Druckversion
Samstag, 14.06.2025, 09:48 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/hintergruende/h/gaza-krieg-igh-suedafrika-israel-neuer-eilantrag-rafah-voelkermord-palaestina
Fenster schließen
Artikel drucken
54573

Humanitäre Lage in Gaza: IGH ver­han­delt neuen Eil­an­trag gegen Israel

von Dr. Franziska Kring

17.05.2024

Palästinenser, die aus Rafah vertrieben wurden, warten in langen Schlangen auf Lebensmittel, die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen am 13. Mai 2024 in in Deir al-Balah, Gaza, verteilen,

Immer noch kommt zu wenig humanitäre Hilfe in Gaza an. Nach UN-Angaben sind mehr als eine Million Menschen von einer Hungersnot bedroht. Foto: picture alliance / Anadolu | Ashraf Amra.

Südafrika will ein Ende des Militäreinsatzes in Gaza erreichen und wirft Israel erneut Völkermord vor. Am Donnerstag und Freitag verhandelte der IGH über den neuen Eilantrag. Israel bezeichnet die Vorwürfe als "Verdrehung der Wirklichkeit".

Anzeige

Erst am Donnerstag warnten die Außenminister von 13 Staaten, darunter Deutschland, in einem Brief an Israel vor einer umfassenden Militäroffensive in Rafah und forderten mehr Unterstützung für die palästinensische Bevölkerung. Auch Außenministerin Annalena Baerbock verschärfte ihren Ton: "Die Menschen dort wissen weder ein noch aus, und haben keine sicheren Orte mehr, an die sie fliehen können. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss aber höchste Priorität haben. Das ist im Moment nicht zu erkennen", sagte sie am Donnerstag.

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) haben von den gut 2,3 Millionen Einwohnern des Gazastreifens bis zu 1,4 Millionen Menschen in Rafah Zuflucht gefunden, die Flüchtlingslager sind überfüllt. Viele müssen jetzt aber weiterziehen: Israel vermutet die letzten verbliebenen Hamas-Bataillone in Rafah und hat Anfang Mai mit der Evakuierung des östlichen Teils der Stadt begonnen.

Wegen der Offensive in Rafah musste sich Israel jetzt erneut vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verantworten. Südafrika wirft Israel Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen vor und will mit seinem mittlerweile vierten Eilantrag vom 10. Mai 2024 den Militäreinsatz stoppen. Die Maßnahmen, die der IGH bisher angeordnet hat, seien angesichts der veränderten Umstände in Gaza nicht ausreichend. In den Eilentscheidungen vom 26. Januar und 28. März hatten die Richterinnen und Richter in Den Haag Israel aufgefordert, seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention einzuhalten. Außerdem gaben sie dem Staat vor allem auf, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und mehr Grenzübergänge für längere Zeiträume zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen. Zur zweiten Eilentscheidung kam es aufgrund der erheblichen Verschlechterung der humanitären Lage in Gaza.

Durch die Eskalation um Rafah seien jetzt neue Sofortmaßnahmen notwendig, argumentiert Südafrika. Ursprünglich hatte es seinen Antrag auf den Stopp des militärischen Vorgehens in Rafah beschränkt. Bei der Verhandlung am Donnerstag forderte Südafrikas Botschafter Vusi Madonsela jedoch ein Ende des Militäreinsatzes im gesamten Gazastreifen. Außerdem solle Israel Ermittlern, humanitärer Hilfe und Journalisten ungehindert Zugang gewähren. Israel, das am Freitag seine Argumente vortragen durfte, wies indes Vorwürfe des Völkermords zurück und berief sich auf sein Selbstverteidigungsrecht.

Südafrika: Militäraktion in Rafah ist "Teil des Endspiels"

Nach Art. 76 Abs. 1 seiner Gerichtsordnung kann der IGH – entweder auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen – zuvor getroffene Eilentscheidungen aufheben oder ändern, wenn eine Änderung der Sachlage das erfordert. Darauf beruft sich Südafrika. Die Eskalation der Lage schaffe "neue Tatsachen, die den Rechten der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen irreparablen Schaden zufügen", so die Rechtsvertreter Südafrikas. "Die palästinensische Bevölkerung ist Opfer eines Völkermords – und die bisherigen Anordnungen des IGH haben nicht ausgereicht, um sie zu beschützen", sagte Professor Vaughan Lowe bei der Verhandlung. Der IGH müsse handeln, damit seine bisherigen Anordnungen nicht wertlos seien.

Das Vorgehen Israels in Rafah sei "Teil des Endspiels", so Lowe. "Dies ist der letzte Schritt zur Zerstörung von Gaza und des palästinensischen Volkes", ergänzte er.

Es sei unvorstellbar, dass die Situation in Gaza sich seit der letzten IGH-Entscheidung Ende März noch weiter verschlechtern könne, so John Dugard, einer der Anwälte Südafrikas. Doch genau das sei der Fall. Städte und Krankenhäuser seien nahezu vollständig zerstört worden. Rafah sei der "letzte Zufluchtsort für etwa 1,5 Millionen Menschen", der "letzte lebensfähige Teil für die medizinische Versorgung", sagt Dugard. Israel zwinge diese vertriebenen Menschen jetzt erneut dazu, zu fliehen.

Der Angriff auf Rafah sei Teil des "anhaltenden Völkermords in Gaza", so Anwältin Adila Hassim. Israel töte immer noch Zivilisten "in alarmierendem Ausmaß" und greife gezielt Krankenhäuser an.

Israel: Südafrika missbraucht Völkerrecht "auf abscheuliche und zynische Weise"

Israel wies die von Südafrika vorgebrachten Vorwürfe als "Verdrehung der Wirklichkeit" zurück. Südafrika missbrauche das internationale Recht auf "abscheuliche und zynische Weise", sagte der Rechtsvertreter Israels, Gilad Noam, am Freitag in Den Haag. "Etwas immer wieder als Völkermord zu bezeichnen, macht es noch nicht zu einem Völkermord. Eine Lüge zu wiederholen, macht sie nicht wahr", so Noam.

Zudem kritisierte er die kurzfristige Anberaumung der Anhörung. Südafrika hatte den Antrag am 10. Mai eingereicht, weniger als eine Woche später habe die Anhörung begonnen. Einen Antrag auf Verlegung des Termins habe der IGH abgelehnt. Deshalb sei Israel an diesem Tag "nicht durch sein ausgewähltes Team an Rechtsanwälten" vertreten.

Inhaltlich sagte er, das Bild, das Südafrika vermittle, sei "völlig von den Tatsachen und Umständen losgelöst". Um die Palästinenser zu beschützen, müsste die Hamas ausgelöscht werden. Rafah sei ein "militärisches Bollwerk der Hamas", die Israel mit Raketen beschieße. Auch halte die Hamas noch immer zahlreiche Geiseln fest. Israel sorge zudem für humanitäre Hilfe und tue alles zum Schutz der Zivilbevölkerung. Jeder Staat in der schwierigen Position, in der Israel sich befinde, würde genauso handeln. Südafrika sei kein "Hüter der Menschheit", sondern ein legaler Arm der islamistischen Hamas, so Noam.

Ohnehin hätte man das Wort "Hamas" bei Südafrikas Vortrag kaum gehört, so Israels Anwältin Tamar Kaplan-Tourgeman. Am 7. Oktober 2023 hatten Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen den Süden Israels überfallen, 1.200 Menschen getötet und mehr als 240 Geiseln genommen. Allein die Hamas sei für das Leiden der Zivilbevölkerung verantwortlich. Israel werde immer noch angegriffen und verteidige sich dagegen.

Am Ende der Anhörung wurde Kaplan-Tourgeman durch einen Zwischenruf unterbrochen. "Lügner", rief eine Frau im Gerichtssaal im Friedenspalast. Sie wurde anschließend von Sicherheitsmitarbeitern aus dem Saal geführt.

Wie es weitergeht

Wann der IGH über mögliche neue Sofortmaßnahmen entscheidet, steht noch nicht fest. Bis Samstag hat Israel Zeit, zu einer Frage des deutschen IGH-Richters Georg Nolte Stellung zu nehmen. Nolte wollte u.a. wissen, wie Israel sicherstellen will, dass die evakuierten Menschen humanitäre Unterstützung wie Nahrung und Unterkunft erhalten. Südafrika kann dann bis Montag erwidern.

Das Verfahren in der Hauptsache zum Vorwurf des Völkermords kann sich noch mehrere Jahre hinziehen.

Mit Material der dpa

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

Humanitäre Lage in Gaza: . In: Legal Tribune Online, 17.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54573 (abgerufen am: 14.06.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Europa- und Völkerrecht
    • Gaza
    • Israel
    • Völkermord
    • Völkerrecht
Friedrich Merz trifft Benjamin Netanjahu auf einer Israel-Reise am 12. Februar 2024 15.05.2025
Völkerstrafrecht

Merz will Netanjahu-Besuch ermöglichen:

Freies Geleit mit der Brech­stange

Um einen Staatsbesuch von Israels Premier Benjamin Netanjahu zu ermöglichen, will Bundeskanzler Friedrich Merz notfalls den Haftbefehl des IStGH ignorieren. "Mittel und Wege", eine Festnahme zu verhindern, gibt es – aber keine legalen.

