Drogen hinter Gittern, Belästigungsvorwürfe, immer mehr Gestrandete und nie genug Personal. Für die Juristin Anke Stein ist die Arbeit mit Kollegen und Gefangenen an einem gemeinsamen Ziel dennoch ein guter Grund, morgens aufzustehen.
LTO: Nach knapp fünf Jahren als Leiterin der JVA Heidering, einer der neuesten und modernsten Vollzugsanstalten Europas, haben Sie seit Anfang September nun die Leitung der JVA Moabit übernommen, einem Gefängnis, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. Soll man Ihnen eher gratulieren oder Sie bemitleiden?
Stein: Ich wollte ja nach Moabit. Ich kannte die JVA vorher, weil ich bereits 1999 und 2000 hier eine Zeit lang tätig war. Es war also eine sehr bewusste Entscheidung.
LTO: Wenn Sie auf Ihre Zeit in Heidering zurückblicken – worauf sind Sie besonders stolz?
Stein: Als Heidering 2013 an den Start gegangen ist, hatten wir kaum Personal. Das heißt, wir haben Kolleginnen und Kollegen von anderen Anstalten gewonnen, die alle freiwillig nach Heidering gekommen sind. Wir haben dann im wahrsten Sinne des Wortes auf der grünen Wiese in Brandenburg gemeinsam eine Justizvollzugsanstalt aufgebaut. Nicht als Gebäude, das war ja 2013 fertig, aber als funktionierende Organisation.
Dass Heidering innerhalb kürzester Zeit auf diese Weise eine Anstalt mit eigenem Gesicht geworden ist und sich die Kolleginnen und Kollegen als "Heideringer" verstanden haben, darauf bin ich schon stolz.
LTO: Und was haben Sie nicht mehr geschafft?
Stein: Ich hätte mir gewünscht, dass es während meiner Zeit dort zumindest einen Tag gegeben hätte, an dem ich mit der Personalausstattung hätte arbeiten können, die für ein wirkliches Funktionieren der Anstalt notwendig gewesen wäre.
Von der grünen Wiese in die Stadt
LTO: Zu Ihrer neuen Position: Was ist in Moabit anders als in Heidering?
Stein: Zunächst einmal werde ich mich hier mit den Besonderheiten der Untersuchungshaft beschäftigen. Das ist etwas Neues für mich, Heidering war ja eine reine Strafhaftanstalt. Und es ist auch etwas ganz anderes, eine Anstalt mitten in der Stadt zu leiten – an so prominenter Stelle und manchmal auch mit "prominenten" Gefangenen. Das ist spannend, aber auch herausfordernd.
LTO: Was werden Sie als erstes angehen?
Stein: Auch wenn ich jetzt wie ein Politiker rede: Geben Sie mir erst mal hundert Tage. Ich muss zunächst die JVA Moabit verstehen, bevor ich wirklich etwas angehen kann.
Wichtig ist mir aber auf jeden Fall, dass die Arbeitsbedingungen in der JVA mindestens so bleiben, wie sie sind – sich also nicht verschlechtern – und dass sich die Unterbringung der Gefangenen verbessert. Beides bedingt sich gegenseitig: Wenn die Bediensteten nur unter Stress arbeiten können, erzeugt das auch Stress bei den Gefangenen. Und wenn Unterbringung, Freizeit und Arbeit so sind, dass sie sich negativ auf die Gefangenen auswirken, überträgt sich das wiederum auf die Arbeit der Beamtinnen und Beamten. Und beides will ich nicht.
Gestrandet in Berlin, ohne Deutschkenntnisse
LTO: Lassen Sie uns über die JVA Moabit reden: Welche Menschen sitzen hier ein?
Stein: Die JVA Moabit hat einen hohen Anteil Untersuchungsgefangene. Von derzeit 930 Gefangenen befinden sich über 700 in Untersuchungshaft. Deshalb sehen wir hier auch alles: Diejenigen, die auf der ersten Seite der Tageszeitung stehen und solche, die beispielsweise aufgrund ihrer Obdachlosigkeit in Untersuchungshaft sind. Das heißt, wir haben hier die "kleinen Lichter", aber auch die "großen Tiere".
LTO: Die Stadt Berlin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert – merkt man das auch in einem Gefängnis?
Stein: Das merkt man ganz unmittelbar. Wenn sich eine Gesellschaft verändert, wenn sich das Umfeld verändert, dann verändert sich auch die Klientel in einem Gefängnis. Der Anteil Nichtdeutscher ist in den Berliner Gefängnissen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen und er steigt weiter. Es gibt andere kulturelle Hintergründe, mit denen wir auch im Vollzug umzugehen haben. Außerdem gibt es eine stärkere Drogenproblematik – also mehr Gefangene, die bereits mit einer Abhängigkeit zu uns kommen.
Berlin ist ja eine wachsende Stadt. Und es gelingt nicht jedem, der herkommt, auch wirklich Fuß zu fassen. Deshalb finden sich unter den Gefangenen auch mehr und mehr "Gestrandete", die aus Betäubungsmittelabhängigkeit, Obdachlosigkeit oder anderen Problemlagen Straftaten begangen haben. Da das zum Teil Menschen sind, die keine Chance hatten, Deutsch zu lernen, stellt uns das teilweise vor erhebliche Verständigungsprobleme.
2/2: Zittern bei jedem Neuzugang
LTO: Laut den letzten Belegungszahlen ist die JVA Moabit zu 100 Prozent belegt. Das heißt, es gibt keine Haftplätze mehr. Wie geht man damit um? Müssen Sie bei jedem Neuzugang zittern?
Stein: Da wir ja in Berlin mehrere Haftanstalten haben, können wir uns im Vollzug gottseidank kurzfristig gegenseitig helfen. Aber es stimmt, die Gefahr der Überbelegung schwebt immer über uns. Es ist ein wirklich gutes "Verlegungsmanagement" erforderlich, um das Tag für Tag zu handeln. Wie die Entwicklung hier künftig aussehen wird, kann ich nicht prognostizieren. Es könnte aber sein, dass die U-Haft-Kapazitäten in der JVA Moabit langfristig tatsächlich nicht mehr ausreichen.
LTO: Die Senatsverwaltung hat den Sanierungsbedarf der JVA Moabit in Millionenhöhe beziffert. Was ist am dringendsten notwendig, was muss als erstes angepackt werden?
Stein: Das hört sich natürlich erstmal viel an, ist aber, wenn man die Größe und das Alter der Anstalt betrachtet, normal. Auch hier muss ich mir erst mal ein Bild machen, was vordringlich gemacht werden muss und was man eher mittelfristig umsetzen sollte.
"Diskriminierungen akzeptieren wir nicht"
LTO: In den vergangenen Monaten wurde in der Berliner Presse mehrfach über verbale Übergriffe auf JVA-Beamte – insbesondere auf weibliche Bedienstete – berichtet...
Stein: Ja, das kommt vor. Wir sehen in einer Zeit, von der wir eigentlich dachten, die Emanzipation der Frau sei weit fortgeschritten, immer wieder Diskriminierung. Natürlich nicht nur im Gefängnis, aber eben auch dort. Das betrifft nicht nur die weiblichen Beamten, auch unter den Gefangenen kommt es zu Diskriminierungen – wegen der Herkunft, der Religion, des Aussehens oder was auch immer.
Um es ganz klar zu sagen: Wir akzeptieren das nicht. Wir erklären den Gefangenen, warum wir das nicht hinnehmen und wenn unsere Erklärungen nicht fruchten, dann wird das sanktioniert. Niemand muss sich diskriminieren lassen – auch nicht im Gefängnis. Wenn es um Übergriffe gegen Bedienstete geht, sind wir ohnehin schon als Arbeitgeber verpflichtet, schützend einzugreifen.
LTO: Haben solche Diskriminierungen zugenommen?
Stein: Sie sind anders geworden. Ich erlebe mehr Sprachlosigkeit im Gefängnis aufgrund fehlender Verständigungsmöglichkeiten. Übergriffe und Anfeindungen kommen deshalb häufig überraschender, sind weniger berechenbar als im Rahmen einer verbalen Kommunikation. Wir müssen deshalb daran arbeiten, dass wir eine Sprache sprechen, aber auch, dass wir als Bedienstete ein besseres Kulturverständnis entwickeln und den Gefangenen wiederum unser Kulturverständnis vermitteln.
Drogen: "Wir werden niemals zu 100 Prozent gewinnen"
LTO: Ein weiteres schwieriges Thema: Drogen hinter Gittern.
Stein: Ich kann nicht einschätzen, ob der Drogenkonsum im Gefängnis zugenommen hat. Aber Fakt ist, dass wir häufiger Betäubungsmittel finden. Und es gibt mehr Gefangene, bei denen wir schon bei der Aufnahme eine massive Drogenproblematik feststellen.
Im Gefängnis ist es wie im "richtigen Leben": Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Hier lässt sich mit Drogen viel mehr Geld verdienen als "draußen". Das wird auch nicht verschwinden, damit müssen wir umgehen. Wir werden immer Drogen im Gefängnis haben, ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch nur ein drogenfreies Gefängnis in Deutschland gibt.
