Beim Leipziger Dialog beschäftigten vor allem das Asyl- und das Prozessrecht die Verwaltungsrichter. Sie wünschen sich ein Machtwort vom BVerwG – doch das kann in vielen Fällen nicht entscheiden, erklärt Robert Seegmüller.
LTO: Herr Dr. Seegmüller, Sie haben gerade in Zusammenarbeit von Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) und Bund Deutscher Verwaltungsrichter (BDVR) den "Leipziger Dialog" mit 350 Verwaltungsrichtern aller Instanzen am BVerwG veranstaltet. Warum?
Dr. Robert Seegmüller: Wir haben beim BVerwG aus unserer Sicht einen Mangel an Fallanschauung. In einigen Rechtsgebieten ist die Bandbreite der Fälle, die beim BVerwG ankommen, zu klein geworden. Damit finden sich auch kaum mehr Fälle, die zur Fortbildung der Rechtsprechung geeignet sind. Der Leipziger Dialog kann helfen, dieses Defizit zu kompensieren. Er bietet ein Forum, um sich mit Kollegen aller Instanzen auch über solche Fallgestaltungen auszutauschen, die ihren Weg nicht im regulären Instanzenzug zum BVerwG finden. Und darüber hinaus ermöglicht der Leipziger Dialog eine nachdenkliche Betrachtung bereits ergangener ober- und höchstgerichtlicher Rechtsprechung im Lichte der Erfahrungen der jeweils anderen Instanzen. Konstruktive Kritik an der Rechtsprechung des BVerwG oder der Oberverwaltungsgerichte ist auf dem Leipziger Dialog ausdrücklich erwünscht. Er ermöglicht also letztlich einen gleichberechtigten Austausch unter Kollegen, um auf dem kurzen Dienstweg Probleme zu lösen, die man sonst recht mühsam auf dem Rechtsweg lösen müsste.
LTO: Welche waren die dominanten Themen?
Seegmüller: Am besten besucht waren die Foren zum Prozessrecht, zum Ausländer- und Asylrecht und zum öffentlichen Dienstrecht. Mit kurzem Abstand dahinter folgte das Bau- und Planungsrecht. Hier konnten aufgrund der Saalkapazität leider nicht alle Interessenten teilnehmen. Das waren die vier großen Bereiche, die das meiste Interesse gefunden haben.
Was tun mit all den Untätigkeitsklagen?
LTO: Worum ging es genau im Forum zum Prozessrecht?
Seegmüller: Um die vor allem durch europäisches Recht ausgelöste Erweiterung des Kontrollauftrags der Verwaltungsgerichte, um die Anforderungen an das (Fortsetzungs-) feststellungsinteresse im Licht des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) und um die Interpretation der Zulassungsgründe für die Berufung. Außerdem wurden zahlreiche Einzelfragen des Prozessrechts diskutiert, wie etwa der Prüfungsumfang und die Entscheidungsart bei Untätigkeitsklagen und die Zulässigkeit reiner Bescheidungsklagen bei gebundenen Ansprüchen.
Das deutsche Konzept des subjektiven Rechtschutzes, also die Verknüpfung des Zugangs zu den Gerichten mit einer möglichen Betroffenheit des Klägers in eigenen Rechten, gerät durch die Rechtsentwicklung im Umwelt- und Planungsrecht unter Druck. Dort beobachten wir eine Tendenz zu einer immer stärkeren Ablösung der Klagemöglichkeit vom subjektiven Recht. Die Frage ist, inwieweit sich dieser Trend zukünftig auf das gesamte Prozessrecht auswirken kann.
In den vergangenen Jahren hatten die Verwaltungsgerichte mit einem massiven Anstieg von Untätigkeitsklagen gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) umzugehen. In diesen Fällen klagen Asylbewerber gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht wegen eines ablehnenden Bescheids, sondern weil sie von dem nach wie vor stark belasteten Amt zu lange gar keine Entscheidung über ihren Asylantrag bekommen. Was für Anwälte auch ein Geschäftsmodell war, hat die Gerichte relativ schnell überfordert. Für die Verwaltungsrichter stellt sich dann die Frage, ob sie auf solche Klagen hin die Arbeit, die eigentlich im BAMF gemacht werden müsste, also erstmalige vollständige Sachverhaltsermittlung, erste Anhörung der behaupteten Verfolgungsgeschichte und deren kritische Überprüfung, anstelle des BAMF erledigen oder ob es ausreichen kann, das BAMF zur unverzüglichen Bescheidung zu verurteilen.
