Bei Liveübertragungen von Sportveranstaltungen setzen Fernsehsender vermehrt Lippenleser ein. Sie sollen dem Zuschauer "übersetzen", was Spieler und Trainer auf und neben dem Platz sagen. Haben die Kicker denn gar keine Privatsphäre? Nicht in diesem Fall, meint Tim Bagger. Eine andere Frage ist aber, ob ein TV-Sender sich mit dem Einsatz der Lippenleser einen Gefallen tut.
In Spanien, wo das deutsche Weltmeister-Team am Dienstag den bislang eher bescheidenen Abschluss des ansonsten formidablen WM-Jahres noch zu retten versucht, übersetzen Lippenleser bei Sportveranstaltungen häufig die Worte der Akteure auf und neben dem Platz für die Zuschauer. Diese Tendenz ist neben Spanien bereits seit geraumer Zeit im italienischen Fußball sowie im US-Sport zu beobachten. Zum einen geht es dabei um einen Mehrwert für die TV-Zuschauer. Zum anderen will man auf diese Weise taktische Feinheiten von der Konkurrenz erfahren.
Die öffentliche Debatte hierzulande entzündete sich an der Partie zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund am 1. November 2014. "Mit Feuer auf Subotic" – diese Anweisung soll Pep Guardiola vorgeblich in der 70. Minute des Spiels an der Seitenlinie Franck Ribéry kurz vor dessen Einwechslung gegeben haben. Ein vom übertragenden Fernsehsender Sky eingesetzter Lippenleser hat die Lippenbewegungen des FCB-Trainers den Millionen Fernsehzuschauern an den Bildschirmen übersetzt.
Das Unverständnis in beiden Lagern war nach der Partie groß. Denn auch an der Dortmunder Auswechselbank hat Sky spioniert und dabei von Mats Hummels über eine im Spiel erlittene Blessur am Fuß erfahren, dass es nicht gut aussehe: "Da ist was fest."
Lizenz zum Lippenlesen
Das Recht am gesprochenen Wort ist im deutschen Rechtssystem ein hohes Schutzgut. Seine Verletzung kann sogar strafrechtlich sanktioniert werden. Es ist Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und regelt unter anderem die Befugnis des Einzelnen, selbst und allein zu bestimmen, ob Äußerungen aufgezeichnet und veröffentlicht werden dürfen.
Hierzu gehört grundsätzlich auch das Recht, darüber zu entscheiden, ob der Inhalt einer Kommunikation der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll oder nicht. Und dennoch können die Spieler sich schwerlich gegen das ungewollte Lippenlesen in der Bundesliga wehren.
In ihren Arbeitsverträgen räumen sie dem Club umfassende Persönlichkeitsrechte zur kommerziellen Verwertung ein. Hierzu gehört neben Bild- und Namensrechten auch das Recht am gesprochenen Wort. Der Verein wiederum lizenziert diese Rechte an die Deutsche Fußball Liga (DFL) zur Verwertung durch Fernsehen, Internet und dergleichen.
Nur der Verband könnte also über die "Causa Lippenlesen" mit den Fernsehsendern verhandeln. Da diese Form der medialen Verwertung durch die Bundesliga aber auch nicht im Medienrechtevertrag zwischen dem Ligaverband und Sky geregelt – und daher dem TV-Sender auch nicht untersagt – sein dürfte, können die Beteiligten auf lizenzrechtlicher Basis nichts tun.
Keine Privatsphäre auf den Bundesliga-Plätzen
Einzelne Spieler, Trainer oder Mannschaftsärzte könnten bei Eingriffen in ihr Persönlichkeitsrecht am gesprochenen Wort dann eingreifen, wenn ihre Privat- oder Intimsphäre unredlich berührt wäre.
Das schützenswerte Interesse eines Protagonisten auf dem Rasen ist aber stark eingeschränkt. Wer in einem mehrere tausend Zuschauer fassenden Stadion wöchentlich unter Beobachtung zahlreicher TV-Kameras und sonstiger Aufnahmegeräte spielt, darf keine Privatsphäre erwarten.
Außerdem unterliegt auch der Schutz der Privatsphäre Einschränkungen, etwa wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse vorliegt. Zwar ist Lippenlesen keine klassisch journalistische Disziplin, dennoch dürfte die Pressefreiheit auch in diesem Bereich überwiegen.
Lohnt sich das?
Spieler und Betreuer müssen damit rechnen, dass jede ihrer Aktionen beleuchtet und seziert wird. Ein Blick auf andere Länder und Sportarten zeigt, dass die Kicker und ihre Trainer als Reaktion hierauf in wichtigen Spielsituationen oft nur noch hinter vorgehaltener Hand kommunizieren oder sich – so etwa in den USA bei den Coaches im American Football der Fall – hinter Taktik-Charts verstecken.
Die Lippenleser können durchaus einen objektiven Mehrwert für den Sport und die Berichterstattung über die schönste Nebensache der Welt haben. So könnte man sie zum Beispiel zur Aufklärung in der Strafverfolgung für Fälle rassistischer Beleidigungen einsetzen. Ob und inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse prozessrechtlich verwertbar sind, steht jedoch auf einem anderen Blatt.
Ob sich die Fernsehsender aber einen Gefallen damit tun, die Protagonisten in den Bundesligastadien per Lippenlesen zu "bespitzeln", darf man bezweifeln. In der großen Maschinerie, die das Gesamtprodukt Bundesligaübertragung produziert, sind Medien, Clubs und Einzelpersonen auf ein funktionierendes Miteinander angewiesen. Nur so kann das bestmöglich zu vermarktende Resultat erzielt werden.
Nach übereinstimmenden Aussagen der Verantwortlichen vom FC Bayern München und von Borussia Dortmund schadet das Lippenlesen dem guten Verhältnis zwischen Spielern und Sendern. Sollten die Fußballer oder gar die Clubs die direkt im Anschluss an die Spiele stattfindenden Interviews der Liveberichterstatter boykottieren, gingen die durch das Lippenlesen gewonnenen Erkenntnisse auf Kosten der Rundum-Berichterstattung vor und nach dem Spiel. Der Mehrwert der Übertragung als Ganzes wäre dadurch für den Zuschauer deutlich reduziert – ein klassisches Eigentor!
Der Autor Dr. Tim Bagger ist Associate Counsel bei der auf Sportrecht spezialisierten Kanzlei Lentze Stopper Rechtsanwälte in München.
Lippenleser im Fußballstadion: . In: Legal Tribune Online, 18.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13836 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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