Der 72. DJT in Leipzig widmet sich auch dem Thema Migration und der Frage, wie das Recht Zuwanderung und Integration zu steuern vermag. Über ein Einwanderungsgesetz sprachen wir im Vorfeld mit der Richterin des BVerfG, Christine Langenfeld.
LTO: Gibt es eine rechtliche Verantwortung für die Integration von Menschen?
Prof. Dr. Christine Langenfeld: Ja, die gibt es. Sie ergibt sich aus einer Zusammenschau der Freiheits- und Gleichheitsrechte des Grundgesetzes und dem Demokratie- und Sozialstaatsprinzip. Jedem, der in Deutschland über ein Bleiberecht verfügt, ob als Flüchtling, Arbeitsmigrant oder nachziehendes Familienmitglied, ist die Möglichkeit und Perspektive zu eröffnen, Teil der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu werden. Das Gelingen von Integration ist nicht nur entscheidend für den Einzelnen, sondern auch für die gesamtgesellschaftliche Integration und den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Dieser bedingt, dass wir uns – diejenigen, die hier seit jeher leben und die Zuwanderer – über die Grundlagen unseres Zusammenlebens, wie sie insbesondere im Grundgesetz zum Ausdruck kommen, einig sind und dafür auch einstehen. Die staatlichen Institutionen sind verpflichtet, für den Erhalt und die Festigung dieses Konsenses einzutreten. Der Staat allein kann es freilich nicht richten. Hier sind alle Teile der Zivilgesellschaft gefordert.
Wie würde sich ein Einwanderungsgesetz mit Blick auf die Integration auswirken?
Ein Einwanderungsgesetz würde im Bereich der Integration zunächst keine unmittelbar lenkende Rolle spielen. Ein solches Gesetz würde allerdings den Aufenthaltsstatus und Fragen der Verfestigung des Aufenthalts für die Zuwanderer regeln bis hin zur Zuerkennung eines Daueraufenthaltsrechts. Dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf den Integrationsprozess.
Daneben könnte ein Einwanderungsgesetz einen psychologischen Effekt haben, weil das Gesetz markieren würde, dass sich Deutschland als Einwanderungsland versteht. Das hätte eine Signalwirkung sowohl in die Länder hinein, aus denen potenziell Einwanderer kommen, aber auch für die deutsche Gesellschaft, weil das Einwanderungsinteresse deutlich artikuliert werden würde. Dies könnte wiederum eine Debatte über das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft anstoßen, in der darüber diskutiert wird, was die gemeinsamen Grundlagen unseres Zusammenlebens in Deutschland sind, was verhandelbar und was eben nicht verhandelbar ist.
"Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland"
Welche Rolle spielt die Zuwanderung von Menschen aus der EU?
Es gibt über 500 Millionen Menschen, die Freizügigkeit innerhalb der EU genießen. Sie haben das Recht, in einen anderen EU-Staat einzuwandern und sich dort niederzulassen. Voraussetzung dafür ist allerdings die Fähigkeit für sich selber aufzukommen bzw. das Vorhandensein einer Verbindung zum Arbeitsmarkt des EU-Staates, in dem man sich niederlässt. Ein Einwanderungsgesetz würde diese Freizügigkeit nicht berühren.
Das unionsrechtlich determinierte Freizügigkeitsrecht unterscheidet Deutschland und die anderen EU-Staaten fundamental von traditionellen Einwanderungsländern wie den USA oder Kanada. Etwa ein Drittel der Zuwanderer in Deutschland sind EU-Bürger, die Tendenz ist wieder steigend. Seit der Einführung der EU-Freizügigkeit ist Deutschland faktisch ein Einwanderungsland. Dies ist aber noch nicht allgemein in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Die EU-Freizügigkeit wird nicht mit dem Phänomen der Einwanderung assoziiert.
Wie wirken sich die verschiedenen Ziele, welche die Parteien mit einem Einwanderungsgesetz verfolgen, auf die Illusionen bezüglich eines solchen Regelwerks aus?
Das ist eine ganz zentrale Frage. Das Einwanderungsgesetz wird teilweise als geradezu magisches Instrument zur Lösung aller Steuerungsprobleme gesehen, die Deutschland mit der Migration hat. Man erhofft sich erstens, dass mehr Fachkräfte nach Deutschland kommen und dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel abhelfen und zweitens eine Entlastung des Asylsystems von denjenigen Migranten, die aus schierer Armut den Weg nach Deutschland suchen und hierfür den Kanal des Asylrechts nutzen.
Wenn man ausgehend von diesen Hoffnungen Erwartungen an ein Einwanderungsgesetz formuliert, sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass Deutschland bereits über ein umfassendes Arbeitsmigrationsrecht für qualifizierte Fachkräfte verfügt. Die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) hat das deutsche Einwanderungsrecht für qualifizierte Fachkräfte aus Drittstaaten als eines der Liberalsten der Welt bezeichnet. Voraussetzung für die Einwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt ist das Vorhandensein einer anerkannten Qualifikation und ein Arbeitsplatz. In der Regel dürften gerade jene Menschen, die nach Deutschland kommen, um ihrer verzweifelten wirtschaftlichen Situation zu entrinnen, sich nicht für eine Einwanderung als Fachkraft qualifizieren. Ein Einwanderungsgesetz, das sich auf die gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften konzentriert, würde hier also keine nachhaltige Entlastung bringen.
