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Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg: "Ich sehe große Ver­fol­gung­s­chancen"

Interview von Dr. Markus Sehl

08.04.2022

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin a. D., im Portrait bei der Bundespressekonferenz zum Thema Strafanzeige beim Generalbundesanwalt

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin a. D., bei der Bundespressekonferenz zum Thema Strafanzeige beim Generalbundesanwalt. Foto: picture alliance / Flashpic | Jens Krick

Was der Auslöser für ihre Strafanzeige war, weshalb sie auch eine Warnung ist und warum Putin nicht vor ein deutsches Gericht gehört: die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der Anwalt Nikolaos Gazeas im Interview.

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LTO: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben bereits Anfang März eine Strafanzeige zu den Vorfällen in der Ukraine angekündigt. Wann haben sich Herr Baum und Sie zu dem Schritt entschlossen?

Leutheusser-Schnarrenberger: Wir waren in den ersten Tagen nach dem 24. Februar erst einmal geschockt, dass Putin tatsächlich diesen Angriffskrieg führt. Herrn Baum und mir ging das sehr nahe, auch weil wir über die Jahre viele gute Kontakte mit russischen Menschenrechtsverteidigern und engagierten Zivilorganisationen in Russland hatten. Schon nach wenigen Tagen zeichnete sich Ende Februar ab, dass sich besonders brutale Angriffe auf einige Orte wie Charkiw oder Mariupol konzentrierten. Es wurde klar, dass dort rücksichtslos bombardiert und auch Krankenhäuser oder Wohnkomplexe getroffen wurden.

Die Strafanzeige listet dutzende Vorfälle detailliert auf. Gibt es ein Ereignis, das für Ihre Anzeige der Auslöser war?

Leutheusser-Schnarrenberger: Am 7. März haben russische Soldaten auf der Schnellstraße E-40 nahe Kiew eine Frau und ihren Mann erschossen, die mit ihrem Auto fliehen wollten. Der Mann stieg mit erhobenen Händen aus dem Auto und wurde getötet, ebenso wie seine Frau. Ein Drohnenvideo hat die Szene festgehalten. Dass hilflose Menschen auf der Flucht getötet werden, war für mich ein Auslöser für die Arbeit an der Strafanzeige.

Gazeas: Mich hat sehr besorgt, dass schon so früh, schon in den ersten Tagen des Angriffskriegs zentrale Regeln des Kriegsrechts so massiv gebrochen wurden. Damit stand zu befürchten, es werden noch weitere schwere Verbrechen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinzukommen.

Dr. Nikolaos Gazeas

"Wir konzentrieren uns mit unserer Strafanzeige auch auf Kommandeure"

Als russischer Staatschef kann sich Putin, der ganz oben in Ihrer Strafanzeige benannt wird, auf Immunität und auf Schutz vor einem Haftbefehl verlassen – wann könnten ihm Ermittlungen der deutschen Bundesanwaltschaft gefährlich werden?

Leutheusser-Schnarrenberger: Solange er Präsident ist, genießt er Immunität. Wir konzentrieren uns mit unserer Strafanzeige auch auf Kommandeure und bis hin zu einzelnen Soldaten auf der Straße, die an Kriegsverbrechen beteiligt sind. Für sie gibt es kein Strafverfolgungshindernis.

Gazeas: Es wäre der falsche Ansatz, Wladimir Putin vor ein deutsches Gericht stellen zu wollen.  Tatvorwürfe gegen einen Staatspräsidenten in einem solch schweren bewaffneten Konflikt sollten wenn, dann vor ein internationales Gericht. Der Internationale Strafgerichtshof oder ein etwaiger Ad-hoc Gerichtshof für das Verbrechen der Aggression, zu dem eine erste Diskussion begonnen hat, wären hier die richtigen Adressaten. Es sollten Gerichte sein, die von der Weltgemeinschaft getragen werden und sie repräsentieren. Das ist eine Aufgabe, die nicht ohne Not von einem einzelnen Staat stellvertretend für die Weltgemeinschaft übernommen werden sollte.  

