Rechtsanwalt Peter Fahlbusch vertritt Menschen in Abschiebehaft, zuletzt vor dem EuGH. Nach seinen Zahlen sind viele der Inhaftierungen rechtswidrig. Das größte Problem sieht er in der fehlenden Verteidigung, erklärt er im Interview.
Herr Fahlbusch, am Donnerstag hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) einen von Ihnen vertretenen Fall entschieden. Was waren die rechtlichen Kernfragen?
Peter Fahlbusch: Mit dem sog. Geordnete-Rückkehr-Gesetz hat die Große Koalition im Jahr 2019 geregelt, dass Abschiebungsgefangene befristet bis zum Sommer 2022 gemeinsam mit Strafgefangenen in einer Haftanstalt untergebracht werden können. Diese gemeinsame Unterbringung lässt das Europarecht eigentlich nicht zu. Eine Ausnahme zu diesem Grundsatz erlaubt Art. 18 der Rückführungsrichtlinie, wenn in dem Mitgliedstaat eine sogenannte Notlage vorliegt. Die damalige Bundesregierung hat das seinerzeit für das Bundesgebiet bejaht.
Die meisten Bundesländer hatten das damals ganz anders gesehen und später dann Abschiebehäftlinge auch nicht mit Strafgefangenen untergebracht. Nur einige Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Ihr Fall spielte aber in Niedersachsen?
Genau. In meinem Fall war ein Pakistaner in Langenhagen in Niedersachsen inhaftiert, wo es eine eigene Abschiebungshaftanstalt gibt. In dieser Anstalt, wo ein ganzer Trakt leer stand, sind dann auch Strafgefangene untergebracht worden. Dies hat das Amtsgericht zum Anlass genommen, das Verfahren dem EuGH vorzulegen und zu fragen, ob es sich hierdurch um eine gemeinsame Unterbringung handelte und ob diese ggf. von dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz gedeckt war. Das wiederum wäre dann der Fall, wenn wie geschildert in Deutschland eine Notlage iSd Rückführungsrichtlinie vorgelegen hätte. Die Strafgefangenen sind im Übrigen gleich, nachdem das Amtsgericht das Verfahren dem EuGH vorgelegt hatte, aus der Haftanstalt abgezogen worden.
"Regierung hat keine belastbaren Zahlen"
Warum hatten Sie Zweifel daran, dass eine entsprechende Notlage besteht?
Dafür müsste die Bundesregierung zunächst einmal belastbare Zahlen vorlegen, die sie aber nicht hat. Relevant ist zB, wie viele Plätze für die Abschiebehaft bundesweit zur Verfügung stehen und wie viele Haftplätze notwendig sind. Die Bundesregierung hat beim Geordnete-Rückkehr-Gesetz schlicht behauptet, sie benötige 1.000 Abschiebehaftplätze bundesweit. Warum diese Haftplatzzahl notwendig sein soll, erschließt sich aber durch keinerlei Zahlenmaterial.
Tatsächlich besteht auch keine Korrelation zwischen Abschiebehaft und vollzogenen Abschiebungen: Bayern etwa sperrt recht viele Menschen ein und schiebt im Vergleich zur Inhaftierungsanzahl relativ wenige ab, Berlin hingegen sperrt kaum Leute ein, die Anzahl der Abschiebungen ist aber recht hoch.
Und dann gilt es zu beachten, dass eine Notlage nur dann vorliegt, wenn diese nicht "hausgemacht" ist, d.h. durch voraussehendes Handeln der mit der Aufenthaltsbeendigung befassten Behörden hätte verhindert werden können. So hätten beispielsweise in Deutschland hinreichende Haftplätze bereits seit 2020 vorgehalten werden können und müssen.
Woher haben Sie diese Angaben?
Die allermeisten Zahlen stammen aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Partei DIE LINKE aus dem Sommer 2021.
