Monatelang hat Israel humanitäre Hilfe für den Gazastreifen blockiert. Als Besatzungsmacht muss es aber die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen, so der IGH. Dazu müsse Israel auch mit dem UN-Palästinenserhilfswerk zusammenarbeiten.
Nach zwei Jahren ist der Gaza-Krieg zumindest erst einmal vorbei, eine (fragile) Waffenruhe ist in Kraft. Die humanitäre Situation der Bevölkerung im Gazastreifen ist aber nach wie vor katastrophal. Als Teil der Waffenruhe-Vereinbarungen hatte Israel die Hilfslieferungen in den Gazastreifen ab dem 10. Oktober zwar ausgeweitet. Am Wochenende sei es jedoch zu einer "eklatanten Verletzung" der Vereinbarungen durch die Hamas gekommen. Israelische Soldaten seien beschossen worden, es gebe zwei Tote. Deshalb stoppte Israel die Lieferungen kurzzeitig wieder.
Zudem hat Israel dem UN-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) mit einem Gesetz von Oktober 2024 sämtliche Aktivitäten auf israelischem Staatsgebiet untersagt. Israel wirft ihm vor, von der Terrororganisation Hamas unterwandert zu sein. Faktisch kann die UNRWA ihre Einsätze auch in den besetzten palästinensischen Gebieten im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem nicht fortsetzen, denn Israel kontrolliert alle Zugänge und Hilfslieferungen.
Nach einer elfwöchigen Blockade hatte Israel Ende Mai 2025 zwar die Verteilung humanitärer Hilfsgüter wieder aufgenommen und durch die umstrittene Gaza Humanitarian Foundation neu organisiert. Die Versorgung der Menschen ist jedoch unzureichend. Zudem sind bis Anfang September 2025 nach Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) über 2.100 Palästinenser getötet worden, während sie an oder bei den Verteilstellen auf Hilfsgüter warteten.
Wie zentral die Rolle der UNRWA für die Versorgung der Menschen im Gazastreifen ist, hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem Rechtsgutachten von Mittwoch herausgestellt. "UNRWA ist unter den momentanen Umständen unabdingbar für die Menschen im Gazastreifen", so der IGH. Als Besatzungsmacht sei Israel verpflichtet, die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen sicherzustellen – selbst oder durch humanitäre Organisationen. Israel müsse deshalb Hilfslieferungen durch die UNRWA nicht nur zulassen, sondern auch aktiv daran mitwirken. IGH-Präsident Yuji Iwasawa mahnte auch, Israel dürfe "das Aushungern der Zivilbevölkerung nicht als Kriegsmethode nutzen".
Das Gutachten ist nicht rechtsverbindlich, es kann aber den Druck auf Israel erhöhen, deutlich mehr humanitäre Hilfe zuzulassen.
Als Besatzungsmacht muss Israel für die Bevölkerung sorgen
Das Gutachten in Auftrag gegeben hat die UN-Generalversammlung Ende Dezember 2024 (Resolution v. 19.12.2024, A/RES/79/232). Der IGH sollte darlegen, welche Pflichten zu humanitärer Hilfe Israel gegenüber den Palästinensern im Gazastreifen hat – als Besatzungsmacht, aber auch als Mitglied der Vereinten Nationen.
Israel hält die palästinensischen Gebiete – den Gazastreifen, Ostjerusalem und das Westjordanland – nach wie vor besetzt. Als Besatzungsmacht hat Israel daher besondere Pflichten gegenüber der betroffenen Bevölkerung. Diese ergeben sich insbesondere aus dem humanitären Völkerrecht, aber auch aus dem Völkergewohnheitsrecht und den Menschenrechten.
So muss Israel insbesondere die Regelungen der vierten Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten beachten. Nach dessen Art. 55 muss es dafür sorgen, dass die Bevölkerung mit den für das tägliche Leben notwendigen Gütern versorgt wird, etwa Lebensmitteln, Wasser, Kleidung, Unterkünften und Medizin.
Wenn die ausreichende Versorgung der Bevölkerung nicht sichergestellt ist, muss Israel Hilfslieferungen zulassen und mit "allen zur Verfügung stehen Mitteln erleichtern", was sich aus Art. 59 der Vierten Genfer Konvention ergibt. Das sei hier der Fall, so der IGH. Tausende Menschen seien unterernährt. In einem Bericht vom Juni 2025 warnte die OCHA vor einer "zunehmenden Wahrscheinlichkeit einer Hungersnot" sowie "kritischen Engpässen bei lebenswichtigen Medikamenten und Hilfsgütern".
"UNRWA kann nicht kurzfristig ersetzt werden"
Hilfslieferungen können entweder durch Staaten oder durch "unparteiische" humanitäre Organisationen durchgeführt werden. Genau diese Unparteilichkeit und Neutralität der UNRWA zweifelt Israel an und behauptet, die gesamte Organisation sei von der Hamas unterwandert. Im August 2024 hatten die UN neun Mitarbeitern gekündigt, die im Verdacht stehen, am Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen zu sein. Dies reiche jedoch nicht aus, um zu belegen, dass die UNRWA als Ganzes – mit mehr als 17.000 Mitarbeitenden in den besetzten palästinensischen Gebieten und insgesamt über 30.000 Mitarbeitenden – nicht neutral sei, so der IGH.
Grundsätzlich könne Israel als Besatzungsmacht die humanitären Organisationen, über die es seinen Verpflichtungen nachkommt, frei auswählen, solange die Bedürfnisse der Bevölkerung gedeckt würden. Das sei bei der Gaza Humanitarian Foundation jedoch nicht der Fall. Es gebe zudem glaubwürdige Berichte über einen deutlichen Anstieg der Todesfälle wegen Mangelernährung seit den Anhörungen im Gutachtenverfahren, die vom 28. April bis 2. Mai 2025 in Den Haag stattfanden.
Die UNRWA sei schon vor dem 7. Oktober 2023 die zentrale Organisation für die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung gewesen, danach habe ihre Bedeutung sogar noch zugenommen. Nach UN-Angaben habe die UNRWA bis Ende Januar 2025 rund 1,9 Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt, mehr als 60 Prozent der medizinischen Grundversorgung übernommen und Hunderttausende Binnenflüchtlinge in über 100 Schulen untergebracht. "Die UNRWA kann nicht kurzfristig und ohne einen geeigneten Übergangsplan ersetzt werden", so der IGH. Israel sei deshalb verpflichtet, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Auch als UN-Mitglied sei Israel nach den Art. 55 und 56 der UN-Charta verpflichtet, mit den UN zusammenzuarbeiten und die Arbeit der UNRWA nicht einzuschränken. Zudem müsse Israel Hilfskräfte, medizinisches Personal und medizinische Einrichtungen schützen.
"Aushungern der Zivilbevölkerung nicht als Kriegsmethode nutzen"
Der IGH erinnert auch daran, dass das humanitäre Völkerrecht es verbiete, "das Aushungern der Zivilbevölkerung als Kriegsmethode zu nutzen".
Israel müsse auch die Menschenrechte der Bevölkerung schützen. Die Beschränkungen humanitärer Hilfe haben direkte Auswirkungen auf zahlreiche Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Schutz des Familienlebens und das Recht, frei von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu sein. Diese Pflichten ergeben sich aus den Menschenrechtsverträgen, insbesondere aus dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte, dem Internationalen Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte und der Anti-Folterkonvention.
Weitere Verfahren vor dem IGH
Schließlich erinnert der IGH daran, dass das Gutachtenersuchen der Generalversammlung nicht isoliert entstanden ist, sondern im Zusammenhang mit Israels seit mehr als 58 Jahren andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete zu sehen ist. Seitdem werde das Selbstbestimmungsrecht der palästinensischen Bevölkerung verweigert.
Mit der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete hatte sich der IGH bereits in seinem Rechtsgutachten aus dem Juli 2024 beschäftigt und darin festgestellt, dass Israel dort eine völkerrechtswidrige Annexion betreibt, LTO hatte berichtet. Was diese weitreichende Feststellung bedeutet, hat Prof. Dr. Claus Kreß in seinem Beitrag ausführlich dargelegt. Dieses Gutachten bezog sich jedoch auf Geschehnisse vor dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023.
Das aktuelle Gutachten nimmt die Zeit danach in den Blick. Wie der IGH-Präsident bei der Verlesung des Gutachtens am Mittwoch betonte, ging es bei dem Gutachten um Israels humanitäre Pflichten gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Der IGH sah sich deshalb nicht dazu aufgefordert, zu bestimmen, ob Israel seine Verpflichtungen verletzt hat und welche Folgen das nach dem Recht der Staatenverantwortlichkeit hat.
Genau darum geht es aber in einem weiteren Verfahren vor dem IGH. Südafrika verklagt Israel dort wegen eines mutmaßlichen Völkermords an den Palästinensern. Wann es zu einer Anhörung im Hauptsacheverfahren kommt, steht noch nicht fest. Im April hat der IGH die Frist für Israels Klageerwiderung auf Ende Januar 2026 verlängert.
Mit Material der dpa
Rechtsgutachten des IGH: . In: Legal Tribune Online, 23.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58447 (abgerufen am: 07.11.2025 )
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