2/3: Dauerbrenner mangelhafte Kommunikation
LTO: Mit welchem Ergebnis?
Seegmüller: Da muss ich Sie enttäuschen, es gab letztlich bei der Tagung keine Entscheidung von Rechtsfragen – etwa in dem Sinne von "So machen wir das jetzt". Der Austausch hat uns allen viele Denkanstöße gegeben. Bei den Untätigkeitsklagen etwa gibt es zwei Meinungen: Die einen erkennen die Verpflichtung des Bundesamts zur Bescheidung als Möglichkeit an. Die anderen meinen, der Gesetzgeber habe das nicht gewollt und letztlich als Sanktion für Untätigkeit der Behörden eine Entscheidung des Gerichts in der Sache gefordert, um den effektiven Rechtsschutz sicherzustellen. Dem kann man natürlich wiederum entgegen halten, dass das Gericht bei zu vielen Fällen auch nicht schneller als die Behörde entscheiden kann. Dann müssen die Leute einfach warten. Das ist nicht schön, aber wahrscheinlich die fatale Konsequenz wenn so viele – zu viele – Verfahren in kurzer Zeit bei Gerichten eingehen.
"Qualitätsmängel in neuen Asylbescheiden können wir noch gar nicht beurteilen"
LTO: Ein anderes Problem der Verwaltungsrichter soll in der mangelnden Qualität der Arbeit vom BAMF liegen. Sie waren zu Ihrer Zeit als Verwaltungsrichter in Berlin auch für Asylrecht zuständig - wie schätzen Sie die Arbeit des BAMF ein?
Seegmüller: Der Dauerbrenner, den wir als Richter seit Jahrzehnten mit dem Bundesamt haben, ist das Problem mit der Kommunikation mit dem Bundesamt und mit der fehlenden Anwesenheit von Vertretern des Bundesamtes in den mündlichen Verhandlungen. Auch Mitarbeiter, die in der Lage wären, Entscheidungen zu treffen, telefonisch zu erreichen, ist nicht erst seit der Flüchtlingskrise schwierig. Die mitunter schwierige Kommunikation mit dem Bundesamt erschwert dann oft die unstreitige Erledigung von Fällen. Wenn ein Gericht dann deswegen streitig entscheiden muss, kostet das zusätzliche Zeit für das Abfassen des Urteils, die man andernfalls in die Erledigung des nächsten Falles stecken könnte. Bessere Kommunikation wäre also eine relativ einfache Möglichkeit für die Verwaltungsgerichte, effizienter zu werden.
Die Qualität der Bescheide deutschlandweit zu beurteilen, ist schwierig. Natürlich ist in der massiven Einstellung von Entscheidern und der Aufstockung des gesamten Apparates ein Risiko von Qualitätsmängeln angelegt. Doch ob die Bescheide, die derzeit ergehen, wirklich so schlecht sind, wie manche behaupten, werden Verwaltungsgerichte derzeit möglicherweise gar nicht sagen können. Sie arbeiten derzeit nämlich nicht die Bescheide ab, die momentan eingehen, sondern die, die schon etwas älter sind. Momentan kann man also nur zur Qualität derjenigen Bescheide etwas sagen, die vor zwei bis drei Jahren erlassen worden sind. Fehler in aktuellen Bescheiden werden wir dagegen erst in einiger Zeit sehen.
"Verwaltungsgerichte an der Belastungsgrenze"
LTO: Wie stark das Ausländer- und Asylrecht die Verwaltungsgerichte beschäftigt, lässt sich an den Jahresberichten der Verwaltungsgerichte bundesweit ablesen. Danach sind an allen Verwaltungsgerichten die Klagen mit Bezug zum Asylrecht das absolut dominierende Thema. Haben Sie aus dem Forum, das sich mit dem Asyl- und Ausländerrecht befasst, vernehmen können, was die größten Probleme für die Verwaltungsrichter sind?
