Gerichte verurteilen seltener nach Jugendstrafrecht: Strafen oder erziehen?

von Entela Hoti

21.01.2025

Über härtere Strafen für Jugendliche wird aufgeregt diskutiert - auch im Wahlkampf. Dabei bestrafen Gerichte Heranwachsende vermehrt wie Erwachsene. Neuere Zahlen zeigen Unterschiede in den Bundesländern. Bundesweit gibt es eine Tendenz.

Wenn Medien über aufsehenerregende Straftaten durch Kinder und Jugendliche berichten, folgen darauf schnell Forderungen nach einer schärferen Verurteilung. Eine Diskussion hatte etwa das Urteil nach einem Gruppenvergewaltigungsfall im Hamburger Stadtpark ausgelöst. Insbesondere bei Heranwachsenden solle statt Jugendstrafrecht nach dem strengeren Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, so die Forderungen. Dem Jugendstrafrecht haftet in der allgemeinen Diskussion oft die spöttische These als "Kuschelstrafrecht" an. 

Das Thema hat nun auch den Wahlkampf erreicht. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sagte kürzlich: "Also ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass wir über das Wahlrecht mit 16 sprechen die Strafmündigkeit aber für die Jugendlichen zwischen 18 und 21 liegt." Und dass zwischen 18 und 21 fast regelmäßig nach Jugendstrafrecht und nicht nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werde, so Merz. "Ich finde, das sollten wir ändern." 

Neuere Zahlen zeigen, bundesweit wird über die letzten Jahre seltener nach Jugendstrafrecht verurteilt, und häufiger entscheiden sich Gerichte, das strengere Erwachsenenstrafrecht anzuwenden.

Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht? 

Das Jugendstrafrecht knüpft an das Erwachsenenstrafrecht an, für Jugendliche unter 18 Jahren gelten die gleichen Straftatbestände und auch der gleiche Schuldvorwurf. Das Jugendstrafrecht sieht aber abgestufte Reaktionsmöglichkeiten beim Strafrahmen vor. Verhängt werden können Trainings, Täter-Opfer-Ausgleich, Reparaturleistungen wenn möglich, Arbeitseinsätze oder Jugendarrest. Damit verzichten die Gerichte auf die Anwendung des härteren Erwachsenenstrafrechts, da beim Jugendstrafrecht der Erziehungs- und Entwicklungsgedanke im Vordergrund steht. Ziel ist es, Jugendliche vor einer erneuten Straffälligkeit zu bewahren.

Nicht nur Kinder und Jugendliche werden nach Jugendstrafrecht bestraft. Seit 1953 werden auch Heranwachsende, also Personen, die bereits 18 aber noch unter 21 Jahre alt sind, in das Jugendstrafrecht einbezogen. Voraussetzung dafür ist nach § 105 Abs. 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG), dass der heranwachsende Täter bei Tatbegehung in seiner sittlichen und geistigen Entwicklung einem Jugendlichen gleichgestellt ist oder es sich um eine Jugendverfehlung handelt. Die Entscheidung, ob § 105 Abs. 1 JGG einschlägig ist, hat der Richter nach Würdigung der Persönlichkeit des Täters und der Art der Tat zu fällen.

So unterschiedlich urteilen die Gerichte über Heranwachsende 

Vor allem Hamburg setzt auf Erziehung statt Strafe: Im Jahr 2023 fand bei 541 heranwachenden Straftätern in 83 Prozent der Fälle das Jugendstrafrecht Anwendung, also bei 473 Personen. Das ergibt sich aus einer aktuellen Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU-Fraktion in der Hamburg Bürgerschaft. Nur 68 dieser Heranwachsenden, also 13 Prozent, wurden nach dem allgemeinen Strafrecht verurteilt. Dieses Verhältnis entspricht auch den Werten der Jahre 2021 und 2022. 

Die Lage fällt von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich aus. Denn ganz anders sieht die Situation in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt aus. Dort griffen die Gerichte am meisten zum härteren Erwachsenenstrafrecht. Die Quote bei der Anwendung von Jugendstrafrecht dort liegt laut Statistikern in den Ländern jeweils lediglich bei 41, 43 und knapp 45 Prozent. Im Jahr 2022 lag die Quote in Baden-Württemberg ebenfalls bei 45 Prozent.

Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen wurden 2022 insgesamt 7369 Heranwachsende verurteilt, davon 2462 nach allgemeinem Strafrecht und 4907 nach Jugendstrafrecht. Somit wurden rund 66,6 Prozent nach Jugendstrafrecht verurteilt. 

Ähnlich sah es 2022 in Bayern aus: Von 7.065 verurteilten Heranwachsenden fand in 4.775 Fällen, also ca. 67 Prozent, das JGG Anwendung.