Einwanderungsgesetz "auf dem Bierdeckel" unrealistisch
Inwiefern müsste denn das bestehende Arbeitsmigrationsrecht reformiert werden, damit es für Einwanderer attraktiver wäre und die Hoffnungen an das Gesetz erfüllt würden?
Zunächst würde ein Einwanderungsgesetz die bereits bestehenden Regelungen zu Arbeits- und Bildungsmigration zusammenfassen. Sinnvoll wäre aus meiner Sicht auch, für Arbeitskräfte insbesondere aus dem nicht akademischen Bereich die Zuwanderung zu erleichtern, denn hier scheinen mir die bestehenden Regelungen zu restriktiv zu sein. Zentral wäre auch, die Frage der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen in einer für die Praxis handhabbaren Weise zu regeln. Die bislang sehr hohen Anforderungen wirken als Bremse für die Fachkräftezuwanderung.
Aber über eines sollte man sich im Klaren sein: Einfacher und transparenter wird ein Einwanderungsgesetz nicht, weil sich zielgenaue Gesetze mit einem differenzierten Steuerungsanspruch nun einmal durch Präzision und Detailreichtum auszeichnen. Dazu kommen komplizierte europäische Vorgaben, etwa aus der so genannten "Blue-Card-Richtlinie". Den allgemeinen Wunsch nach einem Einwanderungsgesetz "auf dem Bierdeckel" wird der Gesetzgeber nicht erfüllen können.
Kanada gilt als Vorbild für ein funktionierendes Einwanderungsland. Was können wir von Kanada lernen?
Zunächst einmal hat Kanada ein sehr kompliziertes und selektives Einwanderungsrecht. Trotzdem ist Kanada eines der Hauptziele für qualifizierte Einwanderer und in diesem Bereich auch sehr erfolgreich. Die Kanadier sind überdies ständig damit beschäftigt, ihre Einwanderungsgesetzgebung zu ändern, was die Transparenz des Ganzen nicht gerade erhöht. Sie bezeichnen ihre Einwanderungssteuerung mit Stolz als "lernendes System".
Aber hinsichtlich der Steuerungsinstrumente für die Einwanderung haben sich Kanada und Deutschland inhaltlich stark angenähert. Deutschland verlangt für die Zuwanderung nicht nur eine bestimmte Qualifikation, sondern auch einen Arbeitsplatz. Auch Kanada hat sein ursprünglich vollständig humankapitalorientiertes System, das allein an die Eigenschaften der potentiellen Zuwanderer wie Qualifikation, Gesundheit, Alter etc. anknüpft, nach negativen Erfahrungen sehr viel stärker auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Ich halte diesen Grundansatz für richtig, für Kanada und Deutschland. Die Systeme der beiden Staaten weisen damit sehr viel mehr Ähnlichkeiten auf, als gemeinhin angenommen wird. Der immer noch populäre Rückgriff auf den Begriff des Punktesystems, um die Gegensätzlichkeit der Systeme zu verdeutlichen, ist heute überholt.
Inwiefern ist ein gutes Einwanderungsgesetz ausschlaggebend für die Fachkräftezuwanderung?
Recht ist auf jeden Fall nicht allein entscheidend für das Migrationsgeschehen. Recht ist zwar wichtig, besonders für ein Land, das sich jetzt erst aufmacht, sich als Einwanderungsland international zu positionieren, aber es ist nur einer von mehreren Faktoren. Für die Einwanderungsentscheidung des hochqualifizierten Ingenieurs aus Indien sind weitere Gesichtspunkte wie etwa die Sprache, das Wetter, das Gehalt, die Steuerlast, die Bildungsmöglichkeiten für die Kinder und der Ruf eines Landes ausschlaggebend. Sicher könnte Deutschland mehr qualifizierte Einwanderer aus Drittstaaten dadurch gewinnen, dass es Englisch als Verkehrssprache einführte, eine freilich absurde Vorstellung. Öffentlichkeit und Politik sollten deswegen nicht zu hohe Erwartungen an ein Einwanderungsgesetz als Instrument zur Steigerung der qualifizierten Einwanderung und zur Steuerung des Migrationsgeschehens insgesamt wecken.
Das Interview führte Charlott Resske. Als studentische Mitarbeiterin arbeitet sie in der Ortgeschäftsstelle des 72. Deutschen Juristentages in Leipzig.
Interview mit Richterin des BVerfG, Prof. Christine Langenfeld: . In: Legal Tribune Online, 07.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29595 (abgerufen am: 05.12.2024 )
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