Während Detlef S. wegen jahrzehntelangen Missbrauchs der eigenen Kinder vor Gericht steht, stellt sich die Frage, wie viel die Behörden vom Treiben des 48-Jährigen wussten. Ein LTO-Interview mit Dr. Annika Dießner über die schwierige Frage der Mitverantwortung von Jugendämtern in solchen Fällen und das Dilemma, in dem die Mitarbeiter bei der Pflichterfüllung regelmäßig stecken.
LTO: Vor Beginn des Verfahrens mehren sich die Vorwürfe gegenüber dem zuständigen Jugendamt. Dort sollen im Laufe der Jahre mehrere Hinweise auf sexuellen Missbrauch und Misshandlungen eingegangen sein. Offenbar seien auch Mitarbeiter vor Ort gewesen, allerdings hätten nach deren Aussagen die Kinder keinen vernachlässigten oder misshandelten Eindruck gemacht. Könnte es sein, dass diesen Mitarbeitern nun selbst strafrechtliche Konsequenzen drohen? Welche Straftaten kommen insoweit in Betracht?
Dießner: Ein eigener Tatbestand, der etwaige Versäumnisse von Sozialarbeitern im Kontext von Kindeswohlgefährdungen unter Strafe stellt, existiert im deutschen Strafgesetzbuch nicht. Nach dem, was man den Meldungen über den Fall entnehmen konnte, kommt auf den ersten Blick eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern (§§ 176, 27 Strafgesetzbuch (StGB)) bzw. zur Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger in Betracht (§§ 180, 27 StGB).
Beide Taten setzen jedoch voraus, dass der Jugendamtsmitarbeiter mit einem so genannten Gehilfenvorsatz agiert hat. Bedingter Vorsatz genügt, ist aber auch mindestens erforderlich. Das heißt, der Mitarbeiter müsste die Taten des Vaters gekannt und gebilligt haben und sich darüber hinaus bewusst gewesen sein, dass er durch sein Untätigbleiben dessen Taten fördert. Das ist wohl nicht anzunehmen.
Auch eine unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) oder eine Verletzung der Fürsorgepflicht (§ 171 StGB) dürften an dem nötigen Wissen um einen Unglücksfall scheitern, erst recht eine Strafvereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB), die sogar absichtliches beziehungsweise wissentliches Verhalten voraussetzt.
LTO: Wie sieht es mit Fahrlässigkeitsdelikten aus?
Dießner: Zwar sind in der Vergangenheit vereinzelt bereits Jugendamtsmitarbeiter wegen fahrlässigen unechten Unterlassens strafrechtlich verfolgt und sogar verurteilt worden. Etwa, weil vom Jugendamt betreute Eltern ihre Kinder verhungern ließen oder sogar aktiv töteten und die Gerichte der Ansicht waren, dass die Jugendamtsmitarbeiter als Garanten für das Kindeswohl dies durch geeignete Maßnahmen hätten verhindern müssen.
Im Fall vom Westerwald steht jedoch keine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) in Rede. Bei den vorliegenden Sexualstraftaten ist ein fahrlässiges Verhalten gerade nicht strafbewehrt. Denkbar wäre es allerdings, das Untätigbleiben bezüglich des Missbrauchs der Kinder als fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 229, 13 StGB) einzustufen. In diese Richtung gingen meines Wissens in der Vergangenheit zum Beispiel die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Saarbrücken in einem Verfahren, das im Zusammenhang mit dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Fall "Pascal" stand.
"Vier Augen sehen mehr als zwei"
LTO: Reicht es denn für eine eventuelle Strafbarkeit allein aus, dass die Betreffenden nichts unternommen haben?
Dießner: Es geht nicht nur um das Unterlassen als solches. In anderen Fällen von Kindesmisshandlung wurde den Mitarbeitern der Jugendämter zur Last gelegt, dass sie trotz ihrer beruflich bedingten Garantenstellung untätig geblieben waren, obwohl sie das Kind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor Schädigungen durch die Eltern hätten retten können. Außerdem wurde ihnen hinsichtlich der Beurteilung der Gefahrensituation Fahrlässigkeit vorgeworfen. Die Gerichte waren der Auffassung, dass sich ein gewissenhafter Jugendamtsmitarbeiter in der konkreten Lage der Beschuldigten dafür entschieden hätte - beziehungsweise hätte entscheiden müssen -, das Kind aus der Familie herauszunehmen.
LTO: Wie weit müssen denn Jugendamtsmitarbeiter konkret mit ihren Maßnahmen gehen, wenn Vorwürfe wie die beschriebenen im Raum stehen, und sie nicht Gefahr laufen wollen, sich strafbar zu machen?
Dießner: Der Gesetzgeber hat im Jahr 2005 den § 8a Sozialgesetzbuch (SGB) VIII eingeführt, der den Schutzauftrag der Jugendämter im Falle von Kindeswohlgefährdungen explizit regelt und hierfür klarstellende Handlungsmaßgaben enthält. Die Norm statuiert einerseits den Grundsatz der Kollegialentscheidung. Das bedeutet, wenn ein Jugendamtsmitarbeiter bei einer der von ihm betreuten Familien gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen sieht, muss er die Gefährdungssituation zusammen mit seinen Kollegen abschätzen. Plakativ gesagt: "Vier beziehungsweise acht Augen sehen mehr als zwei."
Weiter stellt die Regelung klar, dass ein Jugendamtsmitarbeiter nicht erst dann das Familiengericht einschalten soll, wenn er den Fall "durchermittelt" hat. Vielmehr muss er bei einer dringenden Gefahr das Kind oder den Jugendlichen einstweilen in Obhut – das heißt aus der Familie - nehmen und familiengerichtliche Maßnahmen anregen.
Damit befindet sich der Jugendamtsmitarbeiter allerdings in dem Dilemma, das bisweilen mit den Schlagworten "zu früh, zu spät, zu viel oder zu wenig" beschrieben wird: Reagiert er zu früh oder übertrieben, läuft er Gefahr, dass ihm die Eltern den Zugang zur Familie verweigern und "mauern". Zudem können Kinder durch eine sich im Nachhinein als ungerechtfertigt herausstellende Trennung von den Eltern massiv und unter Umständen irreparabel in ihrer Psyche geschädigt werden.
"Jugendamtsmitarbeiter brauchen einen Beurteilungsspielraum, den die Strafverfolgungsorgane respektieren"
LTO: Sie haben gerade schon die Eltern erwähnt, die den Mitarbeitern vom Jugendamt den Zugang zur Familie verweigern können. Inwieweit können deren Pflichten mit elterlichen Rechten kollidieren?
Dießner: Freilich stehen der in Art. 6 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz (GG) geregelte staatliche Schutzauftrag und das in Art. 6 Abs. 1 GG normierte Erziehungsrecht der Eltern nicht in einem unvereinbaren Gegensatz. Wenn die Eltern das Wohl des Kindes gefährden, können sie sich nicht auf den Schutz des aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG resultierenden Grundrechts auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder berufen. Dann ist der Staat, das heißt der zuständige Jugendamtsmitarbeiter zum Handeln verpflichtet.
Das Problem ist nur: Wann ist überhaupt von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen und in welchen Fällen liegt eine dringende Gefahr vor, die ein sofortiges Einschreiten gebietet? Weil es sich um eine prognostische Entscheidung handelt, die eine große Erfahrung und ein hohes Maß an Menschenkenntnis erfordert, muss dem Jugendamtsmitarbeiter meines Erachtens hier ein Beurteilungsspielraum zugebilligt werden, der von den Strafverfolgungsorganen zu respektieren ist. Nur wenn die Entscheidung unter keinen Umständen als vertretbar erscheint, sollte der Vorwurf fahrlässigen Verhaltens erhoben werden können.
LTO: Sind sich Ihrer Erfahrung nach die Jugendämter beziehungsweise ihre Mitarbeiter des Haftungsrisikos bewusst? Kennen Sie die Rechtspflichten, nach denen sie tätig werden müssen?
Dießner: Die bereits angesprochenen tragischen Fälle, die in der Vergangenheit zu Strafverfahren gegen Jugendamtsmitarbeiter geführt haben, haben nach meiner Wahrnehmung das Problembewusstsein merklich verstärkt, aber auch den Wunsch nach Handlungssicherheit hervorgerufen.
Zahlreiche Jugendämter haben als Reaktion hierauf Handlungsleitlinien entwickelt. Der Deutsche Städtetag hat im Jahr 2009 Empfehlungen für die Festlegung fachlicher Verfahrensstandards bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls verabschiedet, die die Handlungsmaßgaben des § 8a SGB VIII ergänzen. Derartige allgemein anerkannte Regelungen, die als Sorgfaltsmaßstab dienen, suchte man früher vergebens. Auch Schulungen zu dem Thema stoßen auf reges Interesse.
Das Problembewusstsein ist aber nicht nur bei den Jugendamtsmitarbeitern gestiegen, die vor Ort in den Familien tätig sind, sondern auch bei den Mitarbeitern, die Leitungsverantwortung im Jugendamt tragen. Denn dies wird leicht übersehen: Auch diese Mitarbeiter laufen Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden. Der Grundsatz der Kollegialentscheidung führt dazu, dass auch Leitungsverantwortliche in verstärktem Maße in die Fallarbeit und damit letztlich auch in die Beurteilung des Risikos einer Kindeswohlgefährdung einbezogen werden.
LTO: Frau Dr. Dießner, wir danken Ihnen für dieses Interview.
Dr. Annika Dießner ist Rechtsanwältin in der Strafrechtskanzlei Ignor & Partner in Berlin und Autorin zahlreicher Veröffentlichungen, unter anderem zur Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei familiärer Kindeswohlgefährdung.
Die Fragen stellte Steffen Heidt.
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Inzestfall vom Westerwald: . In: Legal Tribune Online, 15.02.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2540 (abgerufen am: 08.12.2024 )
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