Die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete – auch des Gaza-Streifens – ist rechtswidrig. Was diese weitreichende Feststellung bedeutet und wieso dennoch ein Fenster für eine Verhandlungslösung offenbleibt, erklärt Claus Kreß.
Die militärische Präsenz Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten (Ost-Jerusalem, Westjordanland und Gaza-Streifen) ist völkerrechtswidrig, und Israel muss diese Präsenz so schnell wie möglich beenden – so lauten die zwei zentralen Feststellungen in dem Rechtsgutachten zum Nahostkonflikt, das der Internationale Gerichtshof (IGH) am 19. Juli 2024 vorgelegt hat. Eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) aus Dezember 2022 hatte das Verfahren angestoßen. Bereits in einer der ersten Einschätzungen hat Marko Milanovic das Gutachten "eine der bedeutsamsten Entscheidungen" des Gerichtshofs genannt.
Im Vorfeld der beiden zentralen Rechtsaussagen ist eine Vielzahl von Fragen angesiedelt, die das Völkerrecht der militärischen Besetzung betreffen. Der IGH legt Israel zur Last, dieses durch sein Verhalten in den seit 1967 militärisch besetzten palästinensischen Gebieten systematisch verletzt zu haben. Im Zentrum steht Israels langjährige und zuletzt nochmals forcierte Siedlungspolitik nebst ihren Begleiterscheinungen von Enteignungen und Vertreibungen von Palästinensern, von Ausbeutung natürlicher Ressourcen auf Kosten der Palästinenser sowie von geduldeter Siedlergewalt.
In der Gesamtschau wertet der Gerichtshof Israels Verhalten dahin, neben dem bereits vor geraumer Zeit förmlich einverleibten Ost-Jerusalem auch das Westjordanland über eine bloß zeitweise militärische Besetzung hinaus dauerhaft unter seine Kontrolle bringen zu wollen. Damit verstoße Israel auch gegen das Verbot der gewaltsamen Aneignung fremden Gebiets. Zugleich verletze Israel das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes.
Apartheid nicht ausdrücklich festgestellt
Mit seinen weitreichenden Feststellungen ist der IGH den Hoffnungen derjenigen Staaten sehr nah gekommen, die die Gutachtenbitte an ihn gerichtet haben. Das Gericht hat nur drei weitergehende Feststellungen nicht getroffen, die sie sich womöglich noch gewünscht hätten: Israel wird nicht zu einer "sofortigen und bedingungslosen" Beendigung seiner militärischen Präsenz in den Palästinensergebieten aufgerufen, sondern eben nur zu einer solchen "so schnell wie möglich".
Zweitens wird Israels Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung zwar als menschenrechtswidrig verurteilt, nicht aber ausdrücklich als Apartheid eingestuft. Insoweit ist das Gutachten mit seiner unspezifischen Feststellung, Israels Verhalten verletze Art. 3 des Übereinkommens gegen rassistische Diskriminierung, "konstruktiv uneindeutig" gefasst. Dies zeigen die unterschiedlichen Lesarten des japanischen Richters Iwasawa einerseits und des südafrikanischen Richters Tladi andererseits in ihren jeweiligen individuellen Voten. Der deutsche Richter Nolte widerspricht bereits der Feststellung einer Verletzung von Art. 3 des Übereinkommens.
Drittens und gewiss nicht zuletzt bleibt die Frage der Staatlichkeit Palästinas im Sinn des Völkerrechts offen, was den mexikanischen Richter Gómez Robledo dazu veranlasst hat, in seinem individuellen Votum eingehend für eine solche Staatlichkeit zu plädieren.
Verstörendes Gesamtbild israelischer Völkerrechtsferne
Die Feststellung, dass Israel das Völkerrecht der militärischen Besetzung sowie das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes über einen inzwischen langen Zeitraum hinweg systematisch verletzt hat, überrascht nicht: Die Weichen hierfür hatte der IGH bereits in seinem Rechtsgutachten aus dem Jahr 2004 gestellt, in dem er Israels Bau einer Grenzmauer in den palästinensischen Gebieten als völkerrechtswidrig einstufte.
Das neue Gutachten liest sich im Kern wie das frühere, nur in einem deutlich vergrößerten Maßstab, weil die israelischen Praktiken auf Grund der weiter gehenden Fragestellung nun umfassend in den Blick zu nehmen waren. Insoweit vermitteln die zahlreichen, im Rahmen der Vereinten Nationen entstandenen Berichte, die der IGH zu Rate gezogen hat, ein verstörendes Gesamtbild israelischer Völkerrechtsferne. Dabei macht es die Dinge nur schlimmer, dass Israels Regierungen das Rechtsgutachten von 2004 ignoriert haben, und dass die amtierende Regierung Netanjahu den völkerrechtswidrigen Kurs des Landes nochmals zugespitzt hat.
Hiernach ist es folgerichtig, dass das Gericht den 2004 nur als möglich angedeuteten Schritt nun vollzogen und Israels Politik in Ost-Jerusalem und im Westjordanland als gewaltsame Aneignung fremden Gebiets eingestuft hat. Bis zu diesem Punkt steht die Entscheidung des Gerichtshofs auf festem völkerrechtlichem Grund, und sie wird mit Ausnahme der ugandischen Vizepräsidentin Sebutinde von allen Richtern getragen.
Grenzen der Beinahe-Einmütigkeit des Gerichts
Deutlich komplizierter liegen die Dinge bei dem Paukenschlag des Gutachtens, nämlich der Feststellung, dass Israels militärische Präsenz in den Palästinensergebieten insgesamt rechtswidrig geworden sei. Hier endet auch die Beinahe-Einmütigkeit des Gerichts: Zusätzlich zu der Vizepräsidentin versagen der slowakische Richter Tomka, der französische Richter Abraham und der rumänische Richter Aurescu dem Gutachten die Gefolgschaft.
Im Ausgangspunkt zutreffend stellt der Gerichtshof fest, dass die Rechtmäßigkeit von Israels Militärpräsenz als solcher nicht nach dem Völkerrecht der militärischen Besetzung zu beurteilen ist. Denn dieses setzt eine Besetzung voraus und statuiert unabhängig von deren Rechtmäßigkeit Verhaltenspflichten der Besatzungsmacht zum Schutz des besetzten Staates und seiner Bevölkerung.
Zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit ist vielmehr das völkerrechtliche Gewaltverbot einschlägig: Zum einen handelt es sich bei einer militärischen Besetzung – so das Gutachten richtig – um Anwendung von Gewalt. Darüber hinaus – und das hätte das Gutachten deutlicher machen sollen – übt Israel solche (Besatzungs-)Gewalt deshalb "in seinen internationalen Beziehungen" aus, weil diese sich auf ein Gebiet bezieht, das der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volks gewidmet ist.
"Anhaltender Missbrauch der Stellung als Besatzungsmacht"
Deshalb bedarf die Militärpräsenz Israels in den besetzten Gebieten einer spezifischen völkerrechtlichen Rechtfertigung, die sich nach Lage der Dinge nur aus dem Selbstverteidigungsrecht ergeben konnte. Nun wollte der IGH eine Festlegung zu der schwierigen Frage, ob Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967, aus dem die militärische Besetzung hervorgegangen ist, rechtmäßig von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch gemacht hat, verständlicherweise vermeiden. Zudem zielte die Frage der Generalversammlung erkennbar nicht hierauf.
Deshalb kam es darauf an, ob die Militärpräsenz gegenwärtig noch als Ausübung eines seit 1967 bestehenden oder zwischenzeitlich entstandenen Selbstverteidigungsrechts gerechtfertigt ist. Damit waren komplizierte Fragen der Erforderlichkeit bzw. Verhältnismäßigkeit von erlaubter Selbstverteidigung in zeitlicher Hinsicht aufgerufen.
Im Gutachten heißt es hierzu aber lediglich, Israels anhaltender Missbrauch seiner Stellung als Besatzungsmacht, sein gewaltsamer Gebietserwerb und seine fortgesetzte Vereitelung der Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes hätten Israels Militärpräsenz rechtswidrig werden lassen.
Selbstverteidigung über 57 Jahre?
Bei näherer Betrachtung der individuellen Richtervoten ergeben sich zwei Begründungslinien, die über die eher kryptische Passage im Gutachten hinausgehen, so etwa bei Richter Nolte und der US-amerikanischen Richterin Cleveland: Beide weisen darauf hin, dass Israel durch seinen gewaltsamen Gebietserwerb die Grenzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit bei der Ausübung eines etwaigen Selbstverteidigungsrechts überschritten hätte. Deshalb fehle es seither an "jeder möglichen Rechtfertigung" für Israels Militärpräsenz.
Richter Tomka, Abraham und Aurescu ziehen diesen Schluss in ihrem gemeinsamen Votum nicht. Sie weisen stattdessen darauf hin, dass es in Anbetracht der "außergewöhnlich komplexen Geschichte und Natur des israelisch-palästinensischen Konflikts" selbst 57 Jahre nach der Begründung der Besetzung denkbar sei, dass die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung einer israelischen Militärpräsenz andauere.
Dem treten der somalische Richter Yusuf und die australische Richterin Charlesworth entgegen. Für Letztere ist entscheidend, dass die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht und insbesondere auf die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der militärischen Besetzung des gesamten der Selbstbestimmung eines Volkes dienenden Gebiets immer weniger plausibel werde, je länger der bewaffnete Angriff zurückliege, der Anlass zur Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gegeben hat. Diese Argumentation hat erhebliches Gewicht. Doch auch hier bleibt das Unbehagen, dass die "außergewöhnlich komplexe(.) Geschichte und Natur des israelisch-palästinensischen Konflikts" seit 1967 nicht genau in den Blick genommen werden.
Ob sich an diesem besonders heiklen Punkt im Gutachten Zurückhaltung empfohlen hätte, ist im Hinblick auf Ost-Jerusalem und das Westjordanland eine höchst schwierig zu beantwortende Frage. Doch jedenfalls im Hinblick auf den Gaza-Streifen hätte der Gerichtshof, wie Richterin Cleveland in ihrem individuellen Votum überzeugend deutlich macht, darauf verzichten sollen, Israels Militärpräsenz für rechtswidrig zu erklären. Denn aus diesem Gebiet hatte Israel seine Truppen 2005 vollständig zurückgezogen. Zum laufenden israelischen Gewalteinsatz dort in Reaktion auf den am 7. Oktober 2023 begonnenen Angriff der Hamas hat der IGH seinem ausdrücklichen Bekenntnis nach – und zu Recht – in seinem aktuellen Gutachten nicht Stellung nehmen wollen.
Ist Gaza immer noch besetzt?
Was den Status des Gaza-Streifens zwischen 2005 und dem 7. Oktober 2023 anbetrifft, so erkennt der Gerichtshof an, dass eine Besatzungsmacht auch nach der Beendigung ihrer physischen Präsenz auf dem betreffenden Gebiet – so wie Israel im Gaza-Streifen – in der Lage bleibe, bestimmte Schlüsselelemente tatsächlicher Herrschaft auszuüben. Dann soll der betreffende Staat an besatzungsrechtliche Pflichten gebunden bleiben, dies aber nur insoweit, wie diese der verbliebenen Fähigkeit zur Herrschaftsausübung angemessen sind.
Damit hat der Gerichtshof, so wie es Richter Iwasawa in seinem individuellen Votum auf den Punkt bringt, eine Festlegung in der hoch umstrittenen Frage vermieden, ob der Besatzungszustand als solcher zwischen 2005 und dem 7. Oktober 2023 fortbestand.
IGH hält Fenster für Verhandlungslösung offen
Dass der IGH Israel nicht "sofort und bedingungslos", sondern "so schnell wie möglich" zur Beendigung seiner militärischen Präsenz auffordert, mag den Eindruck fehlenden Muts zur eigenen Courage erwecken. Doch hält er so ein Fenster für eine Verhandlungslösung offen, die auch Israels Sicherheitsinteressen berücksichtigt.
Wie groß dieses Fenster nach dem Gutachten bleibt, ist allerdings unklar, zumal das Gericht davon abgesehen hat, Israel und Palästina zur Wiederaufnahme von Verhandlungen aufzufordern. Stattdessen sieht der Gerichtshof die Generalversammlung und den Sicherheitsrat in der Verantwortung, sich mit den "präzisen Modalitäten" der Beendigung von Israels Militärpräsenz zu beschäftigen, so wie er die Vereinten Nationen im Ganzen dringend gefordert sieht, ihre Bemühungen "zu verdoppeln", den Nahostkonflikt zu lösen. Das höchste Weltgericht empfiehlt der internationalen Politik also, den Akzent von der bislang im Vordergrund stehenden Suche nach einer politischen Lösung im Rahmen des Rechts zu einem verstärkten Einsatz der Politik für die Durchsetzung des Rechts zu verschieben.
Nicht nur israelische Praktiken berücksichtigen
Mit Blick auf den Grad der gegenwärtigen Weltunordnung kann einen bei der Lektüre des Gutachtens der Eindruck beschleichen, inmitten von Waffengetöse halte der IGH tapfer die Fahne des Rechts hoch. Besonders bemerkenswert ist, dass das Gericht diese nicht primär mit technischem und im Wesentlichen zwischenstaatlichen Völkerrecht, sondern mit solchem zu beschreiben hatte, das verdient, Recht der internationalen Gemeinschaft genannt zu werden. Das kommt exemplarisch darin zum Ausdruck, dass der IGH das Selbstbestimmungsrecht der Völker in diesem Gutachten erstmals, wenn auch beschränkt auf einen Fall wie den vorliegenden, zu jus cogens, also zu zwingendem Völkerrecht erklärt.
Die Fragen der Generalversammlung zielten allerdings bedauerlich einseitig auf anstößige israelische Praktiken, ganz so als habe es Kritikwürdiges auf der Seite der Palästinenser seit 1967 nicht gegeben. Israel hätte sich dessen ungeachtet besser am Verfahren beteiligt, insbesondere, um solche Tatsachen vorzutragen, die aus seiner Sicht relevant waren. Doch unabhängig davon wäre es dem Gericht an verschiedenen Stellen seines Gutachtens möglich gewesen, Praktiken auf palästinensischer Seite stärker in den Blick zu nehmen, auf die Israel bei der Formulierung der Sorge um die eigene Sicherheit bei zahlreichen Gelegenheiten in öffentlich zugänglichen Quellen Bezug genommen hat. Gerade weil das Völkerrecht in diesem Verfahren als ein solches der internationalen Gemeinschaft zur Debatte stand, wäre dies sehr zu wünschen gewesen.
Claus Kreß ist Professor für Straf- und Völkerrecht. Er hat den Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht an der Universität zu Köln inne und leitet dort das Institut für Friedenssicherungsrecht. Zudem ist er seit 2019 Richter ad hoc am IGH in dem Verfahren Gambia gegen Myanmar.
IGH-Gutachten zu Israels Besetzung palästinensischer Gebiete: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55067 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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