Die neue israelische Regierung forciert einen weitgehenden Umbau der Judikative, mit dem man das System von Checks and Balances aus den Angeln heben will. Elmar Esser sieht Israel in der schwersten Krise seit der Gründung vor 75 Jahren.
Der 24. Juli 2023 markiert eine Zäsur in der Geschichte der einzigen Demokratie im Nahen Osten. Gegen alle Warnungen und Proteste beschließt die Knesset, das israelische Parlament, mit den Stimmen der rechtsgerichteten Koalition von Benjamin Netanjahu eines ihrer zentralen Vorhaben. Das Gesetz untersagt dem Supreme Court, die Angemessenheit von Entscheidungen der Regierung anhand des sogenannten Reasonableness-Grundsatzes zu überprüfen (von "reasonable", zu Deutsch: "vernünftig" / "angemessen").
In seiner Sonderfunktion als High Court of Justice (hebräisch: Bagatz, eine Art Verfassungsgericht) hatte der Supreme Court diesen selbst entwickelten Standard zur Überprüfung von Entscheidungen der Regierung auf ihre Angemessenheit erstmals vor über 30 Jahren angewandt.
Insbesondere Vertreter der derzeitigen Koalitionsparteien werfen dem Supreme Court bereits seit längerem vor, mit dieser Rechtsprechung den Handlungsspielraum einer gewählten Regierung übermäßig einzuschränken. Die Kritik richtete sich besonders gegen Verfahren vor dem Supreme Court, in denen es um die Ernennung und Entlassung von Ministern durch den Premierminister ging. Der Supreme Court wurde als aktivistisch gebrandmarkt.
Der Supreme Court hat sich in der Vergangenheit mit derartigen Anträgen, die von jedermann – von einzelnen Bürgern bis zu Organisationen - gestellt werden können, befasst. Allerdings hat er bei der Überprüfung von Regierungshandeln stets sehr große Zurückhaltung an den Tag gelegt und in aller Regel die Entscheidungen der Regierung nach einer inhaltlichen Prüfung bestätigt. Gleichwohl wird er dafür seit längerem kritisiert und als das Organ hingestellt, das letztlich endgültig Regierungshandeln prüft und billigt oder für unzulässig erklärt.
Dies ist so aber nicht richtig.
Umstrittene Entscheidung bei Ministerernennung
Vielmehr hat der Supreme Court nur in sehr wenigen Fällen eingegriffen. Und wenn, dann in wirklich eklatanten Fällen. So zuletzt im Januar dieses Jahres mit einer Entscheidung, die Arie Deri betraf, den Vorsitzenden der religiösen Shas-Partei Koalitionspartner und seinerzeit frisch ernannten Minister im Kabinett von Premier Netanjahu.
Deri hatte in der Vergangenheit mehrfach Ministerämter in Regierungen von Netanjahu inne. 1999 wurde er zu drei Jahren Haft wegen Korruption in seiner Zeit als Minister verurteilt. 2021 wurde erneut strafrechtlich gegen ihn ermittelt, diesmal wegen Steuerhinterziehung. In einem Deal mit Gericht und Staatsanwaltschaft sagte Deri zu, über mehrere Jahre auf die Übernahme höherer politischer Ämter zu verzichten.
Weil die neue Koalition um die Problematik bei Deri wusste, beschloss die Knesset - noch bevor die Regierung offiziell im Amt war - ein Gesetz, das es Deri ermöglichen sollte, zum Minister ernannt zu werden, was dann auch geschah. Gegen diese Ernennung klagte eine NGO vor dem Supreme Court. Dieser urteilte unter Berufung auf den Angemessenheitsgrundsatz Mitte Januar 2023, dass Deri kein Ministeramt übernehmen und das Gesetz nicht angewendet werden dürfe. Der Supreme Court gab Premier Netanjahu auf, Deri als Minister zu entlassen. Dieser Aufforderung kam Netanjahu nach.
Keine völlige Entmachtung des Gerichts
Mit der Abschaffung der Reasonableness-Überprüfung wird die Kompetenz des Supreme Court als Verfassungsgericht erheblich beschnitten. Dies ist erklärtes Ziel der Koalition. Es dürfte daher nicht überraschen, wenn Deri in Kürze erneut Minister wird.
Gleichwohl wird der Supreme Court nicht völlig entmachtet. Vielmehr gibt es ernstzunehmende Stimmen, die davon ausgehen, dass das Gericht nach wie vor aus anderen Gründen eine Entscheidung der Regierung aufheben kann, etwa wegen Rechtswidrigkeit, wegen eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Grundsätze oder gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Verwaltung.
