Nach dem Sturz des Assad-Regimes setzen die Rebellengruppen zunächst auf Kontinuität in der Staatsverwaltung. Wie könnte eine neue Verfassung Syriens aussehen? Und wie die Verbrechen einmal aufgearbeitet werden, dazu Naseef Naeem im Interview.
LTO: Naseef Naeem, Sie sind in Syrien geboren, haben in Aleppo und Damaskus Jura studiert und verfolgen und beraten seit Jahrzehnten aus Deutschland zur Lage in Syrien. Wie überraschend kam für Sie der schnelle Erfolg der Rebellen und der Sturz des Assad-Regimes?
Dr. Naseef Naeem: Ihren Anfang hat die Dynamik der letzten Tage mit militärischen Scharmützeln in der Region von Idlib im Norden Syriens genommen, einer Hochburg der Islamisten-Miliz Hajat Tahrir al-Scham, kurz HTS. Die Gruppe lieferte sich Schusswechsel mit den Militärposten der syrischen Armee. Das war für sich aber nichts Neues. Solche Auseinandersetzungen gab es regelmäßig über Jahre, viel mehr passiert ist da aber nie. Als die HTS aber diese Armeeposten überrennen konnte und ohne viel Widerstand auf dem Weg Richtung Aleppo war, zeichnete sich ab, dass das eine neue Qualität hat.
In Syrien verfolgen gleich eine ganze Reihe von Staaten ihre eigenen Interessen, welche Rolle spielte bei der Aufstandsdynamik die aktuelle geopolitische Situation im Nahen Osten?
Man muss klar sagen, der schnelle Vorstoß kam nicht aus dem Nichts. Es hat zuvor auf dem Gebiet der HTS umfangreiche Militärübungen gegeben. Dort war man gut vorbereitet. Und auch die geopolitische Ausgangslage hat dazu beigetragen, dass ein Momentum für den Umsturz entstanden ist.
Vor dem Rebellenvorstoß Anfang Dezember stand im Raum, dass die USA Sanktionen gegen Assads Syrien aussetzen könnten. Als Gegenleistung für einen Bruch mit dem Iran. Bislang hat das sogenannte Astana-Format die drei für Syriens Schicksal wichtigen Staaten Russland, Türkei und Iran zusammengebracht. Die begegneten sich dort lange auf Augenhöhe. Der Iran ist in der Region nun aber deutlich geschwächt, etwa durch die militärischen Erfolge Israels gegen die mit Iran verbündete Hisbollah. Auch muss der Iran befürchten, dass er von einem neuen US-Präsidenten Donald Trump stärker unter Druck gesetzt wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erwartet von einer neuen Trump-Amtsperiode eine Stärkung der Rolle seiner Türkei in der Region.
Das sind alles Faktoren, die die Machtverhältnisse in und um Syrien in Bewegung gesetzt haben. Beobachter hatten erwartet, dass das in Syrien etwas in Gang setzen könnte. Aber sicher nicht so schnell.
"Der völkerrechtliche UN-Fahrplan ist nicht mehr zeitgemäß"
Warum war der Vorstoß so erfolgreich?
Es war eigentlich zu erwarten, dass die syrische Armee und Russland das Vordringen eindämmen würden. Doch so kam es nicht. Die syrischen Städte wurden kampflos übergeben, nach Zahlen der NGO Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind knapp 1.000 Menschen ums Leben gekommen. Das ist natürlich tragisch, aber für einen Staatsumsturz doch eine erstaunlich niedrige Zahl – vor allem, wenn man sich die Bürgerkriegsgeschichte Syriens anguckt.
Aus dem geringen Widerstand darf man schließen, dass es rechtzeitig Gespräche und Absprachen von HTS mit Führungskräften der syrischen Armee gab. Dort kam man wohl zur Überzeugung, dass es sinnlos ist, zu kämpfen.
Ich vermute hinter dem ziemlich widerstandslosen Vordringen einen Putsch Russlands. Das hat den Vorstoß geduldet. Für die Russen ergibt sich daraus auch eine Chance, ihr Engagement in Syrien anzupassen. Statt mit dem geschwächten Assad-System könnte Russland nun mehr oder weniger gemäßigte Islamisten unterstützen. Das wäre auch nicht ohne Vorbild. In Tschetschenien hat der Kreml so ein funktionierendes System für sich etabliert.
Die Gruppen haben angekündigt, die Exekutivmacht in die Hände einer Übergangsregierung legen zu wollen. Darf man darauf vertrauen?