Sie haben in der Anzeige neben militärischen Spitzen auch viele russische Kommandanten benannt. Wie realistisch ist es, dass irgendwann gegen einzelne Soldaten ein Haftbefehl aus Deutschland vollstreckt wird?

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich sehe große Verfolgungschancen bei ganz konkret dokumentierten Vorfällen, wie nicht zuletzt bei den Grausamkeiten in der ukrainischen Stadt Butscha. Da gibt es ganz präzise Anhaltspunkte, zu denen weiter ermittelt werden muss. Nach Medienberichten, die belastbar erscheinen, kommen Angehörige der 64. Motorisierten Schützenbrigade sowie des 234. Garde-Fallschirmjägerregiments der russischen Armee als Täter in Betracht.

Gazeas: Über die Verbrechen in Butscha haben wir ganz konkrete Angaben auf der Homepage des ukrainischen Verteidigungsministeriums, welche Brigaden dafür verantwortlich sind, bis hin zum Geburtsdatum und der Militärnummer der jeweiligen Personen

Wenn in den letzten Jahren Kriegsverbrecher erfolgreich angeklagt wurden, dann handelte es sich um Menschen, die mittlerweile auf deutschem Boden lebten und festgenommen werden konnten. Wie stehen die Chancen dafür bei den angezeigten russischen Militärs?

Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist bekannt, dass auch bei höherrangigen Militärs Familienmitglieder, Kinder, Enkel, Nichten sich im Ausland aufhalten, studieren oder arbeiten. Wenn ein Haftbefehl in der Welt ist, der international über Interpol zur Fahndung ausgeschrieben ist, dann müssen diese Militärs mit ihrer Verhaftung rechnen, wenn sie ihre Verwandte im Ausland besuchen.  

Gazeas: Wenn jemand etwa nach Paris kommt, dann könnte in kürzester Zeit, auch binnen eines Tages, Deutschland einen europäischen Haftbefehl auszustellen, um die Person in Frankreich festnehmen zu lassen. Außerdem muss man bedenken: diese Menschen werden nicht jünger. Gut denkbar, dass sie irgendwann einmal vor der Situation stehen, zu einer medizinischen Behandlung in eine gute Klinik im westlichen Ausland reisen zu wollen. Auch das könnte für sie gefährlich werden. Diese Leute müssen wissen, Völkerstraftaten verjähren nicht.

"Wir maßen uns mit der Strafanzeige nicht an, die Beweisqualität abschließend zu bewerten."

Sie stützen sich in der Anzeige auf ein Bündel von Quellen: Geheimdienstberichte, Informationen von NGOs, Journalistinnen und Aktivisten. Als wie verlässlich schätzen sie die verfügbare Quellenlage ein?

Gazeas: Wir haben nur öffentlich zugängliche Quellen genutzt. Wir haben keine Informationen von Geheimdiensten genutzt, die nicht auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Nur der Zugang zu diesen Quellen ist nicht so einfach, gerade wenn es sich um Dokumente aus der Ukraine handelt. Bei den Arbeiten war mein Kanzleikollege Dr. Andrej Umansky mit seinen Ukrainisch- und Russischkenntnissen und seinen tiefen Kenntnissen von der Materie sehr wertvoll. Die zum Teil tagesaktuellen Listen des Geheimdienstes des ukrainischen Verteidigungsministeriums zu den russischen Einheiten, die im Verdacht stehen, in der Ukraine Kriegsverbrechen zu begehen, kommen in der Wahrnehmung in Deutschland in meinen Augen noch zu kurz.

Aber diese Quellen stammen von einer der beiden Kriegsparteien, wie konnten Sie die Angaben überprüfen?

Leutheusser-Schnarrenberger: Wir haben auch andere Quellen einbezogen, die sich nicht der Ukraine zurechnen lassen, wie etwa Berichte der UN oder von Human Rights Watch. Und wir haben Hinweise zusammengetragen, von denen bisher noch nicht die Rede war und die einen Mehrwert bringen können. Das muss nun von der Bundesanwaltschaft ausermittelt werden.

