Die Kieler Professorin Monika Frommel hat im LTO-Interview zu Forderungen nach einer Reform des Sexualstrafrechts Rechtsansichten von BGH-Richter und StGB-Kommentator Thomas Fischer kritisiert. Der meint, Frommel irre in fast jeder Hinsicht. Im Gespräch mit LTO wehrt er sich auch gegen den Vorwurf, unermüdlich zu polemisieren.
LTO: Herr Professor Fischer, was stört Sie so sehr an den Aussagen von Frau Frommel im LTO-Interview zur Frage nach der Notwendigkeit einer Reform des Sexualstrafrechts ? Sind Sie nicht sogar einer Meinung mit ihr, wenn sie es ablehnt, die Strafbarkeit jeglicher sexuellen Handlung "gegen den Wille" einer Person auszudehnen?
Fischer: Völlig richtig. Frau Frommel plädiert für eine Beibehaltung der – angeblich von ihr seit jeher vertretenen – Regelung, wonach das Tatbestandsmerkmal "Ausnutzen einer schutzlosen Lage" in § 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) ausreichend und erforderlich sei, um "Beweisschwierigkeiten" zu vermeiden, die auftreten würden, wenn man ausschließlich auf die inneren, nicht geäußerten Gedanken der geschädigten Person abstellen würde.
Dazu kann man nur sagen: Da hat sie Recht. Wie man nach Monaten oder Jahren beweisen soll, was jemand in einer Situation gedacht hat, die sich durch nichts von alltäglichen Situationen unterschied, ist ein Rätsel. Diesen verfassungsrechtlichen Einwand habe ich schon vor langer Zeit formuliert - gegen entsprechende Vorschläge von Frau Frommel und anderen.
Insofern irritiert mich Frau Professor Frommels Beschreibung ihrer eigenen Position. Sie selbst hat lange das Gegenteil dessen vertreten, was sie nun als ihre Erkenntnis ausgibt, und auch in ihrer Kommentierung im "Nomos Kommentar" wiederholt sie an vielen Stellen diese Ansicht.
"Ausnutzen" ist keine konkrete Tathandlung
LTO: Sie halten also – wie auch Frau Frommel - das Tatbestandsmerkmal des "Ausnutzens einer schutzlosen Lage" für ausreichend, um Fälle sexuell motivierter Gewalt zu erfassen? Frau Frommel wirft Ihnen vor, Sie würden seit dem Jahr 2000 "unermüdlich gegen die Ausnutzungsvariante polemisieren".
Fischer: Frau Professor Frommels Darstellung der geltenden Rechtslage ist nicht zutreffend. Dabei ist diese eigentlich einfach: Das Gesetz unterscheidet – zu Recht – zwischen Missbrauch und Nötigung.
Der sexuelle Missbrauch ist strafbar, wenn er Personen betrifft, die besonders schutzwürdig sind wie zum Beispiel Kinder. Von erwachsenen Menschen erwartet der Gesetzgeber hingegen in der Regel, dass sie ihr Sexualverhalten einigermaßen unter Kontrolle haben, also auch einmal "Nein" sagen können.
Dieses "Nein" kann eine andere Person nur dann überwinden, wenn sie Zwang, also irgendein Nötigungsmittel anwendet. Nötigungsmittel sind Gewalt, Drohung und seit 1997 auch das Ausnutzen einer schutzlosen Lage.
Nun ist "ausnutzen" aber offensichtlich keine konkrete Tathandlung. Niemand kann sagen, was "ausnutzen" ist, wenn er nicht weiß, was der Ausnutzende und der Auszunutzende denken, wollen, verstehen und tun.
"Aus gutem Grund nichts, was dem Diebstahl entspricht"
LTO: Inwiefern?
Fischer: Aus dem Begriff "Ausnutzen" ergibt sich doch nicht, was der Täter nun eigentlich tun muss, um den Tatbestand zu erfüllen. Wie zwingt er beispielsweise eine Person, die das nicht will, dazu, eine sexuelle Handlung an ihm auszuführen? Durch Gewalt oder Drohung. Aber was muss er tun, um sie "durch Ausnutzen" dazu zu zwingen? Vielleicht durch Sprechen oder Zeichengeben.
Wir sprechen hier nicht vom "Missbrauch", sondern von der Nötigung; das sind unterschiedliche Tatbestände. Das bloße Ausnutzen einer Situation kann ein "Missbrauch" sein, ist aber für sich allein noch kein nötigender Zwang.
Wer die Abwesenheit des Eigentümers ausnutzt, um dessen Geldbeutel wegzunehmen, begeht keinen Raub, sondern einen Diebstahl. Im Sexualstrafrecht gibt es – aus guten Gründen – seit ungefähr 100 Jahren keinen Tatbestand mehr, der dem des Diebstahls in dem genannten Beispiel entspricht: Früher wurde bestraft, wer eine Frau unter Vortäuschung der Heiratsabsicht zum Geschlechtsverkehr verführte.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass Frau Professor Frommel und die von ihr pluralisch genannten Frauenbewegungen auf dieses Strafrechtsniveau zurück möchten.
