFF zitiert. Für die erlittenen psychischen Beeinträchtigungen fordert sie eine Entschädigung von mindestens 10.000 Euro. 

Feministischer Diskurs im Antidiskriminierungsgesetz

Für die Klägerin und ihre Unterstützer geht es dabei auch ums Prinzip, sie wollen vor Gericht einen breiteren feministischen Diskurs führen: Nicht wenige Frauen stören sich daran, dass sie ihre Brüste auch bei hohen Temperaturen bedeckt halten sollen, während sich viele Männer schon ab 20 Grad im Mai die T-Shirts vom Leib reißen und ihre Plauzen im Park brutzeln. Dass männliche Nippel als asexuell gelten, während weibliche Brüste von weiten Teilen der Bevölkerung als sekundäre Geschlechtsmerkmale angesehen werden, ist eines dieser männlichen Privilegien, die manche Frau nicht länger akzeptieren will – "free the nipple" lautet die Forderung, die auch als Hashtag in den Sozialen Medien kursiert.

Das Thema betrifft im Übrigen nicht nur Frauen und Männer: Auch trans Männer und Personen, die von anderen als weiblich angesehen ("gelesen") werden, erleben eine Sexualisierung ihrer Brüste.

Diese Gleichstellungsdebatte bildet nicht nur den Hintergrund des Rechtsstreits, sondern könnte an verschiedenen Stellen der rechtlichen Prüfung relevant werden. Denn Rechtsgrundlage bilden die §§ 2 und 8 des Berliner Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG). Das 2020 verabschiedete LADG ist bundesweit das erste und einzige Gesetz, das Bürger vor behördlicher Diskriminierung aufgrund von tatsächlichen oder zugeschriebenen persönlichen Merkmalen wie des Geschlechts, der Herkunft, der Religion, einer Behinderung oder Erkrankung, des Alters, der Sprache, der sexuellen oder geschlechtlichen Identität oder des sozialen Status schützen will. 

Dass staatliche Akteure nicht ohne sachlichen Grund Bürger aufgrund solcher Merkmale ungleich behandeln dürfen, ergibt sich größtenteils schon aus Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz (GG). Doch das LADG erweitert und präzisiert die Diskriminierungsmerkmale und wählt politisch-korrektere Begrifflichkeiten als das GG: So ist dort der Begriff "Rasse" nicht vorgesehen, stattdessen wird vor Diskriminierungen aufgrund der (tatsächlichen oder einer zugeschriebenen*) "ethnischen Herkunft" oder "rassistischen" und "antisemitischen Zuschreibungen" geschützt; auch Diskriminierungen von trans oder queeren Personen müssen nicht irgendwie unter "Geschlecht" subsumiert werden.

Schließlich gewährt das LADG Betroffenen einen Anspruch auf Schadensersatz sowie Schmerzensgeld (§ 8 Abs. 1, 2 LADG), wobei sie von einer Beweislastumkehr zulasten der Behörden profitieren (§ 7 LADG). 

Diskriminierung oder Ungleichbehandlung von Ungleichem?

"Die maßgebende Frage des Verfahrens ist ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot. Wir erhoffen uns vom Kammergericht, dass es eine grundlegende Entscheidung für die Auslegung des LADG trifft", sagt Soraia Da Costa Batista, die das Verfahren als Juristin für die GFF koordiniert, gegenüber LTO. In ein Prüfungsschema übersetzt, kommt es vor allem auf zwei Fragen an: Liegt eine Diskriminierung wegen des Geschlechts gemäß §§ 2, 4 LADG vor? Falls ja: Ist diese nach § 5 LADG wegen eines sachlichen Grundes gerechtfertigt?

Für Lebreton und die GFF stellt die unterschiedliche Behandlung männlicher ("oben ohne" erlaubt) und weiblicher Brüste ("oben ohne" verboten) eindeutig eine geschlechtliche Diskriminierung dar. Das LG Berlin hingegen hat einen sachlichen Grund für die unterschiedlichen Bekleidungsregeln angenommen. Zudem ließ es zweifelnd offen, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung vorliegt. Wenn man das LADG im Lichte des Art. 3 GG auslege, sei nicht per se untersagt, "geschlechtliche Unterschiede" zum "Anlass für unterschiedliche Behandlung" zu nehmen. Dass Frauen ihre Brüste bedecken müssen und Männer nicht, stellt nach Auffassung des LG keine Ungleichbehandlung von Gleichem dar, sondern eine Ungleichbehandlung von Ungleichem – auch wenn es dies endgültig erst im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung festhält.

Welche "geschlechtlichen Unterschiede" das LG hier meint, die nach einer anderen Passage im Urteil "offensichtlich" seien, lässt das Gericht in den Urteilsgründen unbeantwortet. Der "Fakt", dass die weibliche Brust weiblich und die männliche männlich ist, kann nicht ausreichen. Erstens handelt es sich hierbei um eine Tautologie, die nicht beantwortet, inwiefern das mit Haut und Brustwarzen bedeckte Gewebe sich bei Mann und Frau tatsächlich unterscheidet. Zweitens geht dieser Ansatz bei trans, inter und nicht-binären Personen fehl: Weiblichkeit oder Männlichkeit ist kein "Fakt", sondern basiert auf Zuschreibung und Selbstbestimmung, wobei sich beides eben nicht decken muss. 

"Geschlechtliches Schamgefühl des Menschen" als Maßstab des LG Berlin

Letztlich vermögen auch sämtliche "faktischen" oder "biologischen" Unterschiede – bei frischgebackenen Müttern kann die Brust immerhin eine der männlichen Brust fremde Stillfunktion erfüllen – nicht zu rechtfertigen, warum die weibliche Brust als sekundäres Geschlechtsmerkmal behandelt wird. Derlei Überlegungen hat das LG Berlin auch nicht angestellt. 

Vielmehr hat es den rechtlichen Grund für die unterschiedlichen Bekleidungsregeln auf dem Wasserspielplatz in den Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft selbst gesehen – dem "geschlechtlichen Schamgefühl des Menschen". Zwar "mag sich dieses allgemeingesellschaftlich im Laufe der Zeiten gewandelt haben". Jedoch, so das LG, könnten sich andere Besucher des Wasserspielplatzes durch "das Präsentieren eines nackten weiblichen Oberkörpers" immer noch "aus moralischen, religiösen und sonstigen Gründen belästigt oder unwohl fühlen". Deshalb dürften andere Spielplatzbesucher erwarten, dass Frauen im Planschbetrieb "handelsübliche Badekleidung" tragen, also Badeanzug oder Bikini – und der, so das LG, "besteht nicht nur aus einer Hose".  

Ob das vom LG Berlin behauptete "geschlechtliche Schamgefühl" seinerseits auf einem sachlichen Grund beruht, hat das Gericht nicht geprüft. Genau daran stört sich Lebretons Anwältin Thum, die argumentiert hatte, dass das Antidiskriminierungsrecht vor dem "subjektiven Scham- oder Sittlichkeitsgefühl" besonders konservativer Menschen schützen will, auch – oder gerade – wenn diese in der Mehrheit sind.

Soll ein Antidiskriminierungsgesetz die Mehrheitsmeinung durchsetzen?

Hier tut sich ein Zielkonflikt des LADG auf: Ein Gesetz, das sich in § 1 "die Verhinderung und Beseitigung jeder Form von Diskriminierung" zum Ziel setzt, dient damit dem Schutz von Minderheiten und strukturell diskriminierten Gruppen. Daher ist es bemerkenswert, dass das LG Berlin eine Diskriminierung im Sinne der §§ 4, 5 LADG mit dem Hinweis abgelehnt hat, die Ungleichbehandlung entspreche der Mehrheitsmeinung.

Auch wenn das Gericht nicht explizit auf die Mehrheit abstellt, wird an den Begriffen "geschlechtliches Schamgefühl des Menschen", "in der Gesellschaft anerkannte Regeln" und "Überschreitung der gesellschaftlich akzeptierten Toleranzgrenze" doch sehr deutlich, dass es hier um mehrheitliche Anschauungen geht – oder solche, die das LG für Mehrheitsmeinungen hält. 

Ob und wie sich das KG zu diesem Konflikt zwischen Mehrheits- und Minderheitsanschauungen positioniert, ist hochspannend und stellt das LADG auf eine Bewährungsprobe: Inwieweit soll und wird es sozialen Wandel fördern oder bestehende Zustände und Praktiken nur bestätigen? Hier bedeutet das konkret: Genügt der Umstand, dass eine Kleidungskonvention herrschend ist, um sie als nichtdiskriminierend einzustufen? Dann bliebe die Konvention deshalb Konvention, weil sie Konvention ist. Umgekehrt wird das Gericht vermeiden wollen, eine Minderheitsmeinung zur neuen Konvention zu machen. Ein Dilemma.

Müssen Kinder vor dem Anblick weiblicher Brüste besonders geschützt werden?

Auf Mehrheitsanschauungen abzustellen, provoziert jedenfalls immer die Frage, wie diese im Einzelfall ermittelt werden: Kommt es auf die Meinungen aller Berliner an, die Bewohner des Bezirks Treptow-Köpenick oder auf die an dem Tag im Freibad Anwesenden? Das LG Berlin hat die bloße Möglichkeit genügen lassen, dass sich manche Menschen durch den Anblick der nackten weiblichen Brust gestört fühlen – "ohne dass es einer Befragung aller zufällig Anwesenden bedurft hätte". 

Interessant wird auch sein, ob das KG im Rahmen des "geschlechtlichen Schamgefühls" wie das LG damit argumentiert, dass die Plansche ein Ort für Kinder ist, die vor dem Anblick von Geschlechtsorganen besonders zu schützen seien. Womöglich hält der 9. Zivilsenat hier aber auch das Argument von Lebretons Anwältin Thum in der Berufungsbegründung für überzeugender, dass gerade Kinder die weibliche Brust (noch) nicht als sexualisiert erkennen und deshalb weder ein Schamgefühl bei deren Anblick empfinden noch anderweitigen Schaden erleiden würden. 

Eventuell findet das höchste Berliner Zivilgericht aber auch einen Weg, den Fall zu entscheiden, ohne die Diskriminierungsfrage zu beantworten. Das wäre in beide Richtungen denkbar. 

Gesellschaftliche Anschauungen als taugliche Ermächtigungsgrundlage?

Einerseits könnte das KG das LADG für unanwendbar halten, weil es die Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes nicht als "öffentliche Stelle" im Sinne des § 3 LADG ansieht und ihr Verhalten auch nicht anderweitig dem Land Berlin zurechnet. So hatte kürzlich das Amtsgericht Berlin-Mitte im Fall einer rassistischen Beleidigung durch Fahrscheinkontrolleure der Berliner Verkehrsbetriebe entschieden. Dann wird das KG vorliegend jedoch prüfen müssen, ob nicht die herbeigerufenen Polizeibeamten diskriminierend gehandelt haben. 

Andererseits könnte das Gericht der Klage auch deshalb stattgeben, weil das Verhalten des Sicherheitsdienstes ohne eine hinreichende Rechtsgrundlage erfolgte. Zum Zeitpunkt des Vorfalls gab es für die Plansche nämlich keine Benutzungsordnung. Eine solche war erst später eingeführt worden, hier war dann eine Pflicht zum Tragen "handelsüblicher Badekleidung" enthalten, nach einem Verfahren vor der LADG-Ombudsstelle ist das Sonnen und Planschen "oben ohne" nun aber für alle erlaubt. Dies hat die Berliner Justizsenatsverwaltung im März 2023 auch noch mal für sämtliche Bäderbetriebe per interner Anweisung klargestellt.

Dass für das Verhalten des Sicherheitsdienstes in der Plansche zunächst eine explizite Ermächtigungsnorm fehlte, hielt das LG Berlin nicht für problematisch. Rechtsanwältin Thum dagegen sieht den Vorbehalt des Gesetzes klar verletzt und geht davon aus, dass für die Rechtfertigung hier jedenfalls eine Rechtsgrundlage erforderlich wäre.

Im Sinne der Rechtssicherheit wäre wünschenswert, dass das KG die Frage klärt, ob solche Bekleidungskonventionen, die es in öffentlichen Bäderbetrieben außerhalb Berlins weiterhin gibt, Frauen und weiblich gelesene Personen wegen des Geschlechts diskriminieren. Dies könnte auch ein Fingerzeig für die Auslegung der anderen im LADG enthaltenen Diskriminierungsmerkmale sein.

Bejaht das KG vorliegend eine Diskriminierung, muss es die angemessene Höhe der Entschädigung festlegen. Dass Lebreton tatsächlich 10.000 Euro erhält, ohne die behaupteten Traumata konkret darzulegen, ist unwahrscheinlich. Dass das Gericht den Umstand berücksichtigt, dass ihr eigenes Kind den "Rauswurf" aus der Plansche durch uniformierte Polizeibeamte beobachten musste, liegt dagegen nahe. 

Laut Mitteilung des KG ist unklar, ob das Gericht am Freitag ein Urteil fällen oder einen weiteren Verhandlungstermin anberaumen wird.

* Ursprünglich war in der Klammer nur die Variante "tatsächlichen" genannt. Das war missverständlich, daher haben wir den Klammerzusatz klarstellend erweitert. Wie einen Absatz zuvor auch dargestellt, liegt eine Diskriminierung auch dann vor, wenn die diskriminierende Person eines der genannten Merkmale nur annimmt (§ 4 Abs. 1 LADG). (09.10.2023, 11:48 Uhr, Red.)

Zitiervorschlag

KG verhandelt Regeln für Badebekleidung: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52803 (abgerufen am: 09.11.2024 )

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