Gazeas: Richtig, man muss immer darauf hinweisen, dass es sich um eine Quelle einer Konfliktpartei handelt. Das haben wir getan. Und natürlich muss man für eine abschließende Bewertung weitere Erkenntnisse gewinnen. Gestern Morgen wurde bekannt, dass der BND, der deutsche Auslandsnachrichtendienst, Funksprüche russischer Soldaten abgehört hat, die sich über Gräueltaten gegen Zivilisten in Butscha unterhalten. Wir kennen Satellitenaufnahmen des Ortes, die zeigen, ab wann tote Zivilisten auf der Straße lagen. Das sind alles Beweismittel mit Gewicht. Wir maßen uns mit der Strafanzeige nicht an, die Beweisqualität abschließend zu bewerten. Das ist Aufgabe der Ermittler, insbesondere des Generalbundesanwalts.  

Humanitäres Völkerrecht verpflichtet alle Seiten in einem Krieg möglichst fair – soweit das in einem Krieg überhaupt möglich ist – vorzugehen. Sind Sie bei Ihren Arbeiten auch Hinweisen zu Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite nachgegangen?

Leutheusser-Schnarrenberger: Bisher hatten wir keine konkreten Anhaltspunkte für mögliche Kriegsverbrechen, die Ukrainern zuzurechnen wären. Sollte es solche geben, müsste auch diesen Vorwürfen nachgegangen werden.  

Gazeas: Klar ist: Kriegsverbrechen darf niemand begehen. Das Völkerstrafrecht gilt für alle Konfliktparteien gleichermaßen.

Könnte eine Strafanzeige und die Sorge vor internationaler Strafverfolgung einen Despoten wie Putin nicht dazu bringen, sich noch rücksichtsloser an die Macht zu klammern?

Leutheusser-Schnarrenberger: Das sehe ich überhaupt nicht. Putin ist sei 20 Jahren an der Macht, er kontrolliert weitgehend den Staatsapparat und lässt die russischen militärischen Einheiten rücksichtslos vorgehen. Durch eine Strafanzeige von Herrn Baum und mir wird er nicht noch brutaler vorgehen, eher wegen seiner bisherigen geringen Erfolge. Das Völkerstrafrecht, auf das sich die Staatengemeinschaft 1998 in Rom geeinigt hat und das 2002 bei uns in Deutschland in ein eigenes Gesetz gegossen wurde, dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch, muss natürlich angewendet werden. Dieses Recht ist gerade auch für solche Situationen geschaffen worden, wie wir sie nun in der Ukraine sehen.  

Gazeas: Es gilt, mit Blick auf den Hauptverantwortlichen mit Bedacht vorzugehen. Aber das tut man auch. Sicher kann eine Anklage oder ein international ausgeschriebener Haftbefehl eines internationalen Strafgerichtshofs auch Eskalationspotential in sich bergen. Die Tatsache, dass Wladimir Putin in der Strafanzeige zweier – wenn auch sehr prominenter – Vertreter der Zivilgesellschaft an den Generalbundesanwalt aufgeführt wird, birgt dieses Potential nicht. Die Anzeige nimmt neben Putin ja gerade eine ganze Reihe anderer Personen in den Fokus – und sie soll eine Signalwirkung vor allem auch an diejenigen enthalten, die noch zu Tätern werden könnten in diesem Krieg. Sie enthält einen Apell und eine Warnung zugleich: Begeht keine Kriegsverbrechen. Wenn ihr es doch tut, werdet ihr Zeit Eures Lebens dafür im Ausland zur Verantwortung gezogen werden können. Wenn diese Strafanzeige auch nur einen russischen Soldaten von der Begehung einer Völkerstraftat im Krieg abhält, hat sie ihren Zweck schon erfüllt.  