2/2: "Die Verfolgung von Vergewaltigung gehört nicht ins Familienrecht"
LTO: Die derzeitige Rechtslage im Sexualstrafrecht ist also aus Ihrer Sicht unbefriedigend?
Fischer: Ja, aber aus anderen Gründen, als Frau Frommel meint. Der Bundesgerichtshof hat seine im Jahr 1999 vorschnell geäußerte Rechtsansicht zu dem Tatbestandmerkmal des Nötigens durch Ausnutzen, die zu einem reinen "Willens"-Strafrecht tendierte, im Jahr 2006 geändert. Seither ist es nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung keine "Nötigung", wenn jemand bloß eine Gelegenheit oder eine vorschnelle Einwilligung ausnutzt. Nötigung setzt eine Zwangshandlung und eine Zwangswirkung voraus; und nach dem Schuldprinzip kann der Täter nur bestraft werden, wenn er hinsichtlich dieser Merkmale vorsätzlich handelt.
Nötigen durch Ausnutzen ist deshalb nur dann gegeben, wenn das Opfer auf Widerspruch oder Widerstand verzichtet, weil es Angst vor Gewalt hat, wenn der Täter dies erkennt oder in Kauf nimmt und die sexuelle Handlung trotzdem vollzieht oder verlangt. Damit sind nun wirklich sämtliche tatsächlichen oder vermeintlichen "Lücken" geschlossen.
Frau Frommel hat die von mir seit jeher vertretene Position wohl nicht wirklich verstanden. Gleichzeitig behauptet sie nun aber, es sei ihre eigene.
LTO: Frau Frommel geht davon aus, das geltende Recht böte ein funktionierendes Präventionskonzept. Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehörten danach ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte würden am besten von Familiengerichten geregelt. Wie sehen Sie das?
Fischer: Diese von ihr so bezeichnete "Faustregel" ist absurd. Sie bringt alles durcheinander und ist aus fachlicher Sicht auch schlicht unverständlich.
Es geht hier doch um die Sanktionierung von schweren Verbrechen. Warum eine auf einem Beziehungskonflikt beruhende, mit körperlicher Gewalt durchgeführte Vergewaltigung nicht bestraft werden, sondern "ins Familienrecht" gehören soll, ist unerfindlich.
"Rausch der unbegrenzten Verfolgung"
LTO: Aber was ist mit Tätern, die eben keine Zwangsmittel anwenden, um an ihr – sexuelles – Ziel zu kommen, sondern zum Beispiel ein bestehendes Ober-Unterordnungsverhältnis ausnutzen?
Fischer: Ganz einfach: Wer weder Gewalt anwendet noch mit Gewalt droht noch sich Angst vor Gewalt zunutze macht, kann auch nicht Täter einer "sexuellen Nötigung" oder "Vergewaltigung" sein.
Wer mit allgemeinen Nachteilen droht, zum Beispiel mit Kündigung, schlechten Beurteilungen usw., begeht eine ganz normale "Nötigung", die natürlich geringer bestraft wird. Und wer einfach nur ein soziales Machtgefälle "ausnutzt", begeht überhaupt keine Straftat, wenn nicht einer der gesetzlichen Ausnahmefälle vorliegt, das Tatopfer also krank, jugendlich oder eingesperrt ist. Einer gesunden, erwachsenen Person, so meint das Gesetz zu Recht, kann man zumuten, sich ganz normalen sexuellen Ansinnen zu entziehen. Sonst wären ja auch jeder Mietvertrag oder jedes nervende Abendessen "Nötigungen".
Frau Frommels Darlegungen suggerieren, dass das Gesetz zu hohe Anforderungen stelle, um "Täter" zu sanktionieren. Dies sollen Personen sein, die "routiniert" sind und daher keinerlei Zwangsmittel anwenden.
Eine solche "Täter"-Beschreibung erscheint, aus dem Mund einer deutschen Strafrechtsprofessorin, erschreckend. Welchen legitimen Grund sollte es geben, jemanden, der keines der gesetzlich geregelten Zwangsmittel anwendet, ebenso so zu bestrafen wie jemanden, der das tut? In welchem Rausch der unbegrenzten Verfolgung befinden wir uns?
Das deutsche Sexualstrafrecht ist in den letzten 15 Jahren in einem Maß verschärft worden, das als beispiellos bezeichnet werden muss. Die Verschärfung hat als Welle des Verfolgungswillens die ganze Gesellschaft bis an die Grenze der Hysterie und teilweise darüber hinaus durchdrungen. Frau Frommel hat, warum auch immer, wohl nicht verstanden, wo der Fortschritt anzusiedeln ist, in dessen Namen sie zu sprechen versichert, und wer auf ihrer Seite steht. Das ist schade.
LTO: Herr Professor Fischer, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Prof. Dr. Thomas Fischer ist Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof und Herausgeber eines Kommentars zum StGB mit Nebengesetzen.
Das Interview führte Pia Lorenz.
Pia Lorenz, Fischer zum Sexualstrafrecht: "Im Rausch der unbegrenzten Verfolgung" . In: Legal Tribune Online, 19.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12936/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag