CDU-Pläne für eine Pflicht zum sozialen Jahr: Verpf­lich­tendes Gesell­schafts­jahr ist men­schen­rechts­widrig

von Prof. Niko Härting

17.09.2022

Die CDU möchte das Grundgesetz ändern und ein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr" für junge Menschen einführen. Doch eine solche Zwangsarbeit würde spätestens an der Europäischen Menschenrechtskonvention scheitern, meint Niko Härting

"Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht." Dieser Satz findet sich seit 1949 unverändert in Art. 12 Abs. 2 GG. Er ist geprägt von den Erfahrungen der Nazizeit. Millionen Menschen mussten während der NS-Zeit in Deutschland und in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Zwangsarbeit leisten. 

Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Carsten Linnemann und der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing plädierten wenige Tage vor dem Bundesparteitag der CDU in der FAZ dafür, den Begriff der "herkömmlichen" Dienste " in Art 12. Abs. 2 GG dynamisch zu interpretieren". "Herkömmlich" könnten auch Dienste sein, "deren Form mit neuem Inhalt gefüllt wird". Dies lässt sich als eine "unbegrenzte" Auslegung verstehen, die sich weder am Wortlaut des Grundrechtsartikels stört noch den historischen Hintergrund des Art. 12 Abs. 2 GG in den Blick nimmt. Wenn bereits der (jedenfalls aus Sicht der Verfasser) "gute Zweck" eines "Gesellschaftsjahrs" jede Auslegung rechtfertigt und Zwang als "Akt der Solidarität" verkauft wird, gerät potentiell jedes Grundrecht in Gefahr, uminterpretiert zu werden. Dies ist eine "slippery slope", auf die sich gestandene Juristen hierzulande schon aufgrund unserer historischen Erfahrungen nicht begeben sollten. 

Linnemanns Partei ist ihrem Parteitagsbeschluss nicht so weit wie er selbst und Prof. Thüsing gegangen. Immerhin erkennt sie die Notwendigkeit einer Änderung des Art. 12 Abs. 2 GG an. Doch sie übergeht ebenfalls die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die aus dem Jahr 1950 stammt und gleichfalls von den schmerzlichen Erfahrungen und frischen Erinnerungen aus Weltkrieg und Gewaltherrschaft geprägt ist. So heißt es in Art. 4 Abs. 2 EMRK: "Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten."  

Zivildienst nur als Ersatzdienst zur Wehrpflicht zulässig 

In Art. 4 Abs. 3 EMRK finden sich Ausnahmen von dem Verbot der Zwangsarbeit. Erlaubt sind Arbeitsverpflichtungen von Strafgefangenen (Art. 4 Abs. 3 lit. a EMRK). Erlaubt ist auch die Wehrpflicht und ein verpflichtender Ersatzdienst (Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK). Dies stimmt im Kern überein mit Art. 12a GG, der eine (Wieder-)Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht und eines Ersatzdienstes grundsätzlich ermöglicht. 

Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK und Art. 12a GG laden gelegentlich zu Missverständnissen ein. Dienste in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Sozialeinrichtungen, die jetzt für ein "Gesellschaftsjahr" vorgeschlagen werden, gehörten bis 2011 zu den typischen Tätigkeiten von Zivildienstleistenden. Warum in einem "Gesellschaftsjahr" nicht möglich sein soll, was bis zur Aussetzung der Wehrpflicht im Zivildienst alltäglich war, leuchtet manchen nicht ein. Dabei wird vergessen, dass der Zivildienst eine Ausnahme war vom Wehrdienst für junge Menschen, die sich aus Gewissensgründen gehindert sahen, Dienst an der Waffe zu leisten. Entsprechend sind auch Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK und Art. 12a Abs. 2 GG formuliert: Der zivile "Gesellschaftsdienst" ist nicht mehr als ein möglicher "Ersatz" für die Wehrpflicht und setzt daher die – in Deutschland ausgesetzte – Wehrpflicht voraus.  

Art. 4 Abs. 3 lit. c EMRK kommt als Grundlage für ein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr" gleichfalls nicht in Betracht, da es sich um eine Ausnahme für Dienstpflichten bei "Notständen oder Katastrophen" handelt. Die Einführung einer Dienstpflicht zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts lässt Art. 4 Abs. 3 lit. c EMRK nicht zu. 

Ausnahmen vom Verbot der Zwangsarbeit greifen nicht  

Die einzig verbleibende Ausnahme ist Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK – die Pflicht zu einer "Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört". Dass dies – ebenso wie Art. 12 Abs. 2 GG - eine Norm zur Aufrechterhaltung "herkömmlicher" Pflichten ist und keine Grundlage sein kann für die Schaffung neuer Dienstpflichten, liegt auf der Hand. Hier gilt dasselbe wie für Art. 12 Abs. 2 GG. Wenn man sich nicht – wie von Linnemann und Thüsing angedeutet – vollständig über den Wortlaut der Norm und ihren historischen Hintergrund hinwegsetzen möchte, lässt auch Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK kein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr" zu. 

Rechtlich kann das Fazit nur lauten: Der CDU-Vorschlag für ein "Gesellschaftsjahr" ist nicht nur mit dem Grundgesetz unvereinbar, sondern auch menschenrechtswidrig. Ein hartes Verdikt für eine Idee, die ohne jeden Zweifel gut gemeint ist. Denn es geht der CDU darum, "Verständnis füreinander (zu) wecken, Erfahrungen und Erlebnisse (zu) ermöglichen, den Zusammenhalt (zu) fördern". Wer würde solchen Zielen schon widersprechen? Doch auch eine gut gemeinte Zwangsarbeit bleibt Zwangsarbeit. 

Konsequenz wäre Haft für Verweigerer   

Das ganze Ausmaß der bürger- und menschenrechtliche Dimension eines "Pflichtjahrs" versteht man nur, wenn man eine Komponente in den Blick nimmt, die der CDU-Parteitagsbeschluss konsequent ausblendet. Wer eine "Pflicht" fordert, schuldet eine Antwort auf die Frage, wie eine solche Pflicht denn durchgesetzt werden soll. Denn ein "verpflichtendes" Jahr bräuchte man nicht, wenn man nicht zugleich davon ausgeht, dass es "Verweigerer" geben wird – junge Menschen, die versuchen werden, sich einem "Gesellschaftsjahr" auf die ein oder andere Weise zu entziehen. 

Erinnert man sich an Zeiten der Wehrpflicht und der "Totalverweigerer", weiß man, wie die Durchsetzung im Zweifel aussehen wird: Man wird Polizisten und Gerichte benötigen, die die Pflicht mit unmittelbarem Zwang, mit Zwangsgeldern und Geldstrafen, mit Arrest oder Haft durchsetzen. Härte wäre nötig. Denn dem "gesellschaftlichen Zusammenhalt" wäre es naturgemäß abträglich, wenn sich eine Minderheit einem Dienst, den die Mehrheit pflichtgemäß leistet, auf leichte Weise entziehen könnte.  

Im Osten Deutschland galt Arbeitsverweigerung bis 1989 als "asoziales Verhalten", das nicht § 249 des Strafgesetzbuchs der DDR mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden konnte. Dies war menschenrechtswidrig. Und nichts Anderes würde mehr als 30 Jahre später für ein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr" gelten, das mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden müsste.   

Zitiervorschlag

CDU-Pläne für eine Pflicht zum sozialen Jahr: Verpflichtendes Gesellschaftsjahr ist menschenrechtswidrig . In: Legal Tribune Online, 17.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49645/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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