"Nationale Ermittlungen stehen neben den internationalen, das ist auch vom Völkerstrafrecht so vorgesehen"

In den vergangenen Jahren wurde immer mal wieder über eine Krise des internationalen Strafrechts und des Strafgerichtshofs in Den Haag diskutiert. Erleben wir gerade eine Renaissance des Völkerstrafrechts?

Leutheusser-Schnarrenberger: Auch wenn in den letzten Jahren einige Staaten dem internationalen Strafgerichtshof ihre Zustimmung entzogen haben, der Ukraine-Krieg fordert das Völkerstrafrecht international wie national. Deutschland hat seit 2002 gezeigt, dass es auch gegen Widerstände und bei schwierigen Verfahren das Völkerstrafrecht durchsetzt. Auch im Koalitionsvertrag der Ampel wird eine Stärkung bei der Durchsetzung des Völkerstrafrechts betont.  

Die völkerstrafrechtliche Verfolgung der Bundesanwaltschaft hat sich zuletzt vor allem auf die IS-Verbrechen und die Region Syrien und Irak konzentriert – muss es da eine Neuorientierung geben?

Leutheusser-Schnarrenberger: Viele Konflikte neben dem Ukrainekrieg, bei denen wir Kriegsverbrechen befürchten müssen, dauern immer noch an. Die Arbeiten können noch nicht abgeschlossen werden. Beim Bundeskriminalamt arbeitet derzeit eine Einheit mit elf Ermittlern zum Ukrainekrieg.  Das Strukturermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft, das Hinweise und Beweise zu Verbrechen in der Ukraine sammelt, wird zur Zeit von einer überschaubaren Zahl von Mitarbeitern bearbeitet. Wichtig ist, dass mit dem Koalitionsvertrag eine Grundlage geschaffen ist, damit die Strafverfolgung jedenfalls nicht an Personalmangel scheitern wird.

Auch andere Staaten ermitteln zum Ukrainekrieg, der internationale Gerichtshof hat Ermittlungen aufgenommen, Europol hat sich ins Spiel gebracht – welche Rolle nimmt dabei die Strafverfolgung durch den Generalbundesanwalt ein?  

Leutheusser-Schnarrenberger: Nationale Ermittlungen stehen neben den internationalen, das ist auch vom Völkerstrafrecht so vorgesehen. Die Verantwortung eines Staatspräsidenten oder der Minister muss mit dem ganzen internationalen Gewicht eines Strafgerichtshofs der internationalen Gemeinschaft geführt werden. Dabei können dann auch Erkenntnisse, die in einem Verfahren in einem Staat gewonnen wurden, hilfreich sein. Es ist als ein ergänzendes System angelegt, um dem Völkerstrafrecht zur Durchsetzungskraft zu verhelfen.  

Gazeas: Bei einer so gravierenden und so vielschichtigen Verletzung des Gewaltverbots und des Völkerrechts schon jetzt kann nur eine international arbeitsteilige Strafverfolgung – klug aufgeteilt – durch supranationale Gerichte und einzelner Staaten, die dies stellvertretend für die Weltgemeinschaft tun, die richtige Antwort sein. Denn Täter gibt es leider genug.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war von 1992 bis 1996 sowie von 2009 bis 2013 Bundesministerin der Justiz. Sie wurde 2018 zur ersten Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen berufen. Seit 2018 ist die FDP-Politikerin stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Dr. Nikolaos Gazeas ist Rechtsanwalt und Partner der auf das Strafrecht spezialisierten Kanzlei GAZEAS NEPOMUCK in Köln. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln und regelmäßig als Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren und als Anwalt in Strafsachen mit politischem Bezug mandatiert. Er ist u.a. seit 2020 der deutsche Anwalt von Alexej Nawalny. Gazeas, der keiner Partei angehört, vertritt gemeinsam mit seinem Kanzleikollegen Dr. Andrej Umansky, die beiden Anzeigeerstatter Leutheusser-Schnarrenberger und Baum in ihrer Strafanzeige beim Generalbundesanwalt.

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Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg: . In: Legal Tribune Online, 08.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48101 (abgerufen am: 11.11.2025 )

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