Das weiß keiner so genau. Die UN hat 2015 im Sicherheitsrat eine Art völkerrechtlichen Fahrplan mit ihrer Resolution 2254 beschlossen, darin ist die Rede von der Bildung einer Übergangsregierung, Parlamentswahlen und einer neuen Verfassung. Allerdings: Das alles wurde 2015 beschlossen, also in einer Zeit in der Assad noch amtierender Machthaber in Syrien war. Eine Resolution unter völlig anderen Vorzeichen. Sie scheint mir für die aktuelle Situation nicht mehr geeignet.
Was ist Ihres Erachtens jetzt wichtig?
Ich finde es sehr weise, dass die Rebellen die Minister und Verwaltungsbeamten auf ihren Posten gelassen haben. Sie wollten offenbar das Zeichen setzen, dass die Arbeit im Staat fortgeführt wird. Die Kontinuität der Institutionen an sich ist erst einmal wichtig. Sie schafft Stabilität. Mir scheint wichtig, dass kein Vakuum entsteht. Anders war man etwa vorgegangen, als allen voran die USA 2003 in den Irak einmarschierte. Dort hatte man den Staat einmal komplett abgeschaltet – mit verheerenden Folgen.
Wie könnte neue Verfassung Syriens aussehen?
Wie könnte ein syrischer Staat in naher Zukunft aussehen?
Die Verfassung von Syrien ist weiterhin in Kraft, ebenso wie alle weiteren Gesetze und Verordnungen. Es gibt bislang dazu keine anderslautende Erklärung der Rebellengruppen. Offenbar setzen sie auch in dieser Hinsicht erst einmal auf Kontinuität. Auch die Regierung soll geschäftsführend im Amt bleiben. Damit halten sich die Rebellen streng an die Verfassung. Ist der Posten des Staatspräsidenten dauerhaft nicht besetzt, so tritt nach Art. 93 der Verfassung sein Stellvertreter oder der Ministerpräsident an seine Stelle. Er soll das Amt zunächst für 90 Tage innehaben. Ich finde es wichtig, dass man sich an dieser Regelung orientiert.
Für die nähere Zukunft stellt sich die Frage: Wie will man die geltende Verfassung außer Kraft setzen, und was soll an ihre Stelle treten? Theoretisch zur Verfügung stünde noch eine Verfassung aus dem Syrien der 1950er Jahre, ich bin aber dafür, eine neue Verfassung zu finden.
Die Rebellengruppen setzen sich ethnisch und religiös heterogen zusammen, ebenso wie das Land selbst. Wie groß ist die Gefahr, dass Syrien nach Assads Sturz auseinanderfällt?
Wenn wir auf die Landkarte Syriens schauen, dann sehen wir einen Staat mit sehr vielen verschiedenen religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten. Die meisten Alawiten leben an der Küste, die Sunniten im Norden an der Küste, im Nordosten die Kurden, dazwischen Christen, Drusen und so weiter. Teilweise sind das Folgen des Bürgerkriegs seit 2011. Was herausragt, ist die kurdische Region Rojava. Dort haben die Kurden eine Selbstverwaltung aufgebaut, unterstützt durch die Amerikaner. Sie ist eng verbunden mit dem Territorium. Alle anderen Gruppierungen beanspruchen nicht so stark ihren derzeitigen Standort ausschließlich für sich.
Interessanterweise hat die HTS bisher nicht versucht, ethnische Konflikte vom Zaun zu brechen. In Zukunft wird das Thema Vielfalt in Syrien neu gedacht werden müssen. Und zwar auch für eine neue Verfassung. Vieles spricht dafür, dass Syrien in einem dezentralen System verwaltet wird, da stellen sich auch ganz konkrete Fragen nach der Verteilung von Finanzmitteln in die Regionen und an die Gruppen. Außerdem wird es um Minderheitenschutz gehen. Im Irak wurde das mit einem Sonderstatus für die Gruppen der Assyrer und Turkmenen gelöst, sie dürfen Selbstverwaltungsgebiete einrichten. Auf der anderen Seite muss man aber aufpassen, dass keine zu starke Zersplitterung entsteht, die dann auch die nationale Einheit bedroht.
Kaum haben die Rebellen Damaskus erreicht, ist in Deutschland schon eine rege Diskussion über eine Rückführung von syrischen Geflüchteten im Gange. Die Entscheidung über Asylanträge wurde ausgesetzt. Wie erleben Sie die Diskussion?
Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen sehen, wie stabil und friedlich die Situation in Syrien bleibt. Das ist derzeit sozusagen die Eine-Millionen-Dollar-Frage in Syrien. Bleiben die Gruppen, die das Land jetzt übernommen haben, so offen und gesprächsbereit?
