Wenige Themen sind emotional derart aufgeladen wie das Gendern – Sternchen, Doppelpunkt oder Beibehaltung des generischen Maskulinums? Und was fordert eigentlich das Grundgesetz? Fragen an Verfassungsrechtlerin Anna Katharina Mangold.
LTO: Frau Professorin Mangold, vor unseren Toren wütet der Ukraine-Krieg und wir führen jetzt ein Gespräch zum Gendern. Sollen wir uns das Thema für einen späteren Zeitpunkt aufsparen, es gibt doch gerade Wichtigeres?
Prof. Dr. Anna Katharina Mangold: Nein. Denn wir erleben gerade, wie geschlechtergerechte Sprache in einen Gegensatz zum Krieg gebracht wird. Nach dem Motto: Gendern senkt die Wehrbereitschaft.
Mich hat kürzlich ein Text der ansonsten von mir sehr geschätzten Historikerin Hedwig Richter in der Zeit irritiert. Sie schrieb: "Der Himmel über uns ist bedeckt mit Gendersternen und die Luft flirrt von empfindlichen und zerbrechlichen Schneeflöckchen. Nie hatten die Menschen in Europa so viel Freizeit, nie so viel Wohlstand."
Genau, Gendern ist ein Luxusproblem und eher etwas für Friedenszeiten. Wir verabreden uns dann auf einen Latte-Macchiato in Prenzlauer Berg.
Geschlechtergerechtigkeit ist zu jeder Zeit aktuell. Erst recht in einer Zeit, in der traditionelle Rollenbilder sich wieder verfestigen: Die Männer halten ihre Körper gegen Putins Aggression hin, während Frauen (und Kinder) derzeit vor allem gute Flüchtlinge sind – die natürlich auf den Erfolg ihrer Männer hoffen.
Diese Bilder treffen nicht die Realität. Aber sie sind der Hintergrund, vor dem gegenwärtig das Bedürfnis nach einer geschlechtergerechten Sprache nun verstärkt delegitimiert wird.
"Kein anderes Thema echauffiert die Menschen derart"
Das Thema gegenderte Sprache bringt viele Menschen zur Weißglut. Auch wir bei LTO erleben das, wenn wir uns in unseren Texten um eine geschlechtergerechte Sprache bemühen.
Ich kenne kein anderes Thema, das Menschen so echauffiert wie geschlechtergerechte Sprache. Das Argument gegen Änderungen in der Sprache lautet eigentlich immer: "So haben wir es schon immer gemacht". Ich stehe auf dem Standpunkt, dass auch und manchmal gerade das, was früher selbstverständlich war, heute gerechtfertigt werden muss, vielleicht erstmals.
Sie haben im vergangenen Jahr einen Vorschlag gemacht, die brandenburgischen Landesverfassung geschlechtergerecht neu zu formulieren. Für welche Variante haben Sie sich entschieden – eine Doppelnennung, also "Ministerinnen und Minister"? Oder für Platzhalter wie Sternchen oder Doppelpunkt?
In dem Gutachten für die Landtagsfraktion der Grünen habe ich vorgeschlagen, das Gendersternchen "*" zu verwenden.
Mit einer Doppelnennung würde man hinter das zurückfallen, was das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2017 in seiner wegweisenden Entscheidung zur Dritten Option bereits für verfassungsrechtlich geboten gehalten hat.
So folgt aus dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG nicht nur die staatliche Aufgabe, bestehende gesellschaftliche Nachteile zwischen Männern und Frauen zu beseitigen, sondern aus Art. 3 Abs. 3 GG auch die Pflicht, eine positive Geschlechtsbezeichnung jenseits von "männlich" und "weiblich" für nicht-binäre Menschen zur Verfügung zu stellen. Deshalb müssen wir aus verfassungsrechtlichen Gründen Formulierungen finden, die auch nicht-binäre Menschen mitumfassen. Dabei ist das Sternchen freilich keineswegs der Weisheit letzter Schluss.
"Nicht geschlechtsspezifische Formulierungen finden"
Inwiefern?