Artikel lesen
Besetzung eines Uni-Instituts in Berlin im Mai 2024 07.05.2025
Abschiebung

Erfolgreiches Eilverfahren irischer Palästina-Aktivistin:

VG Berlin stoppt wei­tere dro­hende Abschie­bung

Ohne strafrechtliche Verurteilung will Berlin propalästinensische Aktivisten abschieben. Das VG Berlin stoppte dies nun erneut für eine Irin – zumindest vorerst.

Artikel lesen
Palästinenser, vor allem Kinder, warten in langen Schlangen mit leeren Töpfen in den Händen auf die von Wohltätigkeitsorganisationen verteilten Lebensmittel in einem Flüchtlingslager bei Gaza. 28.04.2025
Gaza

IGH-Anhörungen zur Situation im Gazastreifen:

Welche Verpf­lich­tungen zu humani­tärer Hilfe hat Israel?

Vor dem IGH hat ein neues Gutachtenverfahren begonnen. Es geht um Israels Verpflichtungen als Besatzungsmacht, humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu lassen. Israel selbst nimmt nicht teil, Palästina erneuert seine schweren Vorwürfe.

Artikel lesen
Eine Gruppe von Menschen zündet am 11. September 2014 vor dem ehemaligen Folterzentrum Londres 38 in Santiago Kerzen an. 23.04.2025
Buchrezension

Buchrezension "Die Verschwundenen von Londres 38":

Der Fall Pino­chet und der Kampf gegen die Straf­lo­sig­keit

1998 wird der chilenische Ex-Diktator Pinochet verhaftet. Kann er sich auf Immunität berufen? Welche Rolle spielen geflohene Nazis? Philippe Sands schildert, wie Politik, Zufälle und Schicksale das Völkerstrafrecht prägten.

Artikel lesen
Der Angeklagte Mustafa A. (r) mit Verteidiger Ehssan Khazaeli bei Prozessbeginn 17.04.2025
Antisemitismus

Shapira-Angreifer zu drei Jahren Haft verurteilt:

"Wenn das kein Anti­se­mi­tismus sein soll, was denn dann?"

Ein Student prügelt seinen jüdischen Kommilitonen krankenhausreif. Das AG Tiergarten sieht darin eine gefährliche Körperverletzung aus antisemitischen Motiven – und spricht ein hartes Urteil. Dabei gehe es auch um Abschreckung.

Artikel lesen
Polizisten intervenieren auf einer Pro-Palästina-Demo in Berlin am 13.07.2024 04.04.2025
Abschiebung

LTO liegen Bescheide gegen Palästina-Aktivisten vor:

Wider­stand gegen die Staats­räson als Aus­wei­sungs­grund?

Der Berliner Senat will vier propalästinensische Aktivisten abschieben. Sie sollen an der gewaltsamen Besetzung der FU Berlin beteiligt gewesen sein, die Ermittlungen dauern aber noch an. Darf die Ausländerbehörde derart vorpreschen?

Artikel lesen
ads lto paragraph
lto karriere logo
ads career people

Wir haben die Top-Jobs für Jurist:innen

Jetzt registrieren
logo lto karriere
TopJOBS
Logo von RechtDialog Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Rechts­an­wäl­te (m/w/d) als An­ge­s­tell­te oder in frei­er Mit­ar­beit

RechtDialog Rechtsanwaltsgesellschaft mbH , 100% Re­mo­te

Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Köln

Logo von BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB
Rechts­an­walt (w/m/d) für Fi­nan­cial Li­nes

BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB , Dort­mund

Logo von Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg
Staats­an­wäl­tin (Rich­te­rin auf Pro­be) / Staats­an­walt (Rich­ter auf Pro­be)...

Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg , Cott­bus

Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Frank­furt am Main

Logo von Gleiss Lutz
Rechts­an­wäl­te Kar­tell­recht (m/w/d)

Gleiss Lutz , Brüs­sel

Logo von Landtag Brandenburg
Par­la­ments­rä­tin/Par­la­ments­rat (B 2) als Re­fe­rent/in (m/w/d)

Landtag Brandenburg , Pots­dam

Logo von Hengeler Mueller
Rechts­an­wäl­te (m/w/d) im Be­reich deut­sches und eu­ro­päi­sches...

Hengeler Mueller , Mün­chen

Mehr Stellenanzeigen
logo lto events
ADR als Kostenfaktor – oder Wettbewerbsvorteil? Der ökonomische Blick auf Konfliktlösung

23.06.2025

Digital Dialog: Arbeitsrechtliche Restrukturierungsmaßnahmen

24.06.2025

Logo von Georg-August-Universität Göttingen
Kolloquium "Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Digitalisierung der Gerichtsbarkeiten"

23.06.2025

NomosWebinar: Cyber Resilience Act

25.06.2025

Alles nach Plan – Unternehmenssanierung durch Insolvenz- und Restrukturierungsplan (§ 15 FAO)

24.06.2025

Mehr Events
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH