75 Jahre Grundgesetz: Die unge­plante Ver­fas­sung

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz

17.05.2024

Der Parlamentarische Rat hatte Krisenszenarien vor Augen, die so nie kamen. Markante Entwicklungen, die das GG lebendig gehalten haben, waren umgekehrt nicht im Text des GG angelegt. Geprägt hat es schließlich vor allem die "Rechtswirklichkeit".

Das Grundgesetz war als Provisorium konzipiert und wurde durch glückliche Fügung zur dauerhaften Verfassung. Es war aber auch eine ungeplante Verfassung. Nicht wenige der Krisenszenarien, denen der Parlamentarische Rat durch Verfassungsdesign entgegenzuwirken versuchte, blieben praktisch bedeutungslos. Das war manchmal schlichtes Glück, oftmals Folge eines funktionierenden politischen Systems. Markante Entwicklungen und Eigenschaften, die das Grundgesetz heute auszeichnen, aber waren überwiegend weder im Text noch in der Teleologie der Verfassung selbst angelegt, sondern sind das Produkt evolutiver Verfassungspraxis, die eine aktive Verfassungsrechtsprechung vorangetrieben hat. Manches hatte man sich 1949 ganz anders, vieles gar nicht vorgestellt, was hier anhand von vier Beispielen gezeigt werden soll.

I. Das Bundesverfassungsgericht als Maschinenraum des Grundgesetzes

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner heutigen wirkmächtigen Rolle selbst erfunden. Im Parlamentarischen Rat gehörte die Verfassungsgerichtsbarkeit zu den vergleichsweise wenig umstrittenen Institutionen. Es gab gewisse Vorbehalte gegen eine Justiz, die in der Weimarer Republik teils durch einen reaktionären Habitus aufgefallen war und sich im NS-Staat ganz überwiegend opportunistisch gezeigt hatte. Eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit mit qualifizierter politisch-demokratischer Legitimation war die institutionelle Antwort. Eine dominante Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Staatsleben hatte man dabei nicht im Blick.

Es kam bekanntlich anders. Das Gericht hat seine staatspolitische Rolle nicht nur als Folge von Konflikten erlangt, die an das Gericht herangetragen wurden. Es bestand vielmehr auch einen Prozess der Selbstbehauptung gegen politische Institutionen, zwischen denen es hätte marginalisiert werden können. Konflikte mit Adenauers Justizminister Thomas Dehler (FDP) sind legendär, der damals recht unverblümt eine bis heute persistente Sorge aussprach, ein unkontrolliertes Bundesverfassungsgericht könnte zu einer heimlichen Überregierung mutieren. Der heute schwer nachvollziehbare Statusstreit, ob das Gericht ein Verfassungsorgan auf Augenhöhe sei, war auch ein Kampf um einen Sonnenplatz im Verfassungsleben.

Das Bundesverfassungsgericht wäre vermutlich nicht so erfolgreich gewesen und die im öffentlichen Ansehen am höchsten stehende Institution geworden, wenn es sich in richterlicher Zurückhaltung geübt hätte. Es wurde zum Maschinenraum des Grundgesetzes und damit zum Geburtshelfer eines späteren "Verfassungspatriotismus", weil es von Anfang an (mit Amplituden) eine aktive und interventionistische Rolle einnahm, die die Verfassung mit Leben füllte.

Im Rückblick auf das Jahr 1949 gehört es zu einer ehrlichen Bilanz, dass der justizstaatliche Fokus auf ein Gericht die wichtigen Beiträge anderer Verfassungsorgane und der Instanzgerichte, das Grundgesetz vital, jung und erfahrbar zu halten, sehr schnell völlig in den Schatten gestellt hat.

Dass man das Bundesverfassungsgericht als Schlüsselinstitution des Verfassungslebens gegen einen inadäquaten politischen Zugriff schützen müsse, war 1949 hingegen kein Szenario. Die Versäumnisse von damals werden reichlich spät erst jetzt diskutiert.

II. Die Ausrichtung der Rechtsordnung auf die Grundrechte

Das Grundgesetz wird gesellschaftlich vor allem als Grundrechtsverfassung wahrgenommen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben zwar die Grundrechte entgegen legistischen Traditionen an den Anfang gestellt, aber gleichwohl oftmals markante Entwicklungen nicht vorhergesehen. Es waren Wegmarken der Verfassungsrechtsprechung, die in der jungen Bundesrepublik sukzessive und in vergleichsweise kurzer Frequenz unser heutiges Verständnis der Grundrechte aus einem deutungsoffenen Interpretationssubstrat herausschälten.

Mit der Lüth-Entscheidung (BVerfGE 7, 198 – 1958) begann die Durchdringung der Rechtsordnung mit den Wertungen der Grundrechte. Die Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6, 32 – 1957) machte die allgemeine Handlungsfreiheit zum Auffanggrundrecht und bewirkte so eine Universalisierung des Grundrechtsschutzes, der keine belanglose Freiheit mehr kannte. Im Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377 – 1958) wurde die Verhältnismäßigkeit entwickelt, die inzwischen das pulsierende Herz des Grundrechtsschutzes ist. So wurde das Bundesverfassungsgericht erst zum heutigen Grundrechtsgericht.

Die Verfassungsbeschwerde ist der Rechtsbehelf, der das Grundgesetz als greifbare Verfassung in das Bewusstsein der Gesellschaft gerückt und das Bundesverfassungsgericht zur Instanz der Bürgerinnen und Bürger gemacht hat. Der Rechtsbehelf war 1949 jedoch noch gar nicht vorgesehen. Die Verfassungsbeschwerde gelangte einfachgesetzlich im Jahr 1951 in die §§ 90 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Und erst 1969 wurde sie durch das 19. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes – als Gegengewicht zu der Notstandsverfassung – konstitutionalisiert.

