Die öffentliche Diskussion und nicht zuletzt der Wahlkampf drehen sich derzeit um die Befugnisse von Strafverfolgern. Doch die Wiedereingliederung von Tätern ist ebenso wichtig für die innere Sicherheit, meint Hauke Brettel.
LTO: Herr Prof. Dr. Dr. Brettel, können Sie in wenigen Worten erläutern, was die Zwecke des deutschen Strafvollzugs sind?
Hauke Brettel: Zum einen geht es darum, die Sicherheit zu gewährleisten, das heißt zum Beispiel einen Ausbruch und eine erneute Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern. Das oberste Ziel aber, das auch sämtliche Landesvollzugsgesetze zu Beginn benennen, ist die Resozialisierung. Dies bedeutet, den Gefangenen dazu zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.
LTO: Welche Rolle spielt die Resozialisierung im Vollzug?
Brettel: Sie ist das übergeordnete Ziel, sozusagen eine Programmvorgabe für den gesamten Vollzug. Man kann sagen, sie ist die Sonne, die das ganze Handeln im Vollzug überstrahlen und ihm die Richtung geben soll.
LTO: Welche Angebote macht der Strafvollzug den Gefangenen, speziell denjenigen, die längere Haftstrafen verbüßen, um sich auf das spätere Leben in Freiheit vorzubereiten?
Brettel: Das Spektrum dieser Angebote, die im Strafvollzug Behandlungsmaßnahmen genannt werden, ist sehr breit. Es beginnt schon bei der Unterbringung selbst, die beispielsweise zum Erwerb sozialer Kompetenzen in einer Wohngruppe erfolgen kann. Wenn möglich soll im Vollzug alles danach ausgerichtet werden, dass es dem späteren Leben in Freiheit dient.
Grundsätzlich kann man sich als Behandlungsmaßnahmen alles Mögliche vorstellen, etwa Ausgang, Arbeit oder therapeutische Behandlung. Der Gesetzgeber hält sich mit Vorgaben diesbezüglich sehr zurück und gibt stattdessen nur einen Rahmen vor, um den Anstalten größtmögliche Freiheit zu belassen. Die Vollzugsbediensteten müssen diesen breiten Rahmen dann im Einzelnen ausfüllen. Dabei gibt es regional große Unterschiede; manche Anstalten verfügen über ein deutlich größeres Angebot als andere.
"Teilweise Mängel beim Behandlungsangebot"
LTO: Hängt es demnach nicht zuletzt vom Zufall der jeweiligen Unterbringung ab, welche Be-handlungsangebote einem Insassen gemacht werden?
Brettel: Wo jemand untergebracht ist, kann durchaus Einfluss haben – nicht zuletzt weil teilweise auch Mängellagen bei den Behandlungsangeboten bestehen.
LTO: Gibt es gesicherte Erkenntnisse über den Zuspruch für diese Angebote und den Erfolg, den sie haben?
Brettel: Auch hier gilt die regionale Verschiedenheit. Angebote und ihr Zuspruch unter den Gefan-genen werden nicht zentral erfasst. Somit gibt es keine einheitliche Statistik, die über die Gesamtsi-tuation Auskunft geben könnte.
In der Praxis ist es auch manchmal schwierig zu ermitteln, was in einzelnen Anstalten angeboten wird, da dies zum Beispiel aus personellen Gründen mitunter schwankt. Gerade weil die Personaldecke in den Anstalten oftmals sehr dünn ist, fallen zuweilen Angebote aus.
LTO: Demnach lässt sich auch der Erfolg der Maßnahmen nicht überprüfen?
Brettel: Das ist ein altes, seit langem diskutiertes Thema. Es bereitet erhebliche Schwierigkeiten, den Maßnahmenerfolg überhaupt zu messen. Auch hierzu werden keine einheitlichen Daten erhoben und es gibt viele individuelle Einflussfaktoren wie etwa private Probleme, die sich nur schwer messen lassen.
Somit steht die Erfolgsmessung seit Jahrzehnten vor großen Herausforderungen, obwohl sie eine drängende Frage ist. Bis in die 1970er Jahre hinein war man häufig der Meinung, dass solche Be-handlungsmaßnahmen überhaupt nichts bringen würden; "nothing works" hieß das damals häufig gebrauchte Schlagwort. Davon geht man heute mehrheitlich nicht aus und ist sich inzwischen vor allem darüber im Klaren, dass Vollzug auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichtet werden muss.
2/2: "Der Gesetzgeber ist sich selbst untreu geworden"
LTO: Ein aktueller Beitrag der Juniorprofessorin Dr. Minou Banafsche auf juwiss.de hat die Diskussion um den fehlenden Rentenversicherungsschutz von Strafgefangenen wieder angestoßen. Nun ist dies eine sehr spezielle Materie. Kann man sie aber möglicherweise als Symbol für einen Mangel an Unterstützung bei der Resozialisierung verstehen?
