Diskussion um Reform der Strafprozessordnung: Magna Charta statt "Pizza mit Allem"

von Prof. Dr. Matthias Jahn

23.09.2022

Die Koalition will Strafprozesse "noch effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher" machen. Für Beschuldigtenrechte klingt das fast bedrohlich, meint Matthias Jahn und fordert eine Gesamtreform des Strafverfahrens mit Augenmaß.

Prozessgesetze müssen heutzutage schon im Titel modern, effektiv und praxistauglich sein. Und wäre, so mag mancher Beobachter mit einem Anflug von Zynismus konstatieren, bald ein Untersuchungshaftchancengesetz, das Gute-Verkehrsdatenerhebungs-Gesetz und ganz zum Schluss das Starke-Leichenschau-Gesetz zu erwarten? Die sprachlichen Potentiale scheinen fast ausgereizt. Aber es geht nicht nur um Worte. Charakteristisch in jüngerer Zeit ist, dass eindrückliche Einzelfälle die Gesetzgebungsmaschinerie mit Hilfe flankierender Medienarbeit verlässlich in Gang zu setzen vermögen. 

Reformen orientieren sich an Medienberichterstattung

Ein Beispiel ist etwa die im Gesetz zur Modernisierung der Strafprozessordnung (StPO) vor drei Jahren vorgenommene Erweiterung der DNA-Analysemöglichkeit auf äußerliche Merkmale sowie das Alter, die auf zwei aufsehenerregende Taten im Raum Freiburg zurückzuführen ist. Im Ausgangsfall Maria L. hatte dann allerdings ein gefärbtes Haar und nicht die DNA zu dem mittlerweile rechtskräftig Verurteilten geführt. Das soll nicht von vornherein heißen, dass sogenanntes Forensic Phenotyping kriminalistisch sinnlos ist. Weitergehende Änderungsvorschläge müssen jedoch nüchtern diskutiert werden können, ohne das Emotionalisierungspotential der Anlassfälle zu bemühen.

Das gelingt nicht immer. Selbst der Gesetzgeber hat sich eines erheblichen Maßes an Betroffenheitslyrik und Einzelfallrhetorik befleißigt, etwa im Wiederaufnahmerecht, wo er der materiellen Gerechtigkeit aus Anlass des tragischen Falls Frederike von Möhlmann nach Jahrzehnten doch noch zum Durchbruch zu verhelfen suchte. Es verwundert nicht, dass sich nach dem ersten Anwendungsfall des neuen Wiederaufnahmegrundes alle Augen nach Karlsruhe richten. Dort wird in absehbarer Zeit über die Verfassungsbeschwerde des mittlerweile durch eine mit denkbar knapper Mehrheit ergangene einstweilige Anordnung auf freien Fuß gesetzten, rechtskräftig Freigesprochenen entschieden werden.

Strafprozessgesetzgebung ohne Rechtstatsachen

Schlecht beraten ist der Strafprozessgesetzgeber zudem, wenn er ohne Rücksicht auf empirische Evidenz agiert. Sicherlich gibt es auf Seiten der Strafverteidigung Einzelfälle abwegiger Ablehnungsgesuche wegen Befangenheit oder fragwürdiger Verfahrensverzögerungen durch prozessuale Anträge. Doch als empirisch drängendes Phänomen stellt sich eine solche Handhabung in der Masse der Strafverfahren in Deutschland indes nicht da, auch wenn gerne das Gegenteil behauptet wird.

Langversion mit Fundstellen im StV 9/2022Aus dem Strafkammerbericht, verfasst von Richterinnen und Richtern, nicht von Apologeten sogenannter Konfliktverteidigung, geht hervor, dass der prozentuale Anteil von Verfahren mit Befangenheitsanträgen in den allgemeinen Strafkammern auf höchstens 5 % zu bemessen ist. Der Anteil derjenigen Prozesse, in denen mehr als 20 Beweisanträge gestellt wurden, liegt beim Landgericht "zwischen 2,3 und 3%". Auch jüngere Untersuchungen an unserer Frankfurter Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) vermochten diese Befunde zu bestätigen. Dabei konnten in nur zwei von zehn Verfahren, in denen der BGHdie Verteidigung wegen rechtsmissbräuchlichen Prozessverhaltens mit scharfen Worten gerügt hatte, Anhaltspunkte für die Berechtigung dieser Schelte gefunden werden. In keinem einzigen Fall konnte der Nachweis tatsächlichen Rechtsmissbrauchs geführt werden.

Dennoch hat der Gesetzgeber vor drei Jahren die Ablehnung von Anträgen bei Verschleppungsabsicht erleichtert. Doch auch dies hat Stimmen nicht zum Verstummen gebracht, die die empirisch tatsächlich feststellbare längere Dauer der Verfahren vor dem Landgericht nicht auf mangelnde Haushaltsressourcen oder die Komplexität des materiellen Strafrechts, sondern vor allem auf Rechtsmissbrauch durch Strafverteidiger zurückführen wollen.

Wichtige Reformen bleiben liegen

Demgegenüber wurden wichtige Leitgedanken eines modernen Strafprozesses bis zum Beginn dieser Legislaturperiode nicht mit besonderem Eifer verfolgt. Das Teilprojekt einer systematischen Erweiterung der Partizipationsrechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren harrt nach hoffnungsvollen Ansätzen in den 2000er Jahren der Vollendung.Das Anliegen einer umfassenden Mitwirkung in einem möglichst frühen Stadium, bevor das Verfahren auf eine abschüssige Bahn gerät, gilt heute bei Vielen zu Unrecht als rechtsstaatlicher Luxus.

Im Raum steht zudem – in dieser Woche auch auf dem Deutschen Juristentag – die Weiterentwicklung des traditionellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes, um das Beweistransferproblem aus dem Vorverfahren in den Griff zu bekommen. Denn wenn man mehr Mitwirkung der Verteidigung schon in der Phase der Ermittlungen zulässt, sprechen gute Gründe dafür, das so Erhobene in größerem Umfang als bisher auch in die Hauptverhandlung zu transferieren, um die Beweisaufnahme nicht mit Doppelungen zu belasten, wenn und soweit diese in der Sache entbehrlich sind – etwa bei authentischen Videoaufzeichnungen von Zeugenvernehmungen.

Dass sich eine solche Hauptverhandlung ihrer Dokumentation – bestmöglich ebenfalls auf Video – nicht entziehen sollte, ist selbstverständlich; dem Vernehmen nach ist ein Entwurf aus dem Bundesministerium der Justiz in diesem Jahr zu erwarten und auch die Gruppe der Alternativprofessoren legt dazu in wenigen Wochen ein Buch mit Regelungsvorschlägen vor.

Die im Koalitionsvertrag versprochene "Modernität" und "Effektivität" des Strafverfahrens können stets nur mit Blick auf klar definierte Inhalte bestimmt werden. Deshalb bleiben beide Begriffe hohl, solange man nicht die Ziele des Strafprozesses fest im Blick hat. Diese Fokussierung verhindert zudem eine Prozessgesetzgebung nach dem vom Deutschen Anwaltverein (DAV) anschaulich kritisierten "Pizza-mit-allem-Prinzip": Ein wenig Beschuldigtenrechte für die Anwaltsverbände hier, ein gleich großer Anteil "Opferschutz" für Pressure Groups und fraternisierende Medien da, etwas Justizentlastung für Tatrichter und Landesfinanzminister dort. 