Verschiedene NGOs und die Opposition haben bereits angekündigt, gegen das Gesetz vor dem Supreme Court zu klagen. Die Krise dürfte sich noch weiter verschärfen, wenn der Supreme Court das Gesetz für unanwendbar erklärt, z.B. weil es als verfassungswidrig erachtet wird. Denn dann stellte sich die Frage, ob die Regierung eine solche Entscheidung akzeptiert.
Entmachtung der Generalstaatsanwältin?
Fraglich ist zudem, welche Entscheidungen die Regierung Netanjahu, nachdem aus ihrer Sicht ein mächtiger Gegenspieler in einem Feld ausgeschaltet worden ist, als nächstes treffen wird. Spekuliert wird u.a., dass man die Entlassung von Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara anstrebt. Aus der Koalition war diese Forderung bereits mehrfach zu vernehmen. Der Generalstaatsanwältin kommt in Israel die machtvolle Funktion der unabhängigen Rechtsberaterin der Regierung zu, deren Veto eine Entscheidung blockieren kann. Auch dies ist naturgemäß einer Regierung, die durchregieren will, ein Dorn im Auge.
Beschnitten werden sollen auch die Kompetenzen der unabhängigen Rechtsberater der einzelnen Ministerien, die nur der Generalstaatsanwältin verantwortlich sind, indem ihre Entscheidungen nur noch Empfehlungscharakter haben sollen.
In den vergangenen Monaten hat die Koalition eine wahre Flut von Gesetzesinitiativen in Gang gesetzt (aktuell etwa 180 an der Zahl), mit denen der Einfluss der Judikative zurückgedrängt werden soll.
Reservisten könnten zum Gamechanger werden
Ganz offensichtlich nicht ins Kalkül gezogen aber haben die Koalitionäre die breite Welle von Protesten, die seit Mitte Januar anhalten. Diese gehen quer durch alle Schichten der Gesellschaft. Viele sehen ihre persönlichen Lebensentwürfe ernsthaft bedroht. Nicht nur die Menschen im liberalen und weltoffenen Tel Aviv gehen auf die Straße. Landesweit ist der Samstagabend nach Ende des Shabbat der Tag, an dem demonstriert wird.
Die Ankündigung vieler Reservisten, bei Verabschiedung des Gesetzes nicht mehr zum Dienst anzutreten, könnte sich nun aber als Gamechanger erweisen. Denn große Teile der Streitkräfte, besonders aber die Luftwaffe, sind auf Reservisten zwingend angewiesen, die oftmals einen Tag der Woche zum Dienst antreten. Die Verteidigungsfähigkeit des Landes hängt maßgeblich hiervon ab.
Bisher zeigt sich die Koalition hiervon zumindest nach außen unbeeindruckt. Man muss daher davon ausgehen, dass kein Teil der Judikative von diesen grundlegenden Umwälzungen verschont bleiben wird. Diese Angriffe auf Richter- und Anwaltschaft sind offensichtlich von langer Hand geplant und gut vorbereitet.
Richterwahlverfahren und Abschaffung der unabhängigen Anwaltskammer
Die Koalition verfolgt weiterhin ihren Plan, durch eine Änderung der Zusammensetzung des Richterwahlausschusses die Kontrolle über die Besetzung aller Richterstellen zu erlangen. Dies betrifft insbesondere die Nachfolge der im Herbst in den Ruhestand tretenden Präsidentin des Supreme Courts, Esther Hayut, und die Besetzung einer weiteren Stelle an diesem Gericht. Mit einem Anfang Juli vorgelegten Gesetzentwurf will man zudem die Israel Bar Association, die unabhängige oberste Standesvertretung aller israelischen Anwälte, unter die Kontrolle des Justizministers bringen.
Die Bilder von der Demonstration von Unterstützern der Pläne der Regierung von Ende April, bei der Demonstranten über auf dem Boden ausgebreitete Portraits der amtierenden Präsidentin des Supreme Court Esther Hayuth und des früheren Präsidenten Aharon Barak liefen, waren zutiefst verstörend.
Parallelen zu anderen Ländern drängen sich auf. Sie sind nicht zufällig. Der Rechtsstaat in Israel befindet sich in einer Krise ungeahnten Ausmaßes.
Der Autor Rechtsanwalt Elmar Esser (Berlin) ist 1. Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung e.V. (DIJV). Im Oktober wird in Israel die 27. Jahrestagung der Vereinigung stattfinden.
Gesetzesvorhaben der Regierung Netanjahus: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52348 (abgerufen am: 03.10.2024 )
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