Ich halte Formulierungen wie "der*die Minister*in" nicht nur sprachlich für wenig gelungen, sondern sie verfestigen doch auch weiter ein binäres Geschlechterdenken. Wir sollten für Amtsbezeichnungen ganz neue Formulierungen finden, die nicht geschlechtsspezifisch sind.
Gut eignet sich der Begriff "Person", ohnehin ein bewährter Rechtsbegriff. Also etwa "vorsitzende Person" oder statt Minister*in, "die Leitung des Bundesministeriums" oder auch "Leitungsperson" oder "Ministerialperson". Das BVerfG schreibt selbst in seiner Dritte-Option-Entscheidung von "antragstellender Person".
Allerdings: Die Verwendung des Gendersternchens wäre immerhin ein Anfang und der Vorschlag kommt zudem aus der queeren Community selbst.
Dem Sternchen "*" wird von Behindertenverbänden entgegengehalten, dass es sich nicht für Vorleseprogramme eigne.
Das ist eine Programmierungsfrage und lässt sich ändern. Geschlechtergerechte Sprache bedeutet eben, dass wir auch technische Dinge anpassen müssen. Wenn geschlechtergerechte Sprache gewollt ist, müssen liebgewonnene Gewohnheiten hinterfragt und geändert werden.
"Verfassung setzt nur äußersten Rahmen"
Ihre Kollegin Prof. Dr. Ulrike Lembke von der Berliner Humboldt-Uni hat für die Stadt Hannover ein Gutachten erstellt, das in der Öffentlichkeit für viel Aufregung gesorgt hat: Staatliche Stellen seien verpflichtet, geschlechterumfassende Sprache zu verwenden. Ist also jeder nicht gegenderte Text aus einer deutschen Behörde verfassungswidrig?
Die heftigen Anfeindungen, der die geschätzte Kollegin nach Bekanntwerden des Gutachtens ausgesetzt war, haben mich erschrocken und sind völlig inakzeptabel.
Doch auch wenn ich der Stoßrichtung von Kollegin Lembkes Vorschlag zustimme, habe ich doch ein anderes Verfassungsverständnis: Wir müssen genau schauen, wo unsere Verfassung tatsächlich verpflichtende Vorgaben macht, die nicht unterschritten werden dürfen.
Als Böckenförde-Schülerin meine ich: Die Verfassung setzt nur einen äußersten Rahmen und schreibt gerade nicht vor, wie dieser politisch genau auszufüllen ist. Aus Art. 3 Abs. 2 und 3 GG folgt, dass etwas gemacht werden muss, aber eben keine konkrete Formulierung, die uns das BVerfG aus dem Grundgesetz deduzieren könnte. Das Thema geschlechtergerechte Sprache lässt der Politik viel Raum und ist auch ein Stück weit ein Experimentierfeld.
Auch im Klimaschutz-Urteil hat das BVerfG gesagt, dass etwas gemacht werden muss, ohne konkrete Vorgaben zu machen, was genau. Deshalb werden Verfassungsbeschwerden, die auf bestimmte Klimaschutz-Maßnahmen gerichtet sind, voraussichtlich nicht erfolgreich sein.
"Im Sparkassen-Fall die falsche prozessuale Strategie gewählt"
Im Fall einer Frau, die ihre Sparkasse dazu zwingen wollte, auch die weibliche Form in Formularen zu verwenden, hat das BVerfG 2020 eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hier hätten Fragen der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache geklärt werden können.
Ja, im Fall der Beschwerdeführerin Marlies Krämer hat man aus meiner Sicht leider von Anfang an die falsche prozessuale Strategie gewählt und auf das Zivilrecht und die Zivilgerichte gesetzt.
Dabei ist die Sparkasse eine Anstalt des öffentlichen Rechts, die unmittelbar an Grundrechte und im konkreten Fall an das saarländische Gleichstellungsgesetz gebunden ist. Darin steht ausdrücklich, dass geschlechtergerecht formuliert werden muss. Hätte man den ganzen Fall als Aufsichtsfrage und damit als Frage des öffentlichen Rechts konstruiert, sähen die Sparkassen-Formulare im Saarland heute vermutlich anders aus. So aber landete man beim BGH und damit in der Privatautonomie-Falle, in der es um die komplizierte Frage der Grundrechtsbindung Dritter geht.
Noch einmal zurück zum Grundgesetz: Wenn man dort überall das generische Maskulinum liest, ist das ein Fall von verfassungswidrigem Verfassungsrecht?
Mit diesem Argument begibt man sich auf ganz dünnes Eis: Verträte man, dass die Verfassung ihrem eigenen Gebot nicht nachkommt, geschlechtergerecht zu formulieren, könnte man sich ja das Argument einhandeln, dass mit dem generischen Maskulinum tatsächlich nur Männer gemeint seien.
Aber das trifft natürlich nicht zu. Die Verfassung meint auch Frauen oder nicht-binäre Personen, selbst wenn im Text "jeder" steht. Diese universalistischen Deutungen des bestehenden Rechts gilt es zu schützen und nicht in Frage zu stellen. Frauen oder Menschen, die nicht binär sind, müssen sich auf diese Normen berufen können.
"Mehr Klarheit durch geschlechtergerechte Gesetze"
Die heutige Bundesaußenministerin, Annalena Baerbock, kassierte im Wahlkampf viel Empörung für Ihren Vorschlag, einfache Gesetzestexte geschlechtergerecht zu formulieren. Unter anderem wurde ihr vorgehalten, diese würden dann schwer verständlich, unnötig aufgebläht und entsprächen dann nicht mehr dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot.
Leute, die dagegen so schreien, haben sich offensichtlich noch niemals Gedanken über Formen geschlechtergerechter Sprache gemacht. Sie bleiben bei Doppelnennungen stehen. Aber die, wie gesagt, helfen uns schon gar nicht mehr weiter. Wir müssen grundsätzlich darüber nachdenken, ob und wie wir geschlechtsbezogen formulieren.
Wenn wir unsere Gesetze geschlechtergerecht ausgestalten, könnte dies zu mehr Präzision und Klarheit führen. Ein großes Problem heute ist ja: Wann sind nur Männer gemeint und wann liegt das generische Maskulinum als Genus-Bezeichnung vor, das auch Frauen umfasst?
Die frühere Bundesjustizministerin und heutige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte 2020 einen Gesetzentwurf für ein neues Insolvenzrecht vorgelegt, in der sie nur die weibliche Form verwendete. Nach Protest aus dem BMI, aber wohl auch aus dem eigenen Haus, wurde das Gesetz dann in altbekannter, männlicher Form verabschiedet.
Ja, der heutige parlamentarische Geschäftsführer der Union, Thorsten Frei, hatte damals die Sorge, das Gesetz gelte dann nur noch für Frauen. Auf einmal wird das Argument offenbar verständlich. Doch der Einwand zeigt, wie wichtig es eben ist, Gesetze nicht-geschlechtsspezifisch zu formulieren.
"BMJ sollte Handbuch der Rechtsförmlichkeit anpassen"
Was könnte die Politik nun tun, um auf eine geschlechtergerechte Sprache hinzuwirken?
Ich meine, das Bundesjustizministerium sollte mit gutem Beispiel vorangehen und das Handbuch der Rechtsförmlichkeit anpassen. Dieses hat den Charakter einer Verwaltungsvorschrift und würde die Ressorts dazu verpflichten, Gesetze geschlechtergerecht zu formulieren. Dort steht bislang nur, dass Gesetze "geschlechtssensibel" formuliert werden müssen. Was auch immer das heißt.
Das Handbuch ist zuletzt 2008 angepasst worden und berücksichtigt damit noch nicht die verfassungsrechtlichen Fortentwicklungen, wie etwa die Dritte-Option-Entscheidung des BVerfG von 2017.
Prof. Dr. Anna Katharina Mangold leitet die Abteilung Europa und Völkerrecht an der Europa-Universität Flensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Recht der Europäischen Integration, der feministischen Rechtswissenschaft und dem deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht.
Geschlechtergerechte Sprache und Recht: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48102 (abgerufen am: 12.10.2024 )
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