Ukraine-Krieg, Pandemie, Klimakrise: Das GG feiert seinen 73.Geburtstag in bewegten Zeiten. Doch gibt es noch angemessene Antworten auf die aktuellen Herausforderungen? Staatsrechtler Alexander Thiele sieht die Politik in der Vorhand.
LTO: Herr Prof. Thiele, der Bundesminister der Justiz, Dr. Marco Buschmann, hat uns anlässlich des heutigen Tages mehr Verfassungspatriotismus ans Herz gelegt. Für unser Grundgesetz (GG) könne man dankbar und stolz sein. Und es werde den großen Herausforderungen unserer Zeit "mehr als gerecht". Hat der Minister recht?
Prof. Dr. Alexander Thiele: Wir sollten jedenfalls zur Kenntnis nehmen, dass das GG, so wie es 1949 in Kraft getreten ist, seinen Beitrag geleistet hat, eine stabile politische Ordnung zu etablieren. Das ist nicht selbstverständlich. Demokratische Ordnungen erhalten sich nicht von selbst, da muss viel zusammenkommen. Aber unsere Verfassung hat mit ihrer Struktur und dem politischen System, das sie etabliert hat, einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir heute in einer funktionierenden, demokratischen Ordnung leben können.
"Einen Beitrag geleistet", das klingt ja nicht gerade überschwänglich…
Nun, eine Verfassung allein schafft noch keine gute demokratische Ordnung. Sie muss getragen werden von der Bevölkerung, den politischen Entscheidungsträgern usw.; es müssen viele Rädchen ineinandergreifen.
Können wir uns auch in Zukunft auf diesen Beitrag des GG verlassen? Sie haben am letzten GG-Geburtstag darauf hingewiesen, dass auch das GG nur eine provisorische Ordnung darstellt und vergänglich ist.
Natürlich muss auch an Verfassungsordnungen gearbeitet werden, weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Aber im Kern passt das heutige GG auch zu den aktuellen Herausforderungen unserer Zeit und ist ihnen sehr gut gewachsen.
Ich warne insoweit auch davor, wegen allem und jedem sofort eine Verfassungsänderung zu erwägen oder auf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu setzen. Kinderrechte ins GG, Klimaschutz ins GG etc. Es bedarf nicht erst einer GG-Änderung, um mehr für die Kinder oder das Klima zu tun.
Im Zweifel fehlt es am politischen Willen, nicht aber an einer Regelung im GG. Politische Fragen sollten nicht immer gleich als rechtliche bzw. verfassungsrechtliche umgedeutet werden. Und die Verfassung sollte auch nicht ohne Not den politischen Spielraum des Gesetzgebers einengen – erst recht nicht in hochumstrittenen Politikfeldern.
"Schuldenbremse gehört nicht in die Verfassung"
Sie spielen auf die in Art. 109 GG verankerte Schuldenbremse an?
Richtig, hier steht unser GG der Politik aktuell im Wege – wie man jetzt beim Thema Bundeswehr-Sondervermögen sieht.
Bei der Schuldenbremse hat man mit einem Wesenszug unserer Verfassung, nämlich der Neutralität gegenüber der Wirtschaftsordnung, gebrochen und hat eine hoch umstrittene Ideologie in das GG geschrieben, die da lautet: "Staatsverschuldung ist schlecht". So etwas tut der Verfassung nicht gut. Sie gehört da nicht rein.
Kommen wir mal zu den erwähnten Rädchen, die ineinandergreifen müssen, damit unser demokratisches Gemeinwesen stabil funktioniert. Eines davon ist sicher auch der "Hüter der Grundrechte", das BVerfG. Die taz meint, dass die Urteile des Gerichts in der Praxis wichtiger seien als das GG selbst. Müssten wir heute also nicht eher das BVerfG feiern, weil es die Verfassung erst mit Leben füllt?
Das BVerfG war vor allem in der Anfangszeit des GG sehr wichtig, indem es die politische Kultur einer Grundrechte-Republik durchgesetzt hat.
Die besondere Wirkung der Grundrechte, ihre Ausstrahlung in alle Rechtsbereiche hinein, all das war nicht selbstverständlich. Schließlich gab es auch keine entsprechende Tradition, auf die das BVerfG zurückgreifen konnte. Entscheidungen wie das Elfes- oder Lüth-Urteil von 1957 bzw. 1958 waren Meilensteine und trugen maßgeblich zur Stabilität der politischen Ordnung bei.
Allerdings hat sich das inzwischen geändert. Heute, in einer Zeit, in der unsere politische Ordnung als gefestigt gelten kann, sehe ich die Rolle des BVerfG zunehmend skeptisch: Es nimmt dem politischen Raum zu viel Luft zum Atmen. Ich sprach es ja schon an: Politische Fragen werden immer häufiger in verfassungsrechtliche umgedeutet und werden damit zwangsläufig zu Fragen, die angeblich nur das BVerfG beantworten kann.
"Zurückhaltung des BVerfG bei Corona war richtig"
Im Zusammenhang mit den durch die Corona-Maßnahmen erfolgten Grundrechtseingriffen wurde das BVerfG für das Gegenteil heftig kritisiert: Es habe Regierung und Parlament einen viel zu großen Spielraum zugebilligt – etwa bei der Entscheidung zur Bundesnotbremse. Diese Zurückhaltung des BVerfG dürfte ihnen gefallen haben?
Ja, denn sie war richtig. Der große Aufschrei, der erfolgte, zeigt, dass wir uns zu sehr daran gewöhnt haben, dass politisch umstrittene Fragen rechtlich gelöst werden müssen. Karlsruhe hat zu Recht das Primat der Politik betont.
Andererseits wäre es auch falsch, zu behaupten, die Politik könne machen, was sie will. Die Karlsruher Richter:innen haben sowohl im Fall der Bundesnotbremse als auch zuletzt bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht Leitplanken eingezogen. Und dass das BVerfG dann, wenn es drauf ankommt, auch als Hüter der Grundrechte zur Stelle ist, hat erst kürzlich die Entscheidung zum bayerischen Verfassungsschutzgesetz gezeigt.
Aber: Die Corona-Pandemie lässt sich nicht rechtlich lösen. Zur Bewältigung der Situation muss die Politik am Zuge sein und nicht das BVerfG. Mehr Politik wagen, lautet also die Devise.
Wenn Sie unsere aktuelle Verfassung ad hoc ändern könnten, wo würden sie es tun?
Neben dem erwähnten Staatsschuldenrecht müssen wir die Verflechtung des Bundesstaats wieder auflösen: Wir brauchen bei den Finanzbeziehungen von Bund und Ländern klarere Strukturen und Verantwortlichkeiten.
Ein Beispiel: Man weiß gar nicht mehr, wen man abwählen soll, wenn die Schulpolitik schlecht läuft. Einerseits befinden sich Schulen in der Kompetenz der Länder, andererseits ist für ihre Finanzierung zunehmend auch der Bund zuständig. Und beide zeigen mit dem Finger aufeinander. Für eine demokratische Ordnung ist es immer schlecht, wenn Verantwortlichkeiten verschmelzen.
"GG erlaubt auch Waffen für die Ukraine"
Der Ukraine-Krieg tobt seit drei Monaten. Inwieweit verpflichtet die Verfassung Deutschland zur Zurückhaltung?
Das GG steht einer solidarischen Hilfeleistung gegenüber der Ukraine nicht entgegen. Es erlaubt auch Waffenlieferungen. Olaf Scholz kann sich jedenfalls bei seiner Zögerlichkeit nicht auf das GG berufen.
Dieses würde allenfalls einer Unterstützung Putins entgegenstehen, weil Art. 26 GG wohl auch das Verbot umfasst, dass sich Deutschland mittelbar an einem Angriffskrieg beteiligt.
Ginge es nach Ihnen, würden wir heute nicht arbeiten. Sie plädieren dafür, den 23. Mai als gesetzlichen Feiertag einzuführen.
Ja, das wäre ein guter Schritt. Der Verfassungstag ist der Tag, hinter dem sich alle Bürgerinnen und Bürger des Landes versammeln könnten – anders etwa als an den religiösen Feiertagen.
An 23. Mai können alle zusammenstehen und sich zu der durch das GG etablierten politischen Ordnung bekennen. In diesem Sinne verstehe ich übrigens auch Marco Buschmann, wenn er von "Verfassungspatriotismus" spricht.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Dr. Alexander Thiele ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der BSP Business & Law School Berlin.
Interview zum Tag des Grundgesetzes: . In: Legal Tribune Online, 23.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48538 (abgerufen am: 15.10.2024 )
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