Die Strafprozessordnung braucht zu Beginn einen Allgemeinen Teil

Als Inspiration kann hingegen die Anregung der Justizministerkonferenz für die StPO-Expertenkommission des Jahres 2014 dienen. Sie, nicht etwa prinzipienbesessene Rechtslehrer, hatte den damaligen Bundesjustizminister gebeten, zu prüfen, ob nicht eine zusammenfassende Normierung der Maximen des deutschen Strafverfahrensrechts an zentraler Stelle vorzunehmen ist. Dieser Initiative lagen auch ausländische Vorbilder deutschsprachiger europäischer Nachbarstaaten zu Grunde, insbesondere in Österreich (§§ 1–17 öStPO) und der Schweiz (Art. 3–11 schwStPO). Beide Kodifikationen lesen sich wie das Grundlagenkapitel eines deutschen Strafprozesslehrbuchs. 

In der Sache zielte der Vorschlag auf eine Stärkung freiheitlicher Prinzipien wie dem unbedingten Schutz der Menschenwürde, der Unschuldsvermutung oder dem Grundrecht auf ein faires Verfahren. Unsere geltende Prozessordnung hingegen beginnt, zur nachhaltigen Irritation der Anfangssemester im Jurastudium, mit technizistischen Vorschriften über die sachliche Gerichtszuständigkeit. Man lese, zum Abgewöhnen, Paragraph 1 StPO.

Sollten wir die Magna Charta des Beschuldigten auch im 21. Jahrhundert wirklich so eröffnen? Die StPO-Expertenkommission ist dem Prüfauftrag der Justizminister, trotz Unterstützung aus dem Kreis der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ohne vertiefte Begründung nicht nähergetreten. Der zielführende Vorschlag rechtfertigt sich aus der Natur der Verfahrensgrundsätze. Unsere Prozessmaximen dienen der Strukturierung des Verfahrens, indem sie zwischen der Bestimmung der Verfahrensziele und ähnlichen allgemeinen Aussagen des Grundgesetzes, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta einerseits und den Detailaussagen der StPO andererseits handhabbare Grundsätze extrahieren. Man kann sie deshalb als formelle Konstitutionsprinzipien des deutschen Strafverfahrens bezeichnen. 

Schluss mit dem "Pizza-mit-allem-Prinzip"

Diese Verfahrensgrundsätze haben eine wichtige politische Funktion, indem sie einen noch zu schaffenden Rechtszustand programmatisch umschreiben. Ihre Kodifikation kann zudem zur Erklärung, Auslegung, Lückenschließung im und Fortentwicklung des geltenden Rechts dienen. Die StPO gewinnt auf diesem Weg eine bedeutende interpretatorische Funktion für das "einfache", mehr technische Prozessrecht. Halten wir fest: Zunächst sollten die Leitprinzipien einer Gesamtreform wie die unmittelbare strafprozessuale Verbindlichkeit der Grundrechte, die Freiheit vom Selbstbelastungszwang, der Persönlichkeitsschutz und das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit ausformuliert werden. Dieser Katalog wäre systematisch vor den Ersten Abschnitt des heutigen Ersten Buches der StPO zu stellen. Hier wäre auch der Ort, sich der justizpolitisch anspruchsvollen Frage der innerstaatlichen Reichweite und Verbindlichkeit europäischer Grundrechte für den Strafprozess zuzuwenden. 

Ob sich der rechtspolitische Boden für eine Gesamtreform des Strafprozessrechts bereiten wird, ist offen. Die mittelfristige Planung des Justizministeriums für diese Legislaturperiode geht dahin, sich im Jahr 2023 verstärkt dem Strafprozessrecht zuwenden zu wollen. Mit "Sammelsurium"-Entwürfen ist es nicht getan. 

Dr. Matthias Jahn ist Inhaber eines Lehrstuhls für Straf- und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt und Richter am dortigen Oberlandesgericht und Mitherausgeber der Zeitschrift Strafverteidiger.

Carl Heymann / Wolters KluwerBeim Aufsatz handelt es sich um eine Zusammenfassung des wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen aus der Zeitschrift "StV Strafverteidiger, Heft 9, September 2022 mit dem Schwerpunkt "Strafprozessreform". Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.

Zitiervorschlag

Diskussion um Reform der Strafprozessordnung: Magna Charta statt "Pizza mit Allem" . In: Legal Tribune Online, 23.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49709/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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