LTO: Ist das eine Kapitulation?
Stein: Nein, das ist keine Kapitulation. Man darf das Problem aber nicht wegreden. Wenn ich sage, dass wir mehr finden, heißt das ja auch, dass wir nicht aufgeben. Wir tun alles, was wir können. Wir werden aber niemals zu 100 Prozent gewinnen.
Resozialisierung ist möglich
LTO: Sie haben jetzt 19 Jahre Arbeitserfahrung im Strafvollzug – lassen Sie uns deshalb etwas allgemeiner werden: Ein ehemaliger Kollege von Ihnen, der frühere Leiter der JVA Zeithain in Sachsen, Thomas Galli, meint, dass Gefängnisse für die Resozialisierung grundsätzlich ungeeignet sind. Wie schätzen Sie die Resozialisierungsmöglichkeiten im Gefängnis ein?
Stein: Resozialisierung hört nicht im Gefängnis auf. Natürlich wird niemand alleine durch einen Gefängnisaufenthalt resozialisiert. Wir haben in Berlin etwa ein Drittel der Haftplätze für Männer im offenen Vollzug – über 900. Das ist viel. Der Vollzug kann nur dann resozialisierend wirken, wenn er den Gefangenen die Möglichkeiten nicht nur auf die Strafhaft begrenzt. Jene, die beispielsweise wegen Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht für einen offenen Vollzug geeignet sind, müssen in der geschlossenen Haft daraufhin entwickelt werden. Das geschieht sehr oft und es gelingt auch sehr oft: Menschen gehen aus dem geschlossenen in den offenen Vollzug, nehmen ein Arbeitsverhältnis auf, gehen anders mit ihren Familien um. Und haben so eine bessere Startposition für einen Weg in die Freiheit, in eine Freiheit ohne Straftaten.
Hier leistet meiner Ansicht nach Gefängnis einen ganz wichtigen Beitrag. Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Kein Gefängnis wird jeden Gefangenen resozialisieren. Jeder trifft seine Entscheidungen selbst, wir können nur unterstützen und beraten. Wenn jemand seine Strafe "absitzen" will, dann wird ihm das auch gelingen.
Mehr Personal
LTO: Sehen Sie einen Reformbedarf im Strafvollzugsrecht?
Stein: Berlin hat ja erst kürzlich ein neues Strafvollzugsgesetz verabschiedet, das jetzt seit etwa einem Jahr in Kraft ist. Da ist vieles drin, was wirklich gut ist. Es zeigt einen sehr guten, individuellen und gefangenenbezogenen Weg auf.
Ich finde nicht, dass sich im Vollzugsrecht etwas ändern muss. Ich möchte aber das ausfüllen können, was im Strafvollzugs- und im Untersuchungshaftgesetz steht. Dazu brauche ich allerdings die erforderlichen Ressourcen. Und das heißt insbesondere die erforderlichen personellen Ressourcen.
LTO: Wissen Sie noch, weshalb Sie sich vor 19 Jahren entschieden haben, nicht in einem der klassischen juristischen Berufe, sondern im Strafvollzug zu arbeiten?
Stein: Das weiß ich noch sehr gut. Ich habe eher zufällig angefangen, Jura zu studieren. Mit der Wahlfachgruppe Jugendstrafrecht, Strafvollzug und Kriminologie kam für mich die Erkenntnis, was Jura und was juristische Tätigkeit sein kann.
Ich war dann im Referendariat im Männervollzug, hier in Berlin in der JVA Plötzensee. Nach dem zweiten Staatsexamen habe ich sofort bei der Senatsverwaltung für Justiz angefangen. Und es ging mir am ersten Tag so, wie es mir heute noch geht: Es ist eine Arbeit, die mir einfach Freude macht. Das mag etwas komisch klingen im Zusammenhang mit einem Gefängnis; aber es ist diese Interaktion mit Menschen, die mich immer wieder reizt. Die verschiedensten Berufsgruppen arbeiten mit den Gefangenen an einem gemeinsamen Ziel. Das ist eine gute Arbeit, dafür stehe ich jeden Morgen auf.
Anke Stein ist Volljuristin und seit 19 Jahren im Strafvollzug tätig. Nach 5 Jahren als Leiterin der JVA Heidering steht sie seit Anfang September 2017 der JVA Moabit vor.
Das Interview führte Peggy Fiebig.
Interview mit der neuen Leiterin der JVA Moabit: "Kein Gefängnis wird jeden resozialisieren" . In: Legal Tribune Online, 19.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24581/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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