Nach dem Freispruch von George Zimmerman, der im vergangenen Jahr den 17-jährigen* Afroamerikaner Trayvon Martin erschossen hatte, ist die Empörung groß. Hierzulande machen viele das amerikanische Notwehrrecht für das als ungerecht empfundene Urteil verantwortlich – und verkennen dabei, dass die deutsche Rechtslage sogar weiter geht als die amerikanische.
Eine Woche liegt das Urteil in der Anklage gegen George Zimmerman im Bundesstaat Florida nun zurück. Man musste kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass auf den Freispruch eine Welle des Protests folgen würde. Zu politisch aufgeladen waren die Umstände der Tat: Ein 28-jähriger Koordinator der Nachbarschaftspolizei mit zu vermutendem Heldenkomplex und möglichen rassistischen Vorbehalten folgt einem 17-jährigen* schwarzen Jugendlichen auf offener Straße und erschießt diesen in der darauffolgenden Konfrontation.
Neben dem angeblichen latenten Rassismus amerikanischer Gerichte war schnell ein zweiter Missstand gefunden, der das Urteil der Jury erklärlich machen sollte: Die amerikanischen Regeln zur Notwehr, die sogenannte "stand your ground"-Doktrin. So echauffiert sich etwa Martin Klingst auf Zeit.de über "Floridas abstruses Selbstverteidigungsrecht", Marcus Pindur vom Deutschlandfunk meint, dass die Grenze von Notwehr und Rechtsanmaßung verwische, Johannes Kuhn spricht auf sueddeutsche.de vom "Reich der grenzenlosen Selbstverteidigung" und Bernd Pickert von taz.de hat in dem "Skandal die Konsequenz verfehlter Politik" ausgemacht.
Nun mag man von der Rechtslage (die übrigens so nur in etwa der Hälfte aller US-amerikanischen Staaten gilt) halten, was man will. Sicher lässt sich auch vertreten, dass, wer angegriffen wird, zunächst einen Fluchtversuch unternehmen sollte, bevor er der Attacke mit drastischen, im Extremfall tödlichen Mitteln entgegentritt. Was indes verwundert, ist der Unterton moralisch-rechtlicher Überlegenheit, der aus vielen Kommentaren zu dem Thema hervorklingt.
Entrüstung aus Unkenntnis
Denn was den Autoren offenbar verborgen bleibt, ist die Tatsache, dass das deutsche Notwehrrecht sogar weiter geht als jenes, nach welchem Zimmerman freigesprochen wurde. Was in Übersee unter dem Schlagwort "stand your ground" firmiert, wird in Deutschland mit den Worten "Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen" beschrieben, und bedeutet genau dieses: Das Opfer eines rechtswidrigen Angriffs muss nicht versuchen, sich diesem zu entziehen, sondern kann zurückschlagen und seine Position verteidigen.
Zwar muss der Angegriffene im deutschen – wie auch im amerikanischen – Recht unter mehreren, gleich effektiven Verteidigungsmitteln das mildeste wählen. Jenseits dieser Einschränkung findet eine Verhältnismäßigkeitsprüfung mit einer Güterabwägung jedoch grundsätzlich nicht statt. Es ist daher beispielsweise hier wie dort zulässig, den Diebstahl auch einer geringwertigen Sache mit einem gezielten Faustschlag zu beenden oder in einer physischen Konfrontation zu einem Schlagstock oder Ähnlichem zu greifen, wenn ebenso wirksame, aber schonendere Mittel nicht zur Verfügung stehen.
Beide Rechtsordnungen sehen jedoch eine gewisse Einschränkung für den Gebrauch von tödlicher Gewalt vor. In Florida ist diese ausdrücklich normiert: Die Tötung des Angreifers ist nur dann zulässig, wenn der Verteidiger annehmen darf, dass sie zur Abwehr einer Gefahr für sein eigenes Leben oder das eines anderen, schwerer körperlicher Schäden oder einer schweren Gewalttat unerlässlich ist. Liegt die Intensität des Angriffs unterhalb dieser Schwelle, so darf der Angegriffene keine tödliche Gewalt einsetzen und muss notfalls die Flucht ergreifen.
2/2: Tötung des Angreifers auch in Deutschland gerechtfertigt
Die deutsche Notwehrnorm ist deutlich knapper formuliert. § 32 Strafgesetzbuch (StGB) bestimmt schlicht: "Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig". Eine gewisse Einschränkung des Notwehrrechts findet unter dem Merkmal der Gebotenheit statt. So ist die Notwehrhandlung etwa dann nicht geboten, wenn ein krasses, geradezu eklatantes Missverhältnis zwischen dem zu schützenden Rechtsgut und den Schäden besteht, die der Angreifer hinzunehmen hätte. Illustriert wird diese Fallgruppe zumeist am Beispiel eines Rollstuhlfahrers, der einen Kirschendieb auf frischer Tat ertappt und dessen einzige Möglichkeit zur Verteidigung seines Eigentums darin bestünde, den Rechtsbrecher zu erschießen. In einem derartigen Fall ist der Angriff schlicht hinzunehmen.