"Große Anzahl der Inhaftierungen ist rechtswidrig"
Dann mal weg von dem EuGH-Verfahren: Welche ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus über 20 Jahren Beratung in Fällen von Abschiebehaft?
Dass eine große Anzahl der Inhaftierungen rechtswidrig ist. Seit 2001 habe ich bundesweit 2.215 Menschen in Abschiebungshaftverfahren vertreten. Alle Verfahren meiner Mandanten habe ich erfasst und ausgewertet. Daraus lässt sich einiges ableiten.
Von den 2.215 Mandantinnen und Mandanten waren 1.164, also 52,6 Prozent, nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert, manche "nur" einen Tag, andere monatelang. Zusammengezählt kommen auf die 1.164 Gefangenen 30.507 rechtswidrige Hafttage, das sind gut 83 Jahre rechtswidrige Haft. Im Durchschnitt befand sich jede/r Mandant/in knapp vier Wochen, genau: 26,2 Tage, zu Unrecht in Haft. Das sind meine aktuellen Zahlen Stand 7. März. Rund 100 Verfahren laufen z.Zt. noch.
Ich bin mit dieser Erkenntnis übrigens in "guter" Gesellschaft: Eine Richterin am Bundesgerichtshof (BGH), Johanna Schmidt-Räntsch, hat sich 2014 einmal die beim BGH laufenden Haftverfahren angeschaut und ausgeführt, dass 85 bis 90 Prozent der angefochtenen Haftentscheidungen sich als rechtswidrig erweisen würden (Anm. der Red: NVwZ 2014, Seite 110).
Bestreitet irgendein Justiz- oder Innenpolitiker diese Zahlen?
Na ja, es heißt von dort immer wieder, man glaube das nicht. Nur: Eigene Zahlen zur Inhaftierungspraxis werden dort bislang nicht erhoben, warum auch immer.
Wie kann es sein, dass Menschen in einem Rechtsstaat zu einer so großen Anzahl rechtswidrig inhaftiert werden?
Nicht alles, aber vieles würde besser laufen, wenn die Abschiebungshaftgefangenen vom Tag ihrer Festnahme einen Anwalt ähnlich einer Pflichtverteidigung bekämen – auch bei dieser Einschätzung bin ich wieder in guter Gesellschaft von Johanna Schmidt-Räntsch.
Nach bestehender Rechtslage sind die Menschen aber auf sich allein gestellt und wissen regelmäßig nicht, wie sie sich vor den Gerichten gegen eine Haftanordnung verteidigen können. Das führt dann häufig dazu, dass sie beim Haftrichter ihren Vortrag aus dem Asylverfahren wiederholen und erklären, warum sie aus dem Heimatland geflohen sind und dort nicht wieder hin können. Über asylrechtliche Fragen hat nun der Haftrichter aber gar nicht zu entscheiden; allerdings nimmt der Haftrichter diesen Vortrag gern zum Anlass, hieraus eine Fluchtgefahr abzuleiten und dem Haftantrag stattzugeben.
Mangels Anwalts bleiben zudem regelmäßig Fehler unentdeckt, die eine Abschiebungshaftanordnung rechtswidrig werden lassen. Das sind mal unzureichende Angaben der Ausländerbehörde im Haftantrag, wann und wie die Person abgeschoben werden soll, das Übersehen der noch bestehenden aufschiebenden Wirkung von Rechtsmitteln, fehlende Haftgründe etc. pp – die begangenen Fehler sind zahlreich und finden sich zumeist schon im kleinen 1 x 1 des Haftrechts.
"Die Ausreisepflichtigen sind keine Straftäter"
Was sollte sich Ihrer Erfahrung nach ändern?
Wir müssen unsere rechtsstaatlichen Vorgaben endlich ernst nehmen, und dazu gehört vor allem auch, dass wir uns an die geltenden Verfahrensregeln halten. Die Freiheit darf nach Art. 104 Abs. 1 Grundgesetz nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Verfahrensrecht ist also Verfassungsrecht. Und das hat gute Gründe, denn nur das richtige Verfahren führt zum richtigen Ergebnis.