Seegmüller: Das größte Problem für die Verwaltungsgerichte ist definitiv die große Anzahl der Verfahren. Wir rechnen für dieses Jahr mit möglicherweise mehr als 200.000 Klagen aus dem Asylbereich. Der Anteil der Asylklagen bei den Verwaltungsgerichten liegt an einigen Gerichten derzeit bei etwa 80 Prozent der eingehenden Klagen, nachdem es in den Jahren vor 2015 regelmäßig nicht mehr als 30 Prozent waren. Die Verwaltungsgerichte stoßen schon aufgrund der nochmal massiv angestiegenen Zahl momentan völlig an ihre Belastungsgrenze.
Die Landesjustizverwaltungen haben einen starken Anstieg der Asylklagen durchaus vorhergesehen und sowohl Verwaltungsrichter als auch Geschäftsstellenbeamte eingestellt. Aber die Zahl reicht im Moment definitiv weder auf Ebene der Richter noch bei den Geschäftsstellen aus. In der Summe muss man aber sagen: Es ist zwar viel passiert. Das reicht aber nicht. Alle tun momentan zu wenig.
LTO: Im Sinne von: Die Justizverwaltungen stellen zu wenig Personal ein?
Seegmüller: Genau. Allerdings stoßen die Gerichte auch anderweitig an Grenzen. Es fehlen Räume, Computer und die gesamte Gerichtsinfrastruktur ist völlig überlastet. Und Geschäftsstellenbeamte findet man inzwischen fast noch schwerer als Richter. Auch zugewiesene Richterstellen können aber teilweise nicht besetzt werden. Das ist in den großen attraktiven Städten, wie Berlin und Hamburg weniger der Fall, auf dem flachen Land wird es dann aber schwierig. Dass man nicht genug Personal schnell genug findet, hängt natürlich auch damit zusammen, dass sowohl der Beruf des Richters als auch der Beruf des Geschäftsstellenbeamten über die Jahre hinweg systematisch finanziell unattraktiv gemacht worden ist. Das wirkt sich jetzt fatal aus.
3/3: "Das BVerwG kann nur über Rechtsfragen entscheiden"
LTO: Eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung, an der die Instanzrichter sich orientieren können, würde ja sicherlich helfen. Stattdessen müssen die Verwaltungsrichter jeden einzelnen Fall selbst lösen - und kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Auch bei den Oberverwaltungsgerichten und den Verwaltungsgerichtshöfen ging es bei den Entscheidungen zu Flüchtlingen aus Syrien uneinheitlich weiter. Keines der Gerichte hat die Berufung zugelassen. Wann kann das Bundesverwaltungsgericht endlich urteilen?
Seegmüller: Die Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe lassen die Berufung zu, wenn ein Zulassungsgrund vom Rechtsmittelführer ordnungsgemäß dargelegt wird und vorliegt. Die Zulassungsgründe hat der Gesetzgeber in § 124 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) aufgezählt. Natürlich kann in den Syrien-Fällen beispielsweise eine grundsätzliche Bedeutung versteckt sein, die eine Berufung erlauben würde. Eine solche Rechtsfrage muss dann aber von den Rechtsmittelführern halt auch prozessordnungsgemäß dargelegt werden. Das ist in Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger meiner Kenntnis nach aber auch schon geschehen.
Werden Zulassungsgründe nicht ordnungsgemäß dargelegt oder gibt es schlicht keine, kann möglichweise ein falsches Urteil auch einmal stehen bleiben. Das ist in der VwGO so angelegt: Geht es nur um die Beurteilung tatsächlicher Fragen in einem Einzelfall, wie etwa die Einschätzung der Lage einer einzelnen Person in Syrien, sind sowohl die Oberverwaltungsgerichte als auch das Bundesverwaltungsgericht schnell aus dem Spiel.