Solche Erwägungen greifen im Falle von Zimmerman jedoch offensichtlich nicht Platz. Martin hatte ihn physisch attackiert und ihm mehrere (Platz)wunden zugefügt. Nach Zimmermans eigener, nicht widerlegter Aussage soll Martin ihn zunächst mit einem Hieb niedergestreckt und seinen Kopf sodann mehrfach gegen den Bordstein geschlagen haben; die Bilder seiner Verletzungen lassen sich damit in Einklang bringen. In einer derartigen Situation konnte Zimmerman mit gutem Grund annehmen, dass ihm schwerer körperlicher Schaden oder gar der Tod drohte, und durfte Martin daher erschießen.
Dementsprechend wurde der Ausgang des Verfahrens unter amerikanischen Rechtsexperten bei Weitem nicht so kontrovers diskutiert wie in der Öffentlichkeit. Andrew Hammel, Professor für anglo-amerikanisches Recht an der Universität Düsseldorf, führt dazu aus: "Jedes andere Ergebnis als ein Freispruch wäre sehr verblüffend gewesen – ein Kollege hat bereits vor über einem Jahr genau diesen Prozessausgang vorhergesagt. Juristisch interessant ist an dem Fall eher die Frage, welche zukünftigen Implikationen er für das amerikanische Notwehrrecht und den Umgang mit ethnischen Minderheiten im Rechtssystem haben kann."
Nach deutschem Recht wäre die Schwelle übrigens noch niedriger gewesen. Zwar wird vor dem Gebrauch einer Schusswaffe grundsätzlich das Abgeben eines Warnschusses gefordert. Darauf kann jedoch verzichtet werden, wenn der Verteidiger sich in einer Lage befindet, in welcher dies nicht mehr praktikabel erscheint – sicherlich also dann, wenn er, bereits benommen am Boden liegend, mit Schlägen malträtiert wird und die Gefahr besteht, dass der nächste oder übernächste Treffer ihm den Griff zur Waffe unmöglich machen wird.
Vorgeschichte wohl bedeutungslos
Magengrimmen bereitet vielen Menschen wohl die Tatsache, dass Zimmerman Martin zunächst ohne triftigen Grund und aus einem lediglich vagen Verdacht heraus verfolgt und die Konfrontation somit heraufbeschworen hat. Aus rechtlicher Sicht kommt diesem Umstand aber nur geringe Relevanz zu. Zwar existiert in Deutschland die Figur der Notwehrprovokation, unter welche Fälle subsumiert werden, in denen der spätere Verteidiger den Angreifer herausgefordert hat – für diese Konstellationen werden unterschiedliche Beschränkungen des Notwehrrechts diskutiert.
Auch das würde aber voraussetzen, dass Zimmerman den Angriff Martins überhaupt in vorwerfbarer, das heißt mindestens fahrlässiger Weise heraufbeschworen hätte. Davon kann man, soweit der Sachverhalt aufgeklärt ist, nicht ausgehen. Zwar hat der Nachbarschaftspolizist Martin letztlich grundlos verfolgt und zur Rede gestellt. Darin allein liegt aber keine derart starke Herausforderung, dass man Martins anschließende physische Attacke als nachvollziehbaren, womöglich gar selbst gerechtfertigten Akt verstehen könnte. Ob Zimmerman den 17-Jährigen* beleidigt oder beschimpft hat, bleibt Spekulation – gerichtlich bewiesen ist es jedenfalls nicht.
Woher rührt also die unzutreffende Vorstellung, das amerikanische Notwehrrecht sei so viel schneidiger als das deutsche? Zum einen erklärt sie sich wohl aus der Unkenntnis des fremden Rechtssystems, verbunden mit nationalen Klischees, in welchen Amerikanern die Rolle des Colt-schwingenden Cowboys zugeschrieben wird. Die Umstände des Falls waren sicher geeignet, diesen Eindruck auf den ersten Blick zu bestätigen.
Darüber hinaus mag aber auch ein faktischer Unterschied eine Rolle spielen, wie Hammel erläutert: "Anders als in den USA ist das öffentliche Tragen und Führen von Waffen in Deutschland verboten. Dementsprechend ist der Einsatz von Schusswaffen in einer Notwehrsituation hierzulande ein beinahe rein theoretisches Problem – in Amerika hingegen ist er oftmals das effizienteste und aus Sicht des Verteidigers sicherste Mittel, um einen Angriff zu beenden."
*hier stand zunächst unzutreffenderweise, dass Martin 19 Jahre alt gewesen sei. Geändert am 23.07.2013 um 13:58
Constantin Baron van Lijnden, Aufregung über US-Notwehrrecht unberechtigt: Stand your ground . In: Legal Tribune Online, 23.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9188/ (abgerufen am: 09.12.2023 )
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