Bislang deutet alles darauf hin. Ich halte nichts davon, jetzt schon wieder nach deutscher Art alles Schwarz zu malen. Man muss die Lage "on the ground" aufmerksam beobachten. Es gibt dort eine neue Realität, und zwar gerade erst einmal seit Sonntag. Wenn es weiter so stabil bleibt, dann kann aber keine Rede mehr von Bürgerkrieg sein. Und dann besteht auch kein Asylgrund mehr, so sehe ich das.
Wie werden Verbrechen aus der Assad-Zeit aufgearbeitet?
Im Netz kursieren viele Videos und Fotos von befreiten Gefangengen aus syrischen Gefängnissen, viele Opfer aber auch Zeugen der Gewalt durch das Regime. Auch scheinen den Rebellen Geheimdienstdokumente des Assad-Regimes in die Hände gefallen zu sein. Wie stehen die Chancen, das Unrecht und die Grausamkeiten dieser langen Jahre aufzuarbeiten?
Bekannt ist, dass die Armeeangehörigen ihre Waffen und Uniformen abgegeben haben, zivile Staatsdiener sollten an ihre Arbeitsplätze zurückkehren.
Man wird unterscheiden müssen: Für die schlimmsten Verbrechen dürften die Angehörigen des Geheimdienstes verantwortlich sein, etwa des Luftwaffengeheimdienstes. Auf der anderen Seite wird auch die reguläre Armee Verbrechen begangen haben. Inwiefern Soldaten dabei nach dem humanitären Völkerrecht verantwortlich sind, wird man sehen müssen. Das läuft am Ende auf eine Einzelfallprüfung hinaus: Welcher General, welcher Offizier war für welches Verbrechen verantwortlich?
Diese Aufarbeitung ist aber bislang noch kein Thema. Es geht den Rebellen darum, Sicherheit und Stabilität herzustellen. Die durchaus auch gesellschaftlich heiklen Fragen nach den Verantwortlichkeiten in den Assad-Jahren kommen später. Nicht zufällig haben die Rebellen ein Treffen mit verschiedenen Gruppen in Tartus abgehalten, das ist eine der Hochburgen der Alawiten, zu der auch Assads Familie gehört.
Deutschland hat in den letzten Jahren bei der Verfolgung und Ahndung von Völkerstraftaten in Syrien eine weltweit beachtete Rolle eingenommen. Beginnt für diese Arbeit jetzt auch ein neues Kapitel?
Ich glaube, die deutsche Bundesanwaltschaft ist gut beraten, die Ereignisse in Syrien erst einmal weiter zu verfolgen und abzuwarten. Denn eine Frage ist ja, ob mittelfristig die Justiz in Syrien eine eigene Strafverfolgung solcher Taten aufnehmen kann. Das wird alles seine Zeit dauern. Ich schätze, dass Syrien 20 Jahre braucht, um als Staat wieder auf den Stand Null zu kommen, heraus aus dem Minus.
Was kann und muss Europa und Deutschland jetzt tun?
Die Menschen in Syrien brauchen humanitäre Hilfe, Nahrung, Treibstoff. Das Land ist am Boden. Seit Sonntag ist die Währung zusammengebrochen, Waren werden nicht mehr verkauft und stattdessen zurückgehalten. Das ist in solchen Umbruchssituationen auch unausweichlich. Dann ist natürlich auch deutsche Expertise gefragt, etwa für Institutionen, Verwaltung, die Verfassung. Aus meiner Sicht ist es nicht schwierig, mit den Rebellengruppen ins Gespräch zu kommen. Es gibt dort Ansprechpartner. Auch wenn diese Gruppen vormals ideologisch zu Al Qaida oder Al Nusra gehörten, man muss sie danach beurteilen, wie sie nun handeln.
Es ist ein neues Phänomen, dass Anführer einer dschihadistischen Gruppe nach einem militärischen Erfolg angekündigt haben, die Macht an eine zivile Verwaltung abzugeben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Naseef Naeem wurde in Fairouza (Homs-Syrien) geboren. Er hat in Aleppo und Damaskus Rechtswissenschaften studiert. Promoviert hat er an der Uni Hannover und danach u.a. für das Max-Planck-Institut (MPI) und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet. Naeem arbeitet derzeit als Consultant und wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und Beratungsgruppe zenithCouncil und Candid Foundation in Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zu Staat, Verfassung und Politik im Nahen Osten geschrieben.
Syrien-Verfassungsrechtsexperte: . In: Legal Tribune Online, 09.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56068 (abgerufen am: 25.01.2025 )
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