Brettel: Auch diese Debatte gibt es schon lange. Die Motivation der Gefangenen, in der Anstalt zu arbeiten, ist zunächst eher von anderen Faktoren als dem Rentenversicherungsschutz abhängig. Bei-spielsweise spielt hier die Hoffnung auf eine frühere Entlassung oder eine Verbesserung der finan-ziellen Situation eine Rolle. Langfristig aber ist der fehlende Rentenversicherungsschutz durchaus problematisch. Denn solche Schutzlücken verschlechtern die Teilhabechancen im späteren Leben in Freiheit und sind geeignet, problematische Spätfolgen für die Gefangenen zu bewirken. Es gab auch immer wieder Forderungen, dies zu ändern - bisher blieben sie allerdings ungehört. Der Gesetzgeber ist sich in dieser Hinsicht selbst untreu geworden, da er im (früher geltenden bundeseinheitlichen, d. Red.) Strafvollzugsgesetz Fristen für die Regelung sozialversicherungsrechtlicher Fragen gesetzt hatte, die er dann verstreichen ließ.
LTO: Jüngst ist ein Häftling damit gescheitert, gerichtlich eine Ausbildungsbeihilfe für sein Jurastudium zu erreichen. Auch wenn es in diesem Fall schlicht an der fehlenden Genehmigung scheiterte: Gibt es ausreichend Angebote und Hilfestellung für Gefangene, die sich weiterbilden wollen?
Brettel: Auch hier gibt es ein breites Spektrum an Angeboten wie Alphabetisierung oder die Mög-lichkeit, Schulabschlüsse oder sogar Hochschulabschlüsse zu erwerben. Aber auch in diesem Bereich fehlt es an Einheitlichkeit aufgrund regionaler Unterschiede. Seit der Einführung der Lan-desstrafvollzugsgesetze ab 2006 existieren je nach Bundesland zudem unterschiedliche Vorschriften für den Vollzug.
LTO: Wünschen Sie sich bundeseinheitliche Regeln zurück?
Brettel: Grundsätzlich fände ich das besser, etwa weil damit manche Verschiedenheiten in der Vollzugssituation verschwinden würden. Aber ich glaube nicht, dass sich das so schnell noch einmal ändern wird. Die Landesgesetze sind ja erst seit ein paar Jahren in Kraft.
"Wegsperren schafft neue Probleme"
LTO: Das Thema Strafvollzug spielt in der aktuellen politischen Diskussion, auch im Wahlkampf, praktisch keine Rolle - ganz anders als die Befugnisse von Strafverfolgern. Auch wenn der Vollzug vornehmlich in den Kompetenzbereich der Länder fällt: Macht sich die Politik allgemein zu wenig Gedanken darüber, wie mit Inhaftierten umzugehen ist, um so womöglich neue Taten zu verhindern?
Brettel: Wir wären gut beraten, wenn wir dem Thema mehr Aufmerksamkeit widmen würden. Die Aufforderung zur Wiedereingliederung ist schließlich durch das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich verankert, worauf insbesondere das Bundesverfassungsgericht Bezug nimmt. Zudem führt das bloße Wegsperren von Straftätern zwar vielleicht zu einem vorübergehenden Gefühl der Sicherheit. Langfristig aber schafft man damit neue Probleme. Resozialisierung bedeutet somit auch Opferschutz.
Als das Strafvollzugsgesetz eingeführt wurde, gab es ein starkes Bewusstsein für die Bedürfnisse der Täter, aber auch der Opfer. Gerade bei einem Anstieg der Gefangenenzahlen ist es zum Beispiel nötig, über eine Aufstockung von personellen und finanziellen Ressourcen nachzudenken, nicht zuletzt weil eine Überfüllung von Justizvollzugsanstalten zu großen Problemen im Strafvollzug führt.
LTO: Wo müsste der Gesetzgeber Ihrer Meinung nach nachbessern, um dem Vollzugsziel der Re-sozialisierung zu genügen?
Brettel: Die Verfassung gebietet nicht nur die Wiedereingliederung von Straftätern, sondern auch, sie normalen Bürgern rechtlich gleichzustellen, soweit nicht vollzugsimmanente Rechtsbeschränkungen notwendig sind. Überall dort, wo er diesem Gebot nicht gerecht wird, sollte der Gesetzgeber folglich nachbessern. Und die Gleichstellung ist nicht in letzter Konsequenz verwirklicht, wie etwa das Beispiel des Sozialversicherungsschutzes zeigt.
Prof. Dr. Dr. Hauke Brettel ist Mediziner und Jurist und Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Strafrecht und Medizinrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Die Fragen stellte Maximilian Amos.
Maximilian Amos, Interview mit Mainzer Kriminologen: "Resozialisierung ist Opferschutz" . In: Legal Tribune Online, 30.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24199/ (abgerufen am: 30.09.2023 )
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