Reformen im Polizeirecht: Bolz­plätze als Sicher­heits­ri­siko

Gastbeitrag von Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M. (Berkeley)

17.08.2022

Sicherheitsbehörden fordern seit jeher eine Ausweitung ihrer Befugnisse – teils mit guten Gründen. Allzu schnell gerät hierbei jedoch das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit aus der Balance, wie Markus Ogorek anhand aktueller Vorhaben aufzeigt.

Traditionell setzen präventive Eingriffsbefugnisse eine konkrete Gefahr voraus. In den vergangenen Jahren wurde diese Schwelle für die Polizeibehörden in Bund und Ländern jedoch zusehends abgesenkt – immer mehr ist auch angesichts der teils weitreichenden Einführung erweiterter Kompetenzen eine Vernachrichtendienstlichung ihrer Arbeit zu erkennen. Inzwischen müssen vielfach nur noch tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die die Polizeibehörden zur Annahme bestimmter Tatsachen berechtigen, um auf vielfältige Weise in die Grundrechte von Bürgern eingreifen zu dürfen. Solche Annahmen können z.B. daraus herrühren, dass Betroffene mit bestimmten, ihrerseits verdächtigen Personen verkehren, einschlägige Orte aufsuchen oder ein suspektes (bzw. jedenfalls so interpretierbares) Verhalten an den Tag legen.

Einen Schritt weiter geht nun das Land Hessen, das aktuell seine Sicherheitsgesetze novelliert und dabei auf einen in dieser Form bislang ungekannten Fiktionstatbestand zurückgreifen will.

Einkaufszentren, Sportstätten und Packstationen

Das Hessische Gesetz über die Öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) erlaubt eine Videoüberwachung im öffentlichen Raum bislang nur dann, wenn wenigstens tatsächliche Anhaltspunkte für ein polizeilich relevantes Verhalten vorliegen. Der Landesgesetzgeber beabsichtigt mit seinem nun vorgelegten Änderungspaket, diese Eingriffsschwelle für sog. besondere Gefahrenpunkte nicht nur (weiter) zu verringern, sondern in wesentlichen Bereichen ganz auf sie zu verzichten.

Nach der Entwurfsfassung sollen die öffentlich zugänglichen Bereiche von (allen) Flughäfen, Personenbahnhöfen, Sportstätten, Einkaufszentren und Packstationen im Lande stets überwachungsfähig sein. Im Einzelnen wäre dann keine Prüfung mehr erforderlich, ob an dem jeweiligen Ort eine Gefahr vorliegt oder tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass dort Straftaten drohen – vielmehr würden diese, in Hessen tausendfach vorhandenen Stellen mittels einer gesetzlichen Fiktion stets als hinreichend gefährlich bzw. gefährdet gelten.

Dass Videoüberwachungen im öffentlichen Raum mit einem nicht unerheblichen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einhergehen, liegt auf der Hand. Für die vorbezeichneten Orte trifft dies in besonderer Weise zu, denn darauf, sie aufzusuchen, kann oft nicht ohne Weiteres verzichtet werden. Flughäfen und Bahnhöfe, vor allem aber Einkaufszentren, Sportstätten und Packstationen sind geradezu typische Orte des Zusammentreffens ganz beliebiger und damit auch nicht typisierbarer Gruppen, deren Überwachung eine schier unbegrenzte Streubreite aufweist.

Keine Anhaltspunkte für Überwachung nötig

Auf tatbestandlicher Ebene verzichtet die Neuregelung darauf, die Überwachung an reale und nachprüfbare Anhaltspunkte zu knüpfen. Die Polizei wird vielmehr vollständig von einer Prüfung im Einzelfall entbunden, ob die Sicherheitslage diese im Konkreten erfordert. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Freiheit und Sicherheit wird damit gleichsam in sein Gegenteil verkehrt.

Wenn Bürger sich gegen diese Überwachung auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen, Verreisen oder (Amateur-)Sport zur Wehr setzen wollten, fiele die gerichtliche Kontrolle nur sehr eingeschränkt aus. Die Prüfung der Einzelfallumstände würde für die Verwaltungsgerichte keine Rolle mehr spielen, höchstens im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auf Rechtsfolgenseite.