"Jeder Fall ist ein Einzelfall"
LTO: Es kommt also darauf an, wo die Flüchtlinge aus Syrien ankommen. Wer Glück hat, landet in Baden-Württemberg, wo der VGH kürzlich den Syrern vollen Flüchtlingsstatus zuerkannt hat?
Seegmüller: Wenn es divergierende Einschätzungen über die tatsächliche Lage in Syrien gibt, und diese sich dann in unterschiedlichen Entscheidungen der OVG und VGH abbildet, kann das passieren. Ich bin auch sehr gespannt auf die Gründe des VGH Baden-Württemberg, ob es eine Divergenz in den Obersätzen oder in der Bewertung der Tatsachenlage gibt. Das kann Rechtsfragen neu aufwerfen, das muss man dann sehen.
Man muss aber auch sehen, dass jeder Fall immer ein Einzelfall ist. Natürlich kann man Fälle kategorisieren nach Militärdienest, Syrien, Herkunft – aber wenn man die Fälle anschaut, sind sie doch alle immer ein bisschen anders. Da muss man genau schauen, an welcher Stelle die Entscheidung in Mannheim in die eine und an anderen OVGs in die andere Richtung kippt. Es kann durchaus sein, dass die Entscheidungen am Ende tatsächlich und rechtlich miteinander vereinbar sind.
"52 Gerichte erfinden ständig das Rad neu"
LTO: Von den Verwaltungsrichtern ist durchaus zu hören, dass sie sich wünschen würden, dass mal ein Fall bis zum BVerwG durchgeht.
Seegmüller: Völlig richtig. Wenn man eine Entscheidung aus Leipzig hätte, die eine bestimmte Frage der Tatsachenbewertung in einer bundesweit einheitlichen Art und Weise entscheiden würde, dann könnte das möglicherweise helfen. Aber das geht über den Zuschnitt des aktuellen Rechtsmittelrechts hinaus, dafür ist das BVerwG vom Gesetzgeber nicht gedacht. Man kann darüber nachdenken, ob man das anders haben will. Das Rechtsmittelrecht, so wie es jetzt in der VwGO steht, ist ja nicht am Berg Sinai aus dem Himmel herab gereicht worden und auf alle Zeiten unveränderlich. Aber nach momentanem Stand der Gesetzeslage ist es eben so.
Hinzu kommt aber im Asylrecht das spezielle Prozessrecht. Das schränkt die Möglichkeiten nach Rechtsvereinheitlichung noch viel massiver ein, als das ohnehin schon durch das allgemeine Verwaltungsprozessrecht geschieht. Das führt dann z.B. bei den Dublin-Verfahren zu einem völlig unbefriedigenden Ergebnis, wenn es um die Frage geht, ob systemische Mängel in einem Staat der Europäischen Union vorliegen. So erfinden 52 Verwaltungsgerichte in dieser Frage ständig das Rad neu.
LTO: Wie geht es denn den Bundesverwaltungsrichtern damit? Die LTO hat vernommen, dass auch Ihre Kollegen selbst die Fälle gerne entscheiden würden.
Seegmüller: Da müssen Sie eigentlich den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts fragen. Als Vorsitzender des Bundesverbands der Verwaltungsrichter (BDVR) kann ich lediglich sagen, ich hielte es für wünschenswert und kann mir gut vorstellen, dass es Kollegen gibt, die sich das auch wünschen. Einheitliche Rechtsprechung ist ein Wert an sich, insbesondere um zu verhindern, dass Flüchtlinge versuchen, ob der günstigen Prozessaussichten von einem Bundesland ins andere ziehen.
LTO: Herr Dr. Seegmüller, vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Robert Seegmüller ist Vorsitzender des Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR) und seit Oktober 2015 Richter am Bundesverwaltungsgericht. Zuvor war er u.a. 15 Jahre als Richter am Verwaltungsgericht Berlin tätig, seine Kammer war für unter anderem für Ausländer- und Asylrecht zuständig.
Tanja Podolski, Bundesverwaltungsrichter zum Asylrecht: "52 Verwaltungsgerichte müssen ständig das Rad neu erfinden" . In: Legal Tribune Online, 22.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23000/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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