Interview mit Thomas Fischer: "Wenn Protest gegen Unsinn mich zum Rebell macht, bin ich gern einer"

"Das derzeitige System bietet die Möglichkeit gesetzwidriger Manipulationen"

LTO: Eine Steigerung auf 50 Prozent ohne Zeiteinbußen? Wie stellen Sie sich das vor?

Fischer: Die erfolgreiche Anwendung des ZAP setzt selbstverständlich ein höheres Maß an Disziplin voraus, als es bisher in den Strafsenaten für erforderlich gehalten wird: Die Beratungstermine müssen vorab bestimmt werden, und es muss sichergestellt sein, dass die Mitglieder der betreffenden Sitzgruppe am Beratungstermin auch anwesend sind. Das ist aber eine ganz normale Disziplin, wie sie bei den Zivilsenaten selbstverständlich ist und auch in den Urteilsverfahren der Strafsenate eingehalten wird.

Sie schränkt allerdings die Freiheit der Strafsenats-Richter erheblich ein, welche das bisherige Verfahren ihnen bietet, nämlich die Revisionssachen zu dem Zeitpunkt "in den Senat zu bringen", der ihnen selbst - aus welchen Gründen auch immer - als passend erscheint. Dieses merkwürdige Privileg ist sachlich nicht verständlich. Seine Einschränkung erscheint mir aus rechtsstaatlichen Gründen dringend geboten, denn die genannte Freiheit bietet - neben Bequemlichkeit für den einzelnen Richter - offenkundig die Möglichkeit gesetzwidriger Manipulation des Entscheidungs-Kollegiums, beispielsweise, indem ein Zeitpunkt gewählt wird, zu dem sich ein Kollege mit mutmaßlich anderer Ansicht im Urlaub befindet.

Wenn ein Senat sich einig ist, dass nach dem ZAP verfahren werden soll, lassen sich Routinen entwickeln, die zur Zeitersparnis führen. Wenn die Revisionsakten von allen Sitzgruppenmitgliedern gelesen werden, wird die Beratung der Sache dramatisch abgekürzt, weil der end- und häufig sinnlose Aktenvortrag des Berichterstatters entfällt. Dadurch lassen sich wöchentlich mindestens zehn Stunden sparen. In dieser Zeit kann ein geübter Revisionsrichter eine Menge Akten so lesen, dass er umfassend über den Verfahrensstoff informiert ist. Alles in allem ist es ziemlich einfach. Man muss es nur wollen.

"Es gibt keine Vetternwirtschaft unter Richtern"

LTO: Man kann den Eindruck gewinnen, dass ein missbräuchlicher oder auch nur nachlässiger Umgang mit richterlicher Entscheidungsmacht für Sie ein besonders rotes Tuch ist – erst kürzlich hat Ihr Senat ein Urteil des LG Frankfurt aufgehoben, weil eine Richterin während der Hauptverhandlung SMS geschrieben hatte. Vergleichbare Fälle (Sekundenschlaf, geschlossene Augen und schweres Atmen) waren zuvor von anderen Gerichten, etwa dem BFH, durch gewunken worden. Denken Sie, dass sich im Umgang mit den Fehlern von Richterkollegen, die potentiell auch die eigenen sind, eine gewisse laissez-faire-Attitüde eingeschlichen hat?

Fischer: Nein. Die von Ihnen erwähnten Fälle sind teilweise Jahrzehnte alt und würden nach meiner Ansicht heute so nicht mehr entschieden. Außerdem bringen Sie "Abwesenheit" und "Befangenheit" durcheinander. Der Handy-Fall unterschied sich substanziell von anderen Fällen. Warten Sie die Urteilsgründe ab; diese werden dazu das Erforderliche sagen. 

Prof. Dr. Thomas Fischer ist Vorsitzender des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und Herausgeber des strafrechtlichen Standardwerkes "Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen". Auf Zeit Online verfasst er eine wöchentlich erscheinende Kolumne zu grundlegenden Fragen und Problemen des Rechts.

Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.

Zitiervorschlag

Constantin Baron van Lijnden, Interview mit Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 14.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16207 (abgerufen am: 10.12.2024 )

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