Scharia-Gerichte in Deutschland: "Wir brauchen mehr Insiderwissen"

Interview von Ulf Nadarzinski

02.04.2014

2/2: "Wir brauchen Insiderwissen und das Interesse der Öffentlichkeit"

LTO: Sie haben in einem Artikel für Zeit Online kritisiert, dass die Gefahr einer nach den Regeln der Scharia agierenden Schattenjustiz in Deutschland zu wenig diskutiert werde. Ist inzwischen Besserung in Sicht?

Ateş: Das kann ich nicht behaupten. Eine breite Diskussion gibt es nicht. Das liegt wiederrum daran, dass es zu dem Thema kaum gesicherte Daten gibt. Es wird auch nicht geforscht auf diesem Gebiet. Daher bewegt man sich im Bereich dunkler Vermutungen.

LTO: Wie könnte man das Ihrer Meinung nach ändern?

Ateş: Zunächst bräuchte es eine fundierte Datenerhebung, die nur in Zusammenarbeit mit der islamischen Gemeinschaft möglich sein dürfte. Wir brauchen das Insiderwissen der Menschen, die in diesem Milieu aktiv beteiligt waren oder sind. Das könnten etwa Personen sein, die sich durch das Urteil eines Friedensrichters ungerecht behandelt fühlen. Dafür müssten diese aber wissen, dass es überhaupt ein breites öffentliches Interesse an ihrer Geschichte gibt. Daran fehlt es noch.

"Der Schaden ist real, aber gesetzlich nicht definiert"

LTO: Warum wenden sich die Opfer solcher Verfahren nicht an staatliche Gerichte, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen?

Ateş: Wenn es etwa um finanzielle Ausgleichszahlungen geht, haben die Betroffenen oftmals keinerlei Beleg dafür, was entschieden wurde und welche Summen geflossen sind. Sie können also vor staatlichen Gerichten keinen Beweis führen. Oder nehmen Sie eine eherechtliche Streitigkeit: Frauen, die schon nicht standesamtlich geheiratet haben, weil die streng religiöse Familie dies abgelehnt hat, können unmöglich Unterhaltszahlungen vor einem deutschen Gericht einklagen. Der Schaden, der den Opfern zugefügt wird, ist real, aber gesetzlich nicht definiert. Es gibt keine Anspruchsgrundlage.

LTO: Neben strafrechtlichen Verfahren verhandeln Friedensrichter auch im Bereich des Familienrechts.

Ateş: Ja, denn gerade dieser Bereich wird vornehmlich durch die Scharia geregelt. In den Verfahren geht es um Scheidungen oder um Sorgerechtsangelegenheiten. Findet man innerhalb der Familienclans keine Lösung, wird mitunter der Friedensrichter angerufen.

LTO: Der rheinland-pfälzische Justizminister* Jochen Hartloff (SPD) hat islamische Schiedsgerichte in Deutschland Ende 2013 für grundsätzlich zulässig erklärt. Eine eigene Justiz gebe es etwa auch Bereich Sport und Kirche, diese diene dem inneren Frieden. Was halten Sie davon?

Ateş: Das klingt in der Theorie sehr schön, ich finde diese Überlegung aber bedenklich. In der Regel ist es nämlich so, dass die Leidtragenden solcher Verfahren Frauen und Kinder sind. Gerade im islamischen Familienrecht geht es darum, patriarchische Strukturen herzustellen oder zu verstärken. Frauen wird regelmäßig deutlich gemacht, dass sie eine bestimmte Rolle zu erfüllen haben. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das also wenig zu tun.

LTO: Frau Ateş, vielen Dank für das Interview.

Seyran Ateş ist Autorin und Rechtsanwältin für Familienrecht und Strafrecht in Berlin. Sie war Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und nahm am Integrationsgipfel der Bundesregierung teil.

Das Interview führte Ulf Nadarzinski.

*hier stand zunächst fälschlicherweise "Der hessische Justizminister" (geändert: 03.04.14, 09.00 Uhr)

Zitiervorschlag

Ulf Nadarzinski, Scharia-Gerichte in Deutschland: "Wir brauchen mehr Insiderwissen" . In: Legal Tribune Online, 02.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11527/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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