Doch selbst wenn die Polizei in einem Verfahren nicht darlegen könnte, welche konkreten Umstände aus ihrer Sicht die Überwachung einer bestimmten Stelle erforderlich machten, würde dies vermutlich nicht zur Unverhältnismäßigkeit und damit zur Rechtswidrigkeit der Maßnahmen führen. Denn dieses Ergebnis der Justiz würde die von Seiten des Gesetzgebers bewusst gewählte rechtstechnische Konstruktion geradezu konterkarieren.

Überaus nahe liegt jedoch, dass die Justiz zu einem anderen Mittel greifen, nämlich die gesetzliche Grundlage alsbald dem Bundes- oder Landesverfassungsgericht vorlegen würde.

Am Anschlag des rechtstaatlich Zulässigen

Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die geladenen Sachverständigen in der Anhörung des Hessischen Landtags unisono zu der Einschätzung gelangten, die Regelung sei verfassungsrechtlich so nicht haltbar.

Es bleibt zu hoffen, dass die vehemente Kritik nicht auf taube Ohren gestoßen und einer Entgrenzung des Gefahrenabwehrrechts damit Einhalt geboten ist. Ohne Zweifel, an der Videoüberwachung von Bolzplätzen und Packstationen in der hessischen Provinz wird sich die Zukunft des Polizeirechts in Deutschland kaum entscheiden. Doch kündigen sich große Veränderungen bekanntlich oftmals im Kleinen an. Deshalb gilt es, die Reformen des Sicherheitsrechts kritisch zu begleiten und Fehlentwicklungen frühzeitig entgegenzuwirken.

Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern traditionell gerade mit jenen Kompetenzen liebäugeln, die ihnen selbst bislang noch nicht zustehen, bei ihren Schwesterbehörden aber jüngst neu eingeführt oder ausgebaut worden sind. Diese Entwicklung zeigt sich in der hessischen Sicherheitsrechtsnovelle im Übrigen an anderer Stelle: Im Reformpaket des Wiesbadener Landtags finden sich – zum Teil wortgleich – erweiterte Befugnisnormen und herabgesetzte Eingriffsschwellen, für die das jüngst für grundgesetzwidrig erklärte Bayerische Verfassungsschutzgesetz offensichtlich die Vorlage bildet, so z.B. bei § 9 Hessisches Verfassungsschutzgesetz-E (HVSG-E), der mit Art. 12 BayVSG quasi wörtlich übereinstimmt.

Verwässerung neuer Spezialbefugnisse

Neben dem Abschied vom klassischen Gefahrenbegriff, gar dem Verzicht auf irgendeinen tatsächlichen Anknüpfungspunkt, offenbart die hessische Reform auch an anderer Stelle eine strukturelle Fehlentwicklung des Sicherheitsrechts: Sei es nach terroristischen Anschlägen, sei es nach medial besonders ausgeleuchteten Gewalttaten – immer wieder werden einschneidende Maßnahmen in den polizeilichen Befugniskatalog aufgenommen, um ganz spezifischen Bedrohungen entgegenzuwirken, dann aber im Laufe der Zeit gesetzgeberisch auf immer mehr Anwendungsfälle erstreckt. Auf diese Weise finden ursprünglich für gravierende Rechtsgutgefährdungen gedachte Ausnahmeinstrumente zusehends Eingang in die tagtägliche Polizeipraxis, ohne dass eine neuerliche und sorgfältige Abwägung zwischen Gefährdungs- und Eingriffsintensität stattgefunden hätte. Der hessische Gesetzgeber ist diesem Ansatz verfallen, wenn er die elektronische Aufenthaltsüberwachung nun deutlich ausweiten will.

Bei der ortungsbasierten Aufsicht in Form der sog. Fußfessel handelt es sich um eine polizeirechtliche Spezialmaßnahme, deren Anwendungsbereich ursprünglich auf die Verhütung terroristischer Straftaten beschränkt war. Aufgrund strafrechtlicher Vorschriften besteht die Überwachungsmöglichkeit für Verurteilte seit einigen Jahren überdies im Fall von schweren Sexualverbrechen. Keiner deutschen Polizeibehörde, ob präventiv oder in Ausführung strafrechtlicher Anordnungen, steht die Fußfessel aber in mehr oder minder alltäglichen Gefährdungssituationen zur Verfügung.

