2/2: Niederlande monieren multiple Rechtsbrüche Russlands
Wesentlich kontroverser dürften die Richter in den kommenden Tagen diskutieren, ob und inwieweit Russland die Rechte der Niederlande verletzt hat und durch das Festhalten der Crew und des Schiffes weiterhin verletzt. Ähnlich dem deutschen Eilrechtsschutz muss das Gericht allerdings nicht zu einer absoluten Gewissheit gelangen, da es sich um ein vorläufiges Verfahren handelt.
Die Niederlande listen eine ganze Reihe von Rechten auf, die Russland ihrer Meinung nach verletzt habe. So etwa die Freiheit der Schifffahrt, die anderen Staaten gem. Art. 58 Abs. 1 i.V.m. Art. 87 Abs. 1 lit. a) SRÜ auch in der ausschließlichen Wirtschaftszone eines Landes gewährt wird, in der sich der Fall der Arctic Sunrise zugetragen hat.
Weiterhin fühlen sich die Niederlande in eigenen Hoheitsrechten verletzt: Gemäß Völkergewohnheitsrecht und Art. 94 SRÜ übt jeder Staat die Hoheitsgewalt und Kontrolle über die seine Flagge führenden Schiffe aus. Die Arctic Sunrise unterlag also der Hoheitsgewalt der Niederlande. Diese habe Russland durch das Entern des Schiffes und die Festnahme der Crew missachtet.
Verletzung der Sicherheitszone durch Greenpeace maßgeblich
Zwar erlaubt das SRÜ in bestimmten Fällen Eingriffe in die oben genannten Rechte. René Lefeber von der niederländischen Delegation hält diese jedoch allesamt für nicht einschlägig.
Das Betretungsrecht aus Art. 110 Abs. 1 lit. a) SRÜ für Fälle von Piraterie lässt sich als Rechtfertigungsgrund wohl in der Tat ausschließen – zumal inzwischen sowohl Russlands Präsident Putin als auch Regierungschef Medwedjew eingeräumt haben, dass es sich bei Greenpeace-Aktivisten offensichtlich nicht um Piraten handele.
Ein anderer Rechtfertigungsgrund lässt sich dagegen wesentlich schwerer ausräumen: Um die Ölbohrinsel Prirazlomnaya hat Russland eine Sicherheitszone von drei Meilen eingerichtet. Diese ist zwar äußerst üppig dimensioniert, wenn man bedenkt, dass Art. 60 Abs. 5 SRÜ für Sicherheitszonen nur eine Ausdehnung von 500 Metern vorsieht. Doch ist dies letztlich wohl nicht entscheidend, wie Rainer Lagoni, emeritierter Professor für öffentliches Seerecht an der Universität Hamburg, erläutert: "Jedenfalls die Schlauchboote von Greenpeace haben die Sicherheitszone verletzt. Auf diese ist abzustellen, da die Arctic Sunrise deren Mutterschiff ist."
Wenn aber die Sicherheitszone verletzt wird, kann der betreffende Staat gemäß Art. 60 Abs. 4 SRÜ geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Schifffahrt und der Insel zu gewährleisten. Daher argumentieren die Niederlande insoweit hilfsweise mit der Unverhältnismäßigkeit der von Russland getroffenen Maßnahmen.
In diese Kerbe schlägt auch Rainer Lagoni, der es insbesondere als unverhältnismäßig ansieht, nicht nur den Kapitän, sondern die gesamte Besatzung festzuhalten. Außerdem weist er auf Art. 300 SRÜ hin – eine Vorschrift über Treu und Glauben im Bereich des Seerechts.
Vollstreckung des Urteilsspruches unmöglich
Der japanische Gerichtspräsident Shunji Yanai hat die Entscheidung des ISGH für den 22. November angekündigt.
Rainer Lagoni erwartet ein ausgewogenes Urteil und verweist darauf, dass der ISGH in der Vergangenheit immer auch auf Diplomatie bedacht gewesen sei. Die niederländische Delegationsführerin äußerste sich nach der Anhörung zuversichtlich, dass im Urteil viele argumentative Punkte der Niederlande berücksichtigt würden.
Doch was auch immer die Richter in Hamburg entscheiden – mangels Vollstreckungsmöglichkeiten kann das Urteil nicht ohne die Kooperation Russlands durchgesetzt werden. Bislang hat zwar noch jeder angeklagte Staat die Entscheidungen des ISGH befolgt. Doch mit seiner Abwesenheit am Verhandlungstag gestern zeigte Russland bereits, dass es vor der Schaffung von Präzedenzfällen offenbar nicht zurückschreckt.
Jens Kahrmann, Verfahren vor dem Internationalen Seegerichtshof: . In: Legal Tribune Online, 07.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9973 (abgerufen am: 09.11.2024 )
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