Die Diskussion um die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze will nicht abreißen. Während die Rechtsprechung das aktuelle System weitgehend bestätigt, kommen Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen. Mit dem die Menschenwürde garantierenden Verfassungsrecht und der Statistik prallen zwei Welten aufeinander. Franz Dillmann sichtet die Folgen des Zusammenstoßes.
Der Streit um die richtige Höhe des staatlich garantierten Existenzminimums erhält durch Zwischenergebnisse einer laufenden Studie der Böckler-Stiftung neue Nahrung. In einem ersten Fazit wird die Beteuerung der Bundesregierung bezweifelt, die 2011 festgelegten Regelbedarfe folgten sowohl "zwangsläufig" den statistischen Daten als auch den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Im Gegenteil müsse das sozio-kulturelle Existenzminimum nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine Einzelperson bei 407 statt 382 Euro liegen. Doch weder Statistiker noch Juristen können Politik und Gesellschaft von der Pflicht entbinden, zu bestimmen, wann menschenunwürdige Armut anfängt. Die nötige Diskussion kann zudem von der Debatte um den Mindestlohn nicht abgekoppelt werden.
In seinen vielbesprochenen Hartz-IV-Urteilen vom 9.2.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) hat das Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums klare Konturen verliehen. Jedem stehen danach die Hilfen zu, die für seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Der Gesetzgeber muss diesen Anspruch auf Achtung der individuellen Menschenwürde konkretisieren und zeitgerecht aktualisieren. Bei der Ausgestaltung hat er einen Spielraum.
Freiräume und Grenzen nach den Urteilen des BVerfG
Bei der Festlegung dieses Existenzminimums werden sogenannte Regelsätze bestimmt. Dabei handelt es sich um pauschalierte Entgelte der regelmäßigen Bedarfe des notwendigen Lebensunterhaltes. Diese hat der Gesetzgeber nach den Vorgaben der Verfassungsrichter mit einem "tauglichen Berechnungsverfahren" festzustellen. Relevante Tatsachen müssen vollständig und zutreffend ermittelt, Rechenschritte schlüssig und transparent dargestellt und Berechnungsmethoden veröffentlicht werden.
Hierfür dürfe der Gesetzgeber die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes als Grundlage verwenden. Es sei auch zulässig, innerhalb dieser Stichprobe die untersten 20 Prozent der nach dem Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte als Referenzgruppe heranzuziehen, um den Regelbedarf eines Alleinstehenden herauszufinden.
Bestimmte Ausgaben (naheliegend etwa bei Pelzen und Maßkleidung) dürften indes nicht "ins Blaue hinein" gekürzt werden, wenn gar nicht feststehe, ob und in welchem Ausmaß diese von der Referenzgruppe überhaupt getätigt worden seien. Werde eine Ausgabe komplett gestrichen, müsse dies genau begründet werden.
Nachbesserung durch den Gesetzgeber
Der Gesetzgeber mühte sich in der Folge redlich um eine verfassungskonforme Umsetzung, die jedoch politisch kontrovers blieb. Die Sozialgesetzbücher (SGB) II und XII wurden geändert und ein neues sogenanntes Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) vom 24. März 2011 legte sechs Regelbedarfsstufen fest (Alleinstehende und Alleinerziehende, Ehegatten und Lebenspartner, Haushaltsangehörige, Jugendliche und Kinder in drei Altersstufen). Es richtete sich dabei zunächst an der EVS 2008 aus, die bis zu einer neuen Studie fortgeschrieben wird.
Die automatische Anpassung folgt nun nicht mehr, wie vom BVerfG bemängelt, den Rentenerhöhungen, sondern einem Mischindex, der zu 70 Prozent die Preisentwicklung bei regelbedarfsrelevanten Gütern und zu 30 Prozent die Nettolohnentwicklung widerspiegelt.
Als "nicht regelbedarfsrelevant" fielen etwa Ausgaben für Alkohol, Tabak, Gastronomiebesuche, Reisen, Schnittblumen, Hundefutter oder die chemische Reinigung heraus oder wurden herunter gerechnet. Die Ermittlung ergab im Ergebnis einen um 2,81 Euro erhöhten Regelbedarf für eine Einzelperson, die im politischen Abstimmungsprozess auf fünf Euro aufgerundet wurde.
Regelsatzbemessung eine Milchmädchenrechnung?
Nach den im Juni 2013 veröffentlichten Zwischenergebnissen eines Forschungsprojekts der Böckler-Stiftung hätte der Eckregelsatz um etwa 27 Euro steigen müssen, wäre bei der Neuberechnung des Regelbedarfs nach den Vorgaben des BVerfG die bis dahin geltende Methode angewendet worden. Im Jahr 2013 würde er damit bei 407 Euro liegen.
Zudem kritisiert die Studie die freihändige Veränderung der Bezugsgruppe bei den Alleinstehenden. Es werde nicht mehr auf die unteren 20 Prozent, sondern nur noch auf die unteren 15 Prozent der Haushalte referiert. Damit liege real die obere Einkommensgrenze um rund 82 Euro niedriger.
Durch diese Entscheidungen des Gesetzgebers würden die erreichten Verbesserungen wieder verpuffen. Deshalb sei weiterhin fraglich, ob der Regelbedarf ausreichend bemessen werde.
2/2: Auch Richter können rechnen
Die Sozialgerichte haben bisher überwiegend die neue Regelbedarfsbemessung gestützt. Nach Ansicht mehrerer Senate des Bundessozialgerichts werden die Leistungen nach den neuen Regelungen nicht in verfassungswidriger Weise zu niedrig festgesetzt (BSG, Urt. v. 12. Juli 2012, B 14 AS 153/11; Urt. vom 28. März 2013, B 4 AS 12/12 R). Die Leistungen seien nicht "evident unzureichend", vielmehr auf Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu rechtfertigen. Der Gesetzgeber habe sich innerhalb des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums bewegt.
Nur das Sozialgericht (SG) Berlin hat in einem sehr umfangreichen Beschluss vom 24. April 2012 (S 55 AS 9238/12) dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob nicht die Regelsatzbemessung zusammenlebender Erwachsener und die von Jugendlichen in der Gruppe von 15 bis 18 Jahren die Verfassung verletze. Die Verbrauchsstichprobe sei fehlerhaft. Deshalb seien die Bedarfe falsch bestimmt worden. Außerdem sei der Abzug für einzelne Posten ungerechtfertigt.
Drei bis vier Millionen Menschen in verdeckter Armut
Ob das BVerfG dem folgen wird, erscheint jedoch fraglich. Der vergangenen Mittwoch vom Kabinett beschlossene Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über die Weiterentwicklung der für die Ermittlung von Regelbedarfen anzuwendenden Methodik weist jedenfalls in die gegenteilige Richtung: Die Methodik zur Ermittlung der Regelbedarfe und damit auch ihre geltende Höhe seien "angemessen und sachgerecht".
Eine andere Frage ist freilich, ob eine korrekte Berechnungsmethode auch zu befriedigenden Ergebnissen führt. So geht etwa eine im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstellte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) davon aus, dass in Deutschland 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen in verdeckter Armut leben. Diese Personen nehmen derzeit also keine Grundsicherungs-Leistungen in Anspruch, obwohl sie bezugsberechtigt wären.
Kein Zählwerk für Menschenwürde
Die unterschiedlichen Sichtweisen von Juristen und Statistikern belegen: Menschenwürde ist schwer zu zählen. Es wäre rechtsstaatlich nicht möglich, die Festlegung eines Existenzminus allein den Statistikern zu überlassen. Sie liefern allerdings das nötige Datenmaterial, um die richtige Entscheidung zu finden.
Auch kann kein Gericht dem Gesetzgeber vorschreiben, von den untersten 15 Prozent der Befragten Haushalte auszugehen, obgleich diese normative Orientierung an einer noch ärmeren Bevölkerungsgruppe das zur Existenz Notwendige weiter herabschraubt. Verfassungsrechtlich problematischer erscheinen da schon die manchmal schwer nachzuvollziehenden Streichungen, vor allem betreffend den Konsum von Gütern in sozialer Gemeinschaft.
Ohne die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist zudem bei widrigen wirtschaftlichen Verhältnissen im flexibilisierten kapitalistischen System die Rutschbahn zur Armut kaum zu stoppen. Denn es gilt zu Recht weiter das sogenannte Lohnabstandsgebot. Die existenzsichernden Sozialleistungen dürfen nur eine dem zu niedrigen Löhnen arbeitenden Menschen vergleichbare "einfache Lebensweise" ermöglichen, § 28 Abs. 4 SGB XII.
Eine "anständige Armenfürsorge" ist, wie es der Rechtsphilosoph Avishai Margalit (Politik der Würde, 2012) formuliert, der "Prüfstein für eine menschliche Zivilisation". Man muss aus Gerechtigkeitsgründen ergänzen: wie auch ein "anständiger Lohn". Denn jedem muss in menschlicher Gesellschaft ein würdiger Lebensstil offenstehen, in dem er respektiert wird, und den er lebenswert finden kann.
Franz Dillmann, Debatte zu Hartz-IV-Regelsätzen: Statistik und Menschenwürde . In: Legal Tribune Online, 05.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9084/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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