Fußfessel als Automatismus

Mit dieser engen Limitierung will die Regierungskoalition in Wiesbaden brechen. Sie will der Landespolizei künftig ermöglichen, die Befolgung einer Wohnungsverweisung oder eines Betretungs- bzw. Kontaktverbots durch die verbundene Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung sicherzustellen. Mit anderen Worten: Es soll bei jeder Wohnungsverweisung, jedem Betretungs- oder Kontaktverbot unmittelbar eine Fußfessel angelegt werden können, ohne dass weitere Voraussetzungen (wie etwa eine Negativprognose über das Befolgen der Anordnung) vorliegen müssten.

Die Frage, warum Hessen diese verunglückte Kompetenzausweitung anstrebt, lässt sich nicht beantworten, ohne sie in eine Reihe mit ähnlichen gefahrenabwehr- und strafrechtlichen Maßnahmeverschärfungen in Bund und Ländern der vergangenen Jahre zu stellen. Geradezu exemplarisch ist hierbei der Umgang mit Wohnungseinbrüchen.

Nachdem Berichte über (vermeintlich) gut organisierte, gar international agierende Banden zugenommen hatten und in Umfragen auch eine entsprechende Verunsicherung der Bevölkerung festgestellt worden war, erhob der Bundestag 2017 den Wohnungseinbruchsdiebstahl zum Verbrechen. Damit sollte (schon an sich wenig überzeugend) eine erhöhte Abschreckungswirkung erzielt werden, freilich um den Preis des Wegfalls des flexibel einsetzbaren "minderschweren Falls".

Vor allem – und weitgehend unbemerkt – wurden damit aber verschiedene Instrumente freigeschaltet, die etwa an das Vorliegen der Verbrechenseinstufung gebunden sind und damit ursprünglich nur bei sehr schwerwiegenden Rechtsgutverletzungen zum Einsatz kommen sollten. Möglich ist seither etwa die Durchführung von Telekommunikationsüberwachungen, die rückwirkende Funkzellenabfrage und, im Falle ihrer Wiederanwendung, sogar die Vorratsdatenspeicherung.

Anti-Terror-Instrumente alltagstauglich gemacht

Hier wie dort zeigt sich: Die komplexen Verweisungs- und Voraussetzungsnormen in Bundes- wie Landesgesetzen haben vielfach zur Folge, dass – unbeabsichtigt oder nicht – an anderer Stelle Verschärfungen greifen, die in ihrer Tragweite nicht verstanden werden und in ihrem Effekt kaum absehbar sind.

Für Hessen bedeutet dies: Wird die Fußfessel künftig zum Beispiel im Falle häuslicher Bedrohungslagen statthaft, dürfte alsbald die Frage aufkommen, wieso sie nicht auch bei anderen Formen von Bedrohung, Nötigung oder Gewalt Anwendung finden kann. Ihr Einsatz würde damit endgültig uferlos, das ursprünglich nur im Einsatz bei Terrorverdächtigten für angemessen erachtete Instrument alltagstauglich gemacht.

Die Entgrenzung der Gefahrenabwehr manifestiert sich hier auf andere Weise als im obigen Falle der geplanten Videoüberwachungen, im Ergebnis führt sie gleichermaßen zu weitgehend undiskutierten, unreflektierten und vor allem verfassungsrechtlich unausgewogenen Einbußen an Freiheit. Es kann nicht im Sinne der vielen engagierten und rechtschaffenen Angehörigen von Polizeien und Diensten seien, auf grundrechtlich ungesicherter Grundlage zu agieren und andauernd unter dem Damoklesschwert verfassungsgerichtlich veranlasster Kurskorrekturen zu agieren. Einmal wieder tut es not, daran zu erinnern: Die Freiheit ist in einem demokratischen Rechtsstaat nicht Ausnahme, sondern Regelfall.

Der Autor Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M. (Berkeley), ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln. Zu dem diskutierten Reformvorhaben hat er als unabhängiger Gutachter für den Hessischen Landtag Stellung genommen.

Zitiervorschlag

Reformen im Polizeirecht: . In: Legal Tribune Online, 17.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49339 (abgerufen am: 14.12.2024 )

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