Wer unschuldig im Gefängnis saß, sich mit der Haftentschädigung nicht zufriedengibt und Schadensersatz fordert, sieht sich Gegenforderungen der Staatskasse ausgesetzt. Eines sozialen Rechtsstaates ist das unwürdig, meint Helmut Pollähne.
"Justizopfer zur Kasse gebeten." Für Empörung sorgte in den vergangenen Tagen Meldungen im Zusammenhang mit nach einem erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens vom Vorwurf des sogenannten Badewannenmordes freigesprochenen Manfred Genditzki.
Der heute 64jährige saß 13 Jahre zu Unrecht hinter bayrischen Gittern. Gegen seine Forderung, über die ihm nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz (§ 7 Abs. 3 StrEG) zustehenden knapp 370.000 Euro hinaus weitere 750.000 Euro Schadensersatz für die jahrelange rechtswidrige Inhaftierung zu erhalten, macht die bayrische Justiz Gegenforderungen geltend - als "Vorteilsausgleich" im Umfang von nahezu 100.000 Euro.
Der vermeintlich auszugleichende "Vorteil", der dem Justizopfer Genditzki zugutegekommen sein soll, bestehe einerseits in den staatlichen Aufwendungen für Kost und Logis im Gefängnis, andererseits in den ihm ausgezahlten Bezügen für sogenannte Hausarbeit. Diese Aufrechnung müsse er nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen des Bürgerlichen Gesetzbuches (§§ 249 ff. BGB) hinnehmen.
StrEG-Reform auf der Strecke geblieben
Ändern wollte dies eigentlich die gerade auseinandergefallene Ampelkoalition: Dass die Betroffenen eine solche Aufrechnung als ungerecht empfänden, sei im Kern nachvollziehbar, heißt es noch im Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums "zur Modernisierung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen“ vom September 2022. So erfolge die Inanspruchnahme von Unterkunft und Verpflegung aufgrund staatlichen Zwangs durch Freiheitsentzug bzw. sei damit untrennbar verbunden. Aufgrund des Ampel-Aus gelangte der entsprechende, noch im November im Kabinett beschlossene Gesetzentwurf der Bundesregierung, über den auch LTO berichtet hatte, jedoch nicht mehr in den Bundestag.
Bleibt es also bis auf weiteres dabei, dass Schadensersatz fordernde Justizopfer damit rechnen müssen, mit justiziellen Gegenansprüchen konfrontiert zu werden? Der Fall Genditzki und die versandete StrEG-Reform sollte für die künftige Koalition Anlass genug sein, die Rechtslage kritisch zu prüfen und das Ampel-Vorhaben wieder aufzugreifen.
Wer trägt die Haftkosten?
Zunächst geht es um die Frage, wer die sogenannten Haftkosten trägt. Sie gelten nach Art. 49 Abs. 1 des bayrischen Strafvollzugsgesetzes (BayStVollzG) als Teil der "Kosten der Vollstreckung"“ im Sinne des § 464a Abs. 1 der Strafprozessordnung (StPO) und sind im Falle eines Freispruchs der Staatskasse aufzuerlegen (§ 467 Abs. 1 StPO). Das gilt selbstverständlich – rückwirkend – auch im Falle eines Freispruchs nach erfolgreichem Wiederaufnahmeverfahren.
Es käme wohl niemand auf die Idee, dem Schadensersatzanspruch eines Justizopfers nachträglich die Verfahrenskosten entgegenzuhalten, nach dem Motto: Wir haben Dich zwar zu Unrecht verurteilt, die dabei entstandenen Kosten musste Du Dir aber anrechnen lassen. Mit welcher Berechtigung soll dann aber für die Kosten der Vollstreckung inklusive Haftkosten etwas anders gelten? Wir haben Dich zwar zu Unrecht inhaftiert, die dafür entstandenen Kosten schmälern aber Deine Entschädigungsansprüche? Nein, die Auslagen fallen selbstverständlich der Staatskasse zur Last, basta!
Lohnausgleich für Zwangsarbeit?