Die Subjektivierung der Rechtsordnung und ihre Ausrichtung auf die Rechte Einzelner gehört zu den bedeutendsten Entwicklungen der Nachkriegszeit, die zwar durch das Grundgesetz angestoßen, aber erst durch Rechtsprechungsarbeit ausgeformt wurde. Schon das – wenig bekannte – Fürsorgeurteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 1, 159 – 1954) zeigte dies in kraftvoller Diktion. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG hat vielleicht am deutlichsten den Charakter der Rechtsordnung geprägt, die Verfassung in die Verästelungen des Verwaltungsrechts projiziert und damit verfügbar gemacht. Zugleich war die Idee des subjektiven Individualrechtsschutzes eine unausgesprochene Brücke zu den (guten, aber vordemokratischen) Justiz- und Rechtsstaatstraditionen.

III. Wehrhafte Demokratie mit anderen Mitteln

Das Grundgesetz wurde aus historischen Vulnerabilitätserfahrungen nach dem Modell der militant democracy (Karl Loewenstein) geformt, das der Klugheit des demokratischen Prozesses latent misstraut und die Staatsorgane mit Kompetenzen ausstattet, elementaren Voraussetzungen des demokratischen Rechtsstaats auch gegen Angriffe in demokratischem Gewande zu schützen. Viele Instrumente wie Richteranklage (Art. 98 Abs. 2, 5 GG), Präsidentenanklage (Art. 61 GG) oder Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) sind freilich historisch völlig bedeutungslos geblieben. Und versuchte Parteiverbotsverfahren hatten seit den Verboten von SRP und KPD in den 1950er Jahren nur noch symbolische Funktion. Präzisierungen der Maßstäbe gingen maßgeblich auch auf internationale Entwicklungen zurück.

Der für die bundesrepublikanische Geschichte prägend gewordene Umgang mit Extremisten im Öffentlichen Dienst war hingegen 1949 noch kein Thema. Im Parlamentarischen Rat sorgte sich Ludwig Bergsträsser (SPD), einer der Gestalter der Grundrechtskatalogs, vor allem vor Professoren, die Studierende gegen die verfassungsmäßige Ordnung aufhetzen, weshalb wir die – praktisch bedeutungslose – Angstklausel zur Verfassungstreue in der Lehre bekamen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG). Ein Vorgehen gegen Verfassungsfeinde im Öffentlichen Dienst wurde letztlich unvorhergesehen auf die politische Treuepflicht als Ausprägung hergebrachter Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) – ein preußisches Erbe des Grundgesetzes – gestützt.

IV. Vom legalen Staatsstreich zum Unionsverfassungsrecht

Der invariante Verfassungskern nach Art. 79 Abs. 3 GG wirkte anfangs wie ein naives Bollwerk gegen einen "legalen" Staatsstreich. Der Appell an die Verfassungstreue des verfassungsändernden Gesetzgebers wurde schon in der Aussprache im Parlamentarischen Rat parodiert: "Einführung der Diktatur ist verboten" oder "Wir sind für die Revolution nicht" zuständig". Tatsächlich spielte diese Norm in der Rechtsprechung im Wesentlichen erst seit der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 89, 155 – 1993) eine wahrnehmbare Rolle, seitdem sie als Schranke gegen ein demokratie- und rechtsstaatsinkompatibles Fortschreiten der europäischen Integration bemüht wurde. Aus der Perspektive von 1949 hätte diese Aktivierung der Verfassungsidentität überrascht.

V. Das Grundgesetz und seine Zeit

Ein Rückblick auf das Jahr 1949 erinnert daran, dass das Grundgesetz seine Zeit hat. Verfassungen durchlaufen Entwicklungen, die weniger von ihren formalen Veränderungen als von dem geprägt werden, was die "Rechtswirklichkeit" aus einer Verfassung macht. Auch wenn die einzelne Norm statisch bleibt, verändert sich die Rechtsordnung mit jedem Anwendungsakt. Die berufenen Interpretinnen und Interpreten einer Verfassung werden hierbei immer Kinder ihrer Zeit bleiben. Der konkrete Verfassungsbedarf hängt wiederum von zeitgenössischen Konflikten ab, die an die Institutionen des Verfassungslebens herangetragen werden. Wichtig bleibt daher ein beobachtender Blick, der Entwicklungen in der Zeit sichtbar macht. Die Rechtswissenschaft muss ihr Verständnis für die Eigenhistorizität des Rechts deutlicher ausschärfen. Und die Geschichtswissenschaft würde profitieren, die politische Gestaltungsmacht des Rechts ernster zu nehmen, worauf Dieter Grimm (Die Historiker und die Verfassung, 2022) zuletzt überzeugend hingewiesen hat.

Das Grundgesetz selbst entstand in vielerlei Hinsicht aus einer Retrospektive, ist aber ein Zukunftsprojekt geworden und geblieben. Gelungene Verfassungen lassen sich nicht planen. Sie gehen eigene Wege, die ihnen die Mütter und Väter eines Normtextes nicht zugedacht haben. Thomas Jeffersons Phobie vor einer dead hand rule wurde in das Fundamt jeder modernen Verfassungen miteingegossen. Eine Verfassung, die den Menschen dient, wird von diesen weitergetragen. Es ist ihre Verfassung und ein politisches Instrument, kein Volkslesebuch unter Urheberrecht. In diesem Sinne gehört es zur Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes, dass wir "1949" heute historisieren können, ohne die Bedingungen zu vergessen, von denen die Verfassung lebt.

Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Bonn.

Zitiervorschlag

75 Jahre Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 17.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54564 (abgerufen am: 13.11.2024 )

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