Zudem müsste noch deutlicher gemacht werden, dass die Ausreisepflichtigen keine Straftäter sind, die gesamte Haft muss sich nach der Gesetzeslage klar von der Strafhaft unterscheiden. Der Abschiebungshaftvollzug darf das normale Leben nur insoweit einschränken, wie es unbedingt notwendig ist. Schlagwortartig wird das gern zusammengefasst unter dem Slogan "Normales Leben minus Freiheit". Das bedeutet auch Handy, Internet, Besuch auch über Nacht, religiöse Betreuung, jederzeit Kontakt zu den Kindern etc. pp. All das wird im Haftvollzug in Deutschland nicht hinreichend beachtet.
Wird sich mit der noch neuen Bundesregierung etwas ändern?
Die Hoffnung hatte ich, denn danach klang es noch, als insbesondere Bündnis 90/Die Grünen in der Opposition waren.
Inzwischen habe ich hier aber Zweifel. Der Koalitionsvertrag enthält zur Abschiebungshaft nur zwei Sätze: "Wir werden unserer besonderen humanitären Verantwortung gerecht und Kinder und Jugendliche grundsätzlich nicht in Abschiebehaft nehmen. Die freiwillige Ausreise hat stets Vorrang."
Es ist ein Trauerspiel. Mehr als davon abzusehen, Kinder einzusperren, scheint da nicht geplant zu sein. Das ist im Übrigen bereits heute nach dem Aufenthaltsgesetz grundsätzlich verboten. Auch das zeigt, mit welcher Ernsthaftigkeit man sich dem Thema widmet.
"Gefängnisartige Unterbringung ist zu vermeiden"
Wie geht es denn nach dem Urteil des EuGH weiter?
Der EuGH hat dem Amtsrichter in Hannover einige Eckdaten vorgegeben, die der jetzt abarbeiten muss. Lag eine ordnungsgemäße Unterbringung der Abschiebungshaftgefangenen vor? Gab es eine rechtfertigende Notlage für die gemeinsame Unterbringung in einer Anstalt? All dies war ja bereits im Vorlagebeschluss vom Amtsgericht thematisiert worden. Meiner Ansicht nach ist § 62a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der bis 30. Juni 2022 geltenden Fassung sofort aufzuheben, da die Voraussetzungen einer Notlage nicht vorlagen. Das Verfahren in Niedersachsen zeigt das doch ganz deutlich: Da stand eine Abschiebungshaftanstalt in weiten Teilen leer. Eine Notlage sieht doch anders aus!
Ganz spannend ist, dass der EuGH aber auch für "normale" Abschiebungshaftanstalten unabhängig von einer Notlage ein paar Vorgaben gemacht hat, wie diese auszusehen haben. Nach Auffassung des EuGH muss hier eine gefängnisartige Unterbringung vermieden werden. Das wird also auch über das hier in Rede stehende Verfahren spannend. Ich habe größte Zweifel, dass die deutschen Abschiebungshaftanstalten dem genügen.
Was würde das für Ihren Mandanten und das Geordnete-Rückkehr-Gesetz bedeuten?
Mein Mandant ist bereits aus der Haft abgeschoben, für ihn kommt die Entscheidung zu spät. Allerdings hat sein Verfahren Rechtsgeschichte geschrieben. Es steht zu hoffen, dass sich am Abschiebungshaftvollzug in Deutschland durch sein Verfahren einiges ändern wird.
Ich vertrete noch zwei Betroffene aus Mecklenburg-Vorpommern bzw. Sachsen-Anhalt, wo es um vergleichbare Sachverhalte geht. Ein Ende der Verfahren um das Trennungsgebot ist also noch nicht absehbar.
Herr Fahlbusch, vielen Dank für das Gespräch.
Interview mit Abschiebehaftanwalt Peter Fahlbusch: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47827 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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