Bundesweiter Rückgang der Verurteilungen nach Jugendstrafrecht 

Bundesweit ist in den letzten Jahren die Zahl der nach Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden (sog. "Einbeziehungsrate") statistisch gesunken. Lag die Einbeziehungsrate im Jahr 1955 noch bei gerade einmal 22 Prozent, stieg sie bis zum Jahr 2012 auf ganze 66,9 Prozent. Seitdem ist bundesweit allerdings ein allmählicher Rückgang der Einbeziehungsrate zu verzeichnen. Im Jahr 2015 lag sie etwa bei 62,3 Prozent. 

Nach Angaben der Strafverfolgungsstatistik wurden im Jahr 2019 in Deutschland ungefähr 49.800 Heranwachsende verurteilt. Davon fand bei etwa 31.800 das Jugendstrafrecht Anwendung, während bei etwa 19.000 das allgemeine Strafrecht angewendet wurde. Ein Jahr später sank die Zahl der insgesamt verurteilten Heranwachsenden auf ca. 45.500 Personen. Hiervon wurden fast 26.800 nach Jugendstrafrecht und 18.800 nach allgemeinem Strafrecht verurteilt. Im Jahr 2021 ging die Zahl der verurteilten Heranwachsenden sodann weiter runter und lag bei etwa 41.000. Bei gut 25.000 Heranwachsenden wurde das Jugendstrafrecht angewendet, während bei ungefähr 16.000 das allgemeine Strafrecht zum Zuge kam. Damit lag die Einbeziehungsrate laut Strafverfolgungsstatistik bei rund 61 Prozent. 

Für 2022 wurden bundesweit etwa 36.800 verurteilte Heranwachsende statistisch festgestellt. Etwa 22.200 Heranwachsende wurden nach dem JGG verurteilt, während ca. 14.600 nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurden. Die Einbeziehungsrate lag damit bei ungefähr 60 Prozent.

Gründe für den Rückgang 

Der eine Grund für den leichten Rückgang, der lässt sich so nicht ausmachen. Die Kriminologinnen Prof. Dr. iur. Dipl. Psych. Stefanie Kemme und Frau Louisa Domhöver vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster erkennen verschiedene politische, gesellschaftliche und rechtliche Faktoren. 

Zum einen ließen sich seit Jahren politische Tendenzen hinsichtlich der Forderung einer vollständigen Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Heranwachsende erkennen. Insbesondere die AfD und die CDU/CSU, so die Expertinnen, würden sich in ihrem Wahlprogramm für einen strengeren Umgang mit Jugendlichen und Heranwachsenden positionieren. Laut Domhöver könne es nicht ausgeschlossen werden, dass politische Tendenzen Einfluss auf die Gerichtspraxis haben könnten. Eine ältere Studie aus dem Jahr 2009 untersuchte den Einfluss der generellen Öffentlichkeit sowie der Medien auf die Entscheidung von Richtern und Staatsanwälten. Das Ergebnis: Immerhin 10 Prozent der befragten Richter gab an, bei Verfahren , die in den Medien besonders umstritten sind, "intensiv" an die Akzeptanz ihres Urteils in der Öffentlichkeit zu denken.

Darüber hinaus sei statistisch festgestellt worden, dass bei nichtdeutschen Heranwachsenden tendenziell häufiger Erwachsenenstrafrecht angewandt werde als bei deutschen Heranwachsenden. Wieso das so ist, ist allerdings nicht vollständig geklärt. Gerichte könnten aber, so Frau Domhöver, dazu geneigt sein, nichtdeutsche Heranwachsende für Sanktionen aus dem JGG, wie etwa den Täter-Opfer-Ausgleich, aufgrund von sprachlichen Barrieren weniger geeignet zu sehen.

Bei den Zahlen der vergangenen Jahre könnte nach Auffassung der Kriminologinnen auch die Corona-Pandemie eine Rolle gespielt haben. Denn in dieser Zeit hatten Gerichte verstärkt auf das Instrument des Strafbefehls gesetzt. Der Strafbefehl ist – anders als im allgemeinen Strafrecht – nicht im Jugendstrafrecht zulässig. Um eine drohende Ansteckungsgefahr im Rahmen von Hauptverhandlungen zu verhindern, erwog die Justiz daher die Anwendung von Strafbefehlen – und damit einhergehend die Anwendung von allgemeinem Strafrecht. Vor allem im Bereich der Verkehrskriminalität würden sich seit Jahren hohe Anwendungsquoten zugunsten des allgemeinen Strafrechts verzeichnen, um zur Anwendbarkeit eines Strafbefehls zu gelangen. Dies habe vor allem prozessökonomische Gründe.

