DAV-Präsident zu Deutschlands Position bei Zurückweisungen: "Das ist der Beginn von Anar­chie"

Interview von Dr. Felix W. Zimmermann und Dr. Franziska Kring

11.06.2025

Andere Staaten halten sich bei Zurückweisungen nicht an das EU-Recht, deshalb muss Deutschland das auch nicht tun – so hatte die Bundesregierung argumentiert. Dies sendet eine fatale Botschaft, findet DAV-Präsident Stefan von Raumer.

LTO: Herr von Raumer, Sie haben gesagt, Sie hätten sich über die Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin zu den Zurückweisungen gefreut. Das ist eher ungewöhnlich, denn es gibt ja immer zwei Parteien.

Stefan von Raumer: Wir als Deutscher Anwaltverein (DAV) haben unseren Migrationsausschuss damit beauftragt, die europarechtlichen Rechtsfragen zu prüfen. Und der Ausschuss hat erhebliche Bedenken geäußert, insbesondere zu den Grenzkontrollen an den Binnengrenzen und den Zurückweisungen ohne Durchführung des Dublin-III-Abkommens. Diese Themen haben wir gerade in einer Stellungnahme adressiert. Die Positionen, die wir dort vertreten, hat das Verwaltungsgericht (VG) Berlin in seiner Entscheidung bestätigt. Das freut uns natürlich.

Das ist nachvollziehbar. Ein Argument ist ja jetzt, dass es sich um einen Einzelfall handele. Formell ist das natürlich richtig. Aber dennoch hat das VG einige grundsätzliche Ausführungen gemacht. Was halten Sie von dieser Einzelfall-Argumentation?

Sie ärgert mich sehr. Prozessual hat eine solche Entscheidung natürlich nur Inter-partes-Wirkung, das ist richtig.

Daneben kommt noch gerne das Argument, es sei ja nur eine Eilentscheidung. Das Gericht hat hier allerdings ausnahmsweise die Hauptsache vorweggenommen. Es hat sich ausführlich mit der Frage beschäftigt und ist der Ansicht, es könne die Dublin-III-Verpflichtungen nicht im Eilverfahren regeln. Deswegen ist die Entscheidung begründet wie eine Hauptsacheentscheidung. Das VG hat sich gründlich mit der gesamten EuGH-Rechtsprechung auseinandergesetzt. Es macht also grundsätzliche Ausführungen, die über diese Einzelfälle hinausgehen.

"Die Rechtslage ist eindeutig"

Die Bundesregierung scheint ihren Kurs aber nicht zu ändern. Innenminister Dobrindt hat kürzlich erst seine Auffassung bekräftigt, dass die Maßnahmen im Einklang mit dem EU-Recht stehen. Und darüber solle ohnehin der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheiden.

Mich würde es sehr ärgern, wenn die Bundesregierung in anderen Fällen bei ihrem Kurs bleibt, obwohl so deutlich gemacht wurde, was das Europarecht dazu sagt. Die Rechtslage ist eindeutig. Ich lasse immer gerne mit mir diskutieren, wenn es europarechtliche Argumente gibt. Wenn jetzt gesagt worden wäre, an welchen Stellen das VG das Europarecht falsch angewendet hat, hätte man darüber sprechen können. Das war aber nicht der Fall. Die Herausforderungen der Migration sind hoch. Man muss das Thema angehen und als Politik aktiv werden. Das geht aber nur in einem Europa als Gesamten und damit nur unter Achtung des Europarechts.

Stefan von Raumer im Gespräch mit LTO

Wenn wir jetzt mal das an das Thema des Anwaltstags denken, nämlich die Rechtsstaatlichkeit: Diese Entscheidung wurde ja im allgemeinen Grundsatz nicht beachtet. Deutet das insgesamt auf ein Problem hin oder gab es solche Situationen früher auch schon?

Neu sind solche Situationen nicht. Aber in den jetzigen Zeiten müssen wir leider innerhalb Europas, aber auch weltweit feststellen, dass der Respekt vor dem Primat des Rechtsstaats bröckelt. Es ist erschreckend, wie Grundprinzipien wie die anwaltliche Unabhängigkeit in den USA missachtet werden. 

Auch hier werden die Richter am VG Berlin wegen ihrer Eilentscheidungen zu den Zurückweisungen bedroht. Ich finde es wichtig, wie deutlich dies kritisiert wird. Aber das reicht nicht. Es ist nicht konsequent, einerseits die Angriffe auf die Richter zu verurteilen, andererseits aber so weiterzumachen, wie bisher, obwohl uns das Europarecht hier ganz klar vor Augen gehalten wurde. Deutschland sollte das Signal senden, dass es das Recht wahrt. Rechtswahrung muss Rechtswahrung bleiben. Und der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, worum es hier geht, und daran müssen wir uns halten. 

"Verhalten der Bundesregierung sendet eine fatale Botschaft"

Der EuGH hat entschieden?

Der EuGH hat die Grundsätze entschieden, nach denen das VG Berlin seine Entscheidung ausgerichtet hat. Nicht in diesen individuellen Einzelfällen, aber alle Weichenstellungen, die das VG Berlin genommen hat, sind in der Rechtsprechung des EuGH abgesichert. Wenn man mit diesen Vorgaben nicht einverstanden ist, muss man auf europäischer Ebene auf den Gesetzgeber einwirken. Das ist aber ein langer Weg.

Der Parteivortrag der Regierung in den Eilverfahren sendet eine fatale Botschaft: Andere halten sich auch nicht an das Europarecht, dann müssen wir das auch nicht. Diese Argumentation ist der Beginn von Anarchie. In diesem Fall ist es besonders schlimm, weil der EuGH genau diese Frage entschieden hat. Der EuGH sagt eindeutig, dass das Argument, andere Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft würden das Europarecht ignorieren, niemals einen Staat legitimiert, das auch zu tun.

"Wenn Anwälte für die legitime Ausübung ihres Berufs angegriffen werden, werden wir als DAV immer aufstehen"

Nicht nur bei Richterinnen und Richtern, sondern auch bei Anwältinnen und Anwälten besteht das Risiko, dass sie angegriffen werden, wenn sie derart politische Fälle bearbeiten. Wie beurteilen Sie das und was braucht es, um dem entgegenzuwirken?

Wir schauen besorgt auf jede Form von Angriffen gegen die Justiz, aber natürlich auch auf jede Form von Angriffen gegen Anwälte. Auch die Anwältin des Attentäters von Solingen wurde allein dafür, dass sie ihr Mandat wahrgenommen hat, angegriffen. Wenn Anwälte für die legitime Ausübung ihres Berufs angegriffen werden, werden wir als DAV immer aufstehen. Wir erleben das im Iran, in Afghanistan, in der Türkei und in anderen Staaten. Wir stehen solidarisch an der Seite der Anwaltschaft, aber auch der Richterschaft. Unabhängige Justiz und unabhängige Anwaltschaft sind die Voraussetzungen für einen Rechtsstaat.

Wenn wir zum Schluss noch einmal zum Fall vor dem VG Berlin zurückkommen: Die Union hat scharfe Kritik an der Organisation "Pro Asyl", die die drei Somalier unterstützt hat, geäußert. Pro Asyl habe die Entscheidung inszeniert und sich die Fälle gesucht. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf? 

In diesem Einzelfall kann ich nicht beurteilen, ob das zutrifft oder nicht. Dazu fehlen mir die konkreten Fakten. Grundsätzlich ist es nicht vorwerfbar, dass Anwälte versuchen, mit geeigneten Fällen eine streitige Rechtsfrage vor Gericht zu bringen, die eine grundsätzliche Bedeutung hat – auch hier nicht. Ich finde es absolut nachvollziehbar, eine gerichtliche Klärung der Frage erreichen zu wollen, wie man mit dieser Kollision von klaren europarechtlichen Vorgaben und einem klaren Kurs der aktuellen Regierung umgeht.

Vielen Dank für das Gespräch!

Stefan von Raumer ist seit Februar 2025 Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), zuvor war er gut drei Jahre Vizepräsident des DAV. Seit 1995 ist er als Rechtsanwalt in den Schwerpunktgebieten Verfassungsrecht und Menschenrechte tätig.

Zitiervorschlag

DAV-Präsident zu Deutschlands Position bei Zurückweisungen: . In: Legal Tribune Online, 11.06.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57387 (abgerufen am: 13.06.2025 )

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