Gefangene erhalten für Arbeit hinter Gittern eine skandalös niedrige Entlohnung. Dass dies auch mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, hat unlängst das Bundesverfassungsgericht festgestellt und die Bundesländer zur Reform gedrängt. Der Niedrigstlohnsektor Strafvollzug (Stundenlohn circa zwei Euro) wird noch dadurch verschärft, dass arbeitende Gefangene nicht in die Rentenversicherung einbezogen sind. Und besonders prekär erweist sich all dies für Inhaftierte, die der Arbeitspflicht unterliegen (wie im Fall Genditzki gemäß Art. 43 BayStVollzG). Ganz nebenbei wird die niedrige Entlohnung u.a. damit begründet, Gefangene erhielten ja Kost und Logis frei.
Und nun sollen diejenigen, die zu Unrecht einem solchen Niedrigstlohn- und Zwangssystem ausgesetzt wurden, ihre kärglichen Arbeitsentgelte auch noch – im Wege der Aufrechnung – an die Justiz zurückzahlen? Auf die Idee kann nur eine empathiefreie Buchhaltung kommen. Wiedergutmachung jedenfalls geht anders.
Gute Sitten, schlechte Sitten
Zurück zum zivilrechtlichen Schadensersatzrecht: Danach müssen sich Geschädigte Vorteile, die aus der Schädigung resultieren, anrechnen lassen. Aber soll dies auch gelten, wenn der Staat den Schaden verursacht hat? Und sogar dann, wenn dieser Schaden auf einem Fehlurteil, einem "Justizirrtum" beruht?
Will sich der Schädiger auf den Vorteilsausgleich berufen, kann ihm das unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) verwehrt und seine Forderung damit sittenwidrig sein. So entschied es der Bundesgerichtshof im Jahr 2009 in einem Schadensersatzverfahren wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen (BGHZ 182, 301). Auch wenn der damalige Fall auf den vorliegenden Sachverhalt sicher nicht 1:1 übertragbar ist: Der BGH-Entscheidung ist eine Mahnung an die Einhaltung guter Sitten zu entnehmen. Und zwar gerade dann, wenn sich der Staat mit allzu berechtigten Forderungen der ihm zu Unrecht Unterworfenen – und eine härtere Unterwerfung als die im Gefängnis ist kaum vorstellbar – auseinanderzusetzen hat.
Entschuldigung statt Entschuldung
Für den (Straf)Rechtsstaat ist die Verurteilung Unschuldiger der GAU, ihre jahrelange Inhaftierung der Super-GAU. In deutschen Gefängnissen sitzen – das lehren uns Studien über die Fehlerquellen der Strafrechtspflege – zahlreiche Justizopfer. Nur wie viele es sind, weiß niemand. Erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren (wie im Fall Genditzki) sind die seltene Ausnahme und erfassen, so ist anzunehmen, allenfalls die Spitze des Eisbergs.
Mit diesem schlechten Gewissen muss der Rechtsstaat, müssen seine Akteure leben. Ein großzügiges Entschädigungsrecht wäre somit das Mindeste, um das Gewissen zu beruhigen und Strafjustizopfer wenigstens finanziell und sozial zu rehabilitieren. Sie dagegen für die Kosten unrechtmäßiger Inhaftierung zur Kasse zu bitten, ist eine Schande für den sozialen Rechtsstaat. Eine StrEG-Reform gehört zwingend auf die Agenda der nächsten Koalition. Ob die derzeitige Aufrechnungspraxis überhaupt "legal" ist, haben im Fall Genditzki die zuständigen Gerichte zu entscheiden.
Die Vorsitzende Richterin des Wiederaufnahmeverfahrens hat sich im Namen des Gerichts – und damit letztlich auch im Namen des Volkes – bei Herrn Genditzki entschuldigt: Wird sich die bayrische Justiz bei ihm dafür entschuldigen, gegen seine allzu berechtigten Ersatzforderungen kleinlich aufrechnen zu wollen?
Prof. Dr. Helmut Pollähne ist Strafverteidiger, Honorarprofessor an der Universität Bremen und Redakteur der Fachzeitschrift Strafverteidiger. Außerdem ist er Autor bzw. Herausgeber zahlreicher Kommentare, Bücher und Aufsätze zu den Themenbereichen Strafverteidigung, Kriminologie, Menschenrechte, Vollstreckungs- und Vollzugsrecht und Forensische Psychiatrie.
Haftentschädigung und Vorteilsausgleich: . In: Legal Tribune Online, 19.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56151 (abgerufen am: 12.02.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag