Am Donnerstag stand bei der Bundestagsdebatte über ein Beschneidungsgesetz auch ein Alternativentwurf von Oppositionsabgeordneten zur Diskussion. Das Kind soll selbst und erst ab 14 Jahren entscheiden. Warum sie den Gesetzentwurf mitunterzeichnet hat, obwohl sie die Zirkumzision am liebsten gar nicht regeln würde, erklärt Katja Keul von den Grünen im LTO-Interview.
LTO: Sie sind eine von 66 Abgeordneten, die eine Alternative zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschneidung vorgeschlagen hat. Wieso? Ist der Koalitionsentwurf verfassungswidrig?
Keul: Ja, in der Tat. Wenn ich das in Ruhe rechtlich durchprüfe, komme ich zu dem Ergebnis, dass der Regierungsentwurf mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar ist.
Ich bezweifle schon, dass es überhaupt um eine Abwägung zwischen Grundrechten geht, wie es gestern viele in der Debatte vorgebracht haben. Also einer Abwägung zwischen der körperlichen Unversehrtheit des Kindes, dem Erziehungsrecht der Eltern und der Religionsfreiheit. Zu einer Abwägung kann es nämlich gar nicht kommen, weil sich die Religionsfreiheit immer nur auf die Freiheit der eigenen Person beziehen kann. Die Religionsfreiheit eines Menschen kann nicht die körperliche Unversehrtheit eines anderen einschränken. Dabei darf man nicht vergessen, dass das Kind selbst Grundrechtsträger ist.
Diejenigen, die aber doch abwägen, müssen sich anschließend die Frage stellen, wie sie das einfach gesetzlich handhaben wollen. Kommt man nämlich zu dem Ergebnis, die Religionsfreiheit rechtfertigt eine Beschneidung, dann braucht man im Prinzip auch kein Gesetz. Ist der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit aber nicht zu rechtfertigen, dann kann der einfache Gesetzgeber diese verfassungsrechtliche Frage auch nicht anderweitig lösen. Ein solches Gesetz widerspräche schlicht dem Grundgesetz.
LTO: Bei der Abwägung geht es aber doch nicht nur um die Religionsfreiheit der Eltern, sondern auch um ihr Erziehungsrecht?
Keul: Art. 6 GG gibt den Eltern zwar das Recht, ihre Kinder religiös zu erziehen. Aber das Erziehungsrecht berechtigt nicht zu irreversiblen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit des Kindes.
"Mit der Religionsmündigkeit kann das Kind auch über seine Beschneidung entscheiden"
LTO: Was macht Ihr Entwurf besser?
Keul: Er tut, was er kann. Ich bin immer noch unentschieden, ob man wirklich ein Gesetz braucht. Aber jetzt haben wir eben die Situation, dass die Bundesregierung einen Entwurf vorgelegt hat. Dann ist es auch durchaus sinnvoll, mit einem Alternativentwurf deutlich zu machen, worum es uns geht.
Wir nehmen die Grenze von 14 Jahren für die Religionsmündigkeit auf und machen damit klar, dass es nicht um die Religionsfreiheit der Eltern geht, sondern wenn überhaupt dann um die des Kindes. Nur die eigene Religionsfreiheit kann in der Abwägung mit der körperlichen Unversehrtheit eine Rolle spielen. Und dann ist es konsequent zu sagen, der Zeitpunkt der Religionsmündigkeit ist der Moment, zu dem das Kind frühestens über seine eigene Beschneidung entscheiden kann.
LTO: Sie machen das Recht der Eltern, in eine Beschneidung ihres Sohns einzuwilligen, davon abhängig, dass das Kind das 14. Lebensjahr vollendet hat, einsichts- und urteilsfähig ist und der Beschneidung selbst zugestimmt hat. Sobald ein Minderjähriger den notwendigen Reifegrad hat, kann er aber doch auch ohne seine Eltern in eine Körperverletzung einwilligen. Ist ihr Gesetzentwurf damit nicht obsolet? Zu einem Widerspruch zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit kommt es dann ja gar nicht mehr?
Keul: Solange das Kind minderjährig ist, bleiben die Eltern sorgeberechtigt und damit auch zur Einwilligung befugt, selbst wenn ihr Erziehungsrecht mit fortschreitendem Alter des Jugendlichen hinter dessen Recht zur eigenständigen Persönlichkeitsentfaltung zurücktreten mag. Ich würde als Sorgeberechtigte eines 14-Jährigen immer noch über eine Beschneidung entscheiden wollen; es ist ja immerhin ein irreversibler Eingriff.
"Es ist bisher auch nicht zu massenhafter Strafverfolgung gekommen"
LTO: Sie hatten eben schon anklingen lassen, dass Sie selbst gar nicht so sehr davon überzeugt sind, dass es überhaupt ein Beschneidungsgesetz braucht. Die Entscheidung des Landgerichts Köln war ja in der Tat eine Einzelfallentscheidung, die andere Gerichte nicht bindet. Höchstrichterlich ist über die Strafbarkeit der Beschneidung noch nicht entschieden worden. Wieso haben sich Bundestag und Bundesregierung so darauf versteift, ein Gesetz zu erlassen?
Keul: Ich bedaure diese Entscheidung wirklich. Aber die Situation ist nun so, und wenn man eine Gegenposition vertreten will, kann man das am besten in einem Alternativentwurf tun. Außerdem muss für die Ärzte Rechtssicherheit hergestellt werden.
Trotzdem sollten wir zumindest feststellen, dass es in den letzten Jahren auch ohne Gesetz nicht massenhaft zur Strafverfolgung von Eltern und Ärzten gekommen ist. Das ist ein Punkt, der in der Debatte übersehen worden ist. Während der ersten Lesung haben viele Abgeordnete gesagt, wer den Alternativentwurf unterstützt, kriminalisiere Eltern und treibe sie dem Strafrecht in die Arme.
2/2: "Vielleicht muss man hinnehmen, dass etwas rechtswidrig ist"
LTO: Was entgegnen Sie den Kritikern?
Keul: Der Staat ist auf jeden Fall verpflichtet, die Rechte des Kindes zu wahren. Er kann also, wenn die Grundrechte des Kindes betroffen sind, nicht einfach sagen, wir erklären die Beschneidung für erlaubt. Dennoch hat er eine gewisse Freiheit, wenn es darum geht, mit welchen Mitteln er diese Rechte durchsetzt und ob er dafür das Mittel der Strafverfolgung wählt.
Man muss also vielleicht hinnehmen, dass etwas nach unserer Rechtsordnung rechtswidrig ist. Gerade beim Tatbestand der Körperverletzung müssen die Strafverfolgungsbehörden, wenn kein Strafantrag gestellt wurde, die Ermittlungen aber nur aufnehmen, wenn sie wegen des besonderen öffentlichen Interesses ein Einschreiten von Amts wegen für geboten halten.
In diesem Rahmen können Erwägungen aller Art berücksichtigt werden. Gesellschaftliche und religiöse Aspekte, aber auch die Intention, unerwünschte Folgen zu vermeiden – etwa dass die Kinder unter gesundheitlich fragwürdigen Umständen beschnitten werden.
"Die Strafverfolgung ist nicht das richtige Mittel"
LTO: Eine Strafverfolgung ist also nicht das richtige Mittel, um Jungen unter 14 Jahren vor einer Beschneidung zu schützen?
Keul: Genau. Das war sie bisher nicht und das ist sie auch in Zukunft nicht. Und nur weil ich mich auf den Standpunkt stelle, dass unsere Rechtsordnung die Beschneidung nicht für rechtmäßig erklären kann, heißt das nicht, dass ich fordere, alle Eltern und Ärzte mit den Mitteln des Strafrechts zu verfolgen.
Im Abtreibungsrecht hatten wir übrigens lange eine ähnliche Situation. Der Gesetzgeber wollte die Abtreibung wegen der Rechte des ungeborenen Kindes nicht für rechtmäßig erklären. Um den Ärzten Rechtssicherheit zu geben, hat man sich aber dafür entschieden, sie nicht strafrechtlich zu verfolgen.
LTO: Das Strafrecht erklärt den Schwangerschaftsabbruch auch weiterhin in bestimmten Fällen für straflos, ohne dabei aber an seiner Rechtswidrigkeit zu rütteln. Wäre das nicht auch eine Lösung für die Beschneidung? Also keine Regelung im Familienrecht, sondern doch im Strafrecht, wo man entsprechende Bestimmungen vielleicht auch eher vermuten würde?
Keul: Nein, ich denke nicht, dass wir das brauchen. Das Strafrecht sieht schon heute die erforderlichen Mittel vor, um jüdische und muslimische Eltern nicht strafrechtlich zu verfolgen, auch wenn man die Beschneidung für rechtswidrig hält.
"Es gibt viele jüdische und muslimische Eltern, die versuchen, sich diesem Ritual zu entziehen"
LTO: Würden Sie eine verfassungsgerichtliche Klage gegen ein Beschneidungsgesetz in der Fassung, die die Bundesregierung vorgeschlagen hat, unterstützen?
Keul: Das kann ich derzeit noch nicht beantworten, weil noch nicht klar ist, wer und auf welchem Weg diese Verfassungswidrigkeit geltend machen könnte. Ich gehe nicht davon aus, dass die Unterzeichner des Alternativentwurfs aus dem Bundestag heraus eine Normenkontrollklage anregen werden. Ich sehe im Moment auch nicht, wie Einzelpersonen die Verfassungswidrigkeit werden rügen können.
Am Ende werden entsprechende Veränderungen aus den Religionsgemeinschaften selbst herauskommen. Wir ignorieren im Moment, dass dort durchaus kontrovers über die Beschneidung debattiert wird. Es gibt viele jüdische und muslimische Eltern, die versuchen, sich diesem Ritual zu entziehen, sich aber von ihrer Gemeinschaft unter Druck gesetzt fühlen, sich ihm zu unterwerfen. Ich halte es daher nicht für richtig, zu argumentieren, dass ohne die rituelle Beschneidung jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland generell nicht mehr möglich wäre. Damit entzieht der Gesetzgeber Kräften innerhalb der Debatte der Religionsgemeinschaften den Boden, die sich gegen eine Beschneidung aussprechen.
LTO: Die beste Lösung also immer noch gar kein Gesetz?
Keul: Es wäre wahrscheinlich für alle das Angenehmste gewesen.
LTO: Vielen Dank für das Gespräch!
Katja Keul ist Fachanwältin für Familienrecht und als Mitglied des Bundestags Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Das Gespräch führte Dr. Claudia Kornmeier.
Katja Keul, Alternativer Gesetzentwurf zur Beschneidung: "Die beste Lösung wäre gar kein Gesetz" . In: Legal Tribune Online, 24.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7632/ (abgerufen am: 01.12.2023 )
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