Dies lässt auch eine weitere Tendenz erkennen: Die Anwendung von Jugendstrafrecht nimmt tendenziell mit der Schwere der Straftat zu. Je schwerer ein Delikt ist, desto eher wird der Heranwachsende nach Jugendstrafrecht bestraft. Bei besonders schweren Delikten sind Heranwachsende fast ausnahmslos in das Jugendstrafrecht einbezogen. So liegen die Einbeziehungsraten bei Straftaten wie vorsätzlichen Tötungsdelikten, Raub und Erpressung bei etwa 90 Prozent. Bei "leichteren" Delikten wie der einfachen Körperverletzung oder einem einfachen Diebstahl ist die Einbeziehungsrate dahingegen weitaus geringer. Bei Straßenverkehrsdelikten und Verstößen gegen das Ausländergesetz, Asylverfahrensgesetz bzw. Aufenthaltsgesetz werden Heranwachsende in der Regel nach dem allgemeinen Strafrecht verurteilt. Zur Begründung führt die Kriminologin Domhöver an, dass bei schweren Delikten die hohen Mindeststrafrahmen des StGB umgangen werden sollen. Das Jugendstrafrecht würde die Möglichkeit bietet, durch seine flexiblen Rechtsfolgen individueller auf die Bedürfnisse des jungen Straftäters einzugehen.

Was bringt der Einsatz von Strafrecht bei jungen Menschen?

Die Frage der strafrechtlichen Behandlung von Heranwachsenden ist kriminalpolitisch stark umstritten. Kritische Stimmen, wie etwa die CDU/CSU und die AfD in ihren Wahlprogrammen für die Bundestagswahlen 2025, machen sich für eine generelle Einbeziehung der Heranwachsenden in das allgemeine Strafrecht laut. Die Kleine Anfrage der CDU in Hamburg erfolgte nicht zuletzt als Reaktion auf den Prozess um die Gruppenvergewaltigung einer 15-Jährigen im Hamburger Stadtpark, in welchem neun Angeklagte wegen Vergewaltigung zu Jugendstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren und neun Monaten verurteilt wurden."Es ist kaum anzunehmen, dass fast 90 Prozent der hier lebenden 18 - 21-Jährigen tatsächlich geistig zurückgeblieben sind", so der Hamburger CDU-Fraktionschef Dennis Thering. Es sei daher eine Anpassung des JGG auf Bundesebene dringend erforderlich. "Wir fordern, dass Volljährige, die auch zivilrechtlich uneingeschränkt am Rechtsleben teilnehmen, ausnahmslos dem allgemeinen Strafrecht unterliegen sollten." 

Diese Forderung wird nun auch von der neusten Polizeilichen Kriminalstatistik untermauert: Im Jahr 2023 erfasste die Polizei 7,3 Prozent mehr Tatverdächtige als zum Vorjahr. Deutliche Steigerungen von bis zu 12 Prozent seien dabei bei Kindern und Jugendlichen erfasst worden.

Nichtsdestotrotz sind viele Stimmen vorhanden, die sich gegen eine generelle Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Heranwachsende aussprechen. Entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Befunde hätten festgestellt, dass Heranwachsende nicht Erwachsenen gleichgestellt werden könnten. Die besondere Entwicklungsphase, in der sich Heranwachsende befinden, spreche vielmehr dafür, sie entweder generell nach Jugendstrafrecht zu behandeln oder die Altersgrenze nach oben hin anzuheben, um der verlängerten Entwicklungsphase hin zum erwachsenen Menschen besser Rechnung zu tragen. Der mit einer Verschärfung der strafrechtlichen Behandlung erhoffte Abschreckungseffekt lasse sich kaum beweisen.  

Schärfere Strafen Thema im Wahlkampf

Mit seiner Forderung nach einer härteren Bestrafung Jugendlicher und Heranwachsender stößt CDU-Chef Merz jedenfalls auf Gegenwind. Laut SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese habe das geltende Jugendstrafrecht "im Fokus, dass das Kind – im wahrsten Sinne des Wortes – noch nicht in den Brunnen gefallen ist, sondern dass man junge Menschen wieder in die Spur bekommt." Es wäre wichtiger, "dass in den Bundesländern ausreichend Personal in der Justiz, in der Jugendhilfe und Präventionsprojekten zur Verfügung steht, damit Jugendliche erst gar nicht auf die schiefe Bahn geraten." 

Auch die FDP-Bundestagsfraktion ist überzeugt, dass dem Jugendstrafrecht die Überzeugung zugrunde liege, dass erzieherische Maßnahmen erfolgreicher seien als bloße Schuldvergeltung. "Davon abweichen zu wollen, wäre daher sogar kontraproduktiv."

Wie man es auch auffasst, eines ist deutlich: Die langsam rückläufige Bestrafung Heranwachsender nach dem Jugendstrafrecht und überhaupt die Auswirkungen von Strafrecht auf jungen Menschen stellt ein sensibles, anspruchsvolles Thema dar, das viel genauer untersucht werden müsste.

Zitiervorschlag

Gerichte verurteilen seltener nach Jugendstrafrecht: . In: Legal Tribune Online, 21.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56064 (abgerufen am: 12.02.2025 )

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