Kein anderer Spruchkörper des BGH schreibt so viele Schlagzeilen wie der 2. Strafsenat. Im Interview spricht dessen Vorsitzender Thomas Fischer u.a. über seinen Führungsstil, Zwist mit Kollegen und was ihn an der Bezeichnung "Rebellensenat" stört.
LTO: Herr Fischer, Ihr Senat ist dafür bekannt, auffallend häufig mit bestehender Rechtsprechung des BGH zu brechen, mitunter hat ihm das die Bezeichnung als "Rebellensenat" eingebracht. Wie kommt das? Ist es bloßer Zufall, dass sich im 2. Strafsenat überdurchschnittlich reformfreudige Richter zusammengefunden haben, oder haben Sie den Senat als sein Vorsitzender gezielt auf Kurs gebracht?
Fischer: Die Voraussetzungen Ihrer Frage scheinen mir nicht unstreitig. Wir – d. h. der 2. Strafsenat – brechen nach meiner Ansicht nicht "auffallend häufig" mit bestehender Rechtsprechung, sondern nur in einem sehr kleinen Prozentsatz von vielen hundert Verfahren, die wir jährlich entscheiden. Die Wahrnehmung ist möglicherweise verzerrt, weil über abweichende Entscheidungen sehr viel intensiver berichtet wird als über solche, die den status quo bestätigen und anwenden.
Wenn der 2. Senat dennoch geringfügig häufiger als andere Senate einen Kurswechsel einleitet, dann liegt das an seiner – in der Tat: zufälligen – Zusammensetzung. Es ist nicht so, dass der 2. Senat "liberaler" wäre als die übrigen, aber unter seinen Mitgliedern besteht wohl die größte rechtspolitische Spreizung und die größte Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, wenn diese vorzugswürdig erscheinen. Diese Zusammensetzung führt nicht dazu, dass wir automatisch (oder gar: aus Prinzip oder "Rebellentum") mit bestehenden Regeln brechen würden, aber sie schafft günstige Voraussetzungen dafür. Ich selbst habe damit nur insofern etwas zu tun, als ich eines der sieben Mitglieder des Senats bin. Meine Stimme wiegt dort nicht mehr als jede andere – zu Unrecht wird oft das Wort "Vorsitzender" mit "Vorgesetzter" verwechselt.
Die Bezeichnung "Rebellensenat" ist im Übrigen eine Zuschreibung der Presse und stammt aus einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich dem gerichtsverfassungsrechtlichen Konflikt der Jahre 2011 und 2012 um die Ernennung von Vorsitzenden Richtern am BGH zu Vorsitzenden von zwei Strafsenaten mit jeweils 100 Prozent ihrer Arbeitskraft. Eine Spruchgruppe des Senats – unter anderem auch ich selbst – hielt dies für verfassungswidrig, weil ein Senatsvorsitzender, der auf Dauer 200 Prozent der Arbeitsleistung eines durchschnittlichen Senatsvorsitzenden erbringen muss, nicht der "gesetzliche Richter" sein könne, den das Grundgesetz garantiert. Denn eine solche Leistung ist unmöglich.
"Die BVerfG-Entscheidung zum Doppelvorsitz verwechselt Müssen mit Können"
LTO: Eine Ansicht, die das Bundesverfassungsgericht nicht teilt.
Fischer: Ja – man hat uns dort eines Besseren belehrt und entschieden, dass ein Senatsvorsitzender keine Akten lesen muss und beliebig hoch belastet werden kann, wenn es dem Präsidium des BGH gefällt. Denn "Jeder Richter eines Senats muss" – so das BVerfG – "dieselbe umfassende Kenntnis vom Verfahrensstoff haben." Das entscheidende Wort ist hier: muss. Wenn der Vorsitzende so viele Akten zu verwalten hat, dass kein Mensch auf der Welt das mehr schaffen kann, ist das ebenso gleichgültig wie wenn drei von fünf Richtern eines Senats die Akten erst gar nicht lesen, sondern sich ihren Inhalt nur erzählen lassen: Da sie alle dieselbe Kenntnis haben "müssen", so meint die erste Kammer des 2. Senats unseres Verfassungsgerichts, werden sie sie dann wohl auch haben.
Wenn Widerspruch gegen einen solch offenkundigen Unsinn schon als "Rebellentum" gilt, bin ich gerne "Rebell".
"Manche Kollegen grüßen uns nicht einmal mehr"
Viele, auch Kollegen am BGH, verstehen überhaupt, nicht, um was es da geht. Die Zivilsenate des Gerichts kämen nie auf die Idee, ihre Fälle ohne Lektüre der Revisionsakten durch alle und ohne schriftliches Votum des Berichterstatters zu entscheiden. Trotzdem laufen sie mit finsteren Blicken umher und halten die angeblichen "Rebellen" des 2. Strafsenats noch nicht einmal mehr eines Grußes für würdig, weil diese das "Nest beschmutzen". Das ist absurd, muss aber leider ertragen werden.
Das einzige inhaltliche Argument, das ich bisher gehört habe, war, dass man die Menge der Arbeit nicht schaffen würde, wenn die entscheidenden Richter die Akten lesen. Ich halte dies für ein extrem schwaches Argument. Der ganze Rest ist Schweigen oder sinnloses Beleidigtsein. Eine neutrale Untersuchung durch ein wissenschaftliches Forschungsvorhaben von zwei Universitäten ist mit der Begründung abgelehnt worden, das Persönlichkeitsrecht von Richtern könne verletzt sein, die vor Jahren in die (amtlichen) Revisionsakten irgendwelche Rand-Bemerkungen oder Kringel gemalt haben.
All das kann man machen. Es hat allerdings mehr mit Macht als mit Recht zu tun. Meiner Vorstellung entspricht es nicht. Wenn irgendjemand meint, er müsse mich "Rebell" nennen, weil ich vorschlage, ein Steak mit Messer und Gabel zu essen, statt es zwecks Zeitersparnis zu pürieren, dann soll es meinetwegen so sein. Ich bin ein konservativer Mensch. Ich lasse mir nicht alle Zähne ziehen, weil dann die Nahrungsaufnahme schneller geht. Und wenn die "herrschende Meinung" anderer Ansicht ist, soll sie halt das Brot auf dem Zahnfleisch kauen.
Constantin Baron van Lijnden, Interview mit Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 14.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16207 (abgerufen am: 09.12.2024 )
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