Friedrich Merz will Netanjahu-Festnahme verhindern: Freies Geleit mit der Brech­stange

von Dr. Max Kolter

26.02.2025

Um einen Staatsbesuch von Israels Premier Benjamin Netanjahu zu ermöglichen, will Bald-Bundeskanzler Friedrich Merz den Haftbefehl des IStGH ignorieren. "Mittel und Wege", eine Festnahme zu verhindern, gibt es – aber keine legalen.

Die Meldung versetzte am Montag viele in Aufregung, dabei hatte CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz das bereits mehrfach im Wahlkampf angekündigt: Als voraussichtlicher nächster Bundeskanzler lädt er Israels Premierminister Benjamin Netanjahu nach Deutschland ein. "Ich halte es für eine ganz abwegige Vorstellung, dass ein israelischer Ministerpräsident Deutschland nicht besuchen kann. Er wird Deutschland besuchen können", sagte Merz am Montag auf einer Pressekonferenz in Berlin. Das Problem: Gegen Netanjahu liegt wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gaza-Krieg ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vor. Und den muss Deutschland als IStGH-Vertragsstaat eigentlich umsetzen. Das bedeutet praktisch: die gesuchte Person festnehmen und sie anschließend an den IStGH nach Den Haag überstellen.

Das will Merz irgendwie vermeiden. Er habe Netanjahu zugesagt, "dass wir Mittel und Wege finden werden, dass er Deutschland besuchen kann und auch wieder verlassen kann, ohne dass er festgenommen worden ist". Welche "Mittel und Wege" das sein sollen, ließ er offen. Auch eine entsprechende LTO-Anfrage an das Büro von Merz blieb unbeantwortet.

Dabei ist alles andere als offensichtlich, welche Handhabe ein Bundeskanzler haben soll, einen IStGH-Haftbefehl oder dessen Rechtsfolgen außer Kraft zu setzen. Politisch möglich wäre ein Eingriff in den Verwaltungsablauf zur Umsetzung der Festnahme und Überstellung – rechtmäßig aber wäre der nicht, sagen Experten. Denn die gesetzlichen Regeln für den IStGH lassen keinen Raum für politisches Ermessen, zudem sind die Gewaltenteilung und die föderale Zuständigkeitsverteilung zu berücksichtigen.

BMJ involviert – aber nur als Poststelle der Bundesrepublik

"Selbstverständlich kann der Bundeskanzler nicht Landesjustizverwaltungen Weisungen erteilen", sagte am Mittwoch eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums (BMJ) auf der Regierungspressekonferenz. Vorausgegangen war die Frage, ob ein Bundeskanzler in Bereiche der Judikative eingreifen könne. Bei den Justizbehörden und Gerichten der Länder liegt aber eben die Zuständigkeit dafür, die notwendigen Schritte zur Festnahme und Überstellung zu veranlassen. Zwei Zugriffsmöglichkeiten für Merz gäbe es aber doch.

Der direkteste Weg führt über das BMJ. Dieses ist im Verhältnis zum IStGH zuständig für die Bearbeitung von Ersuchen des IStGH, es soll im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt (AA) und ggf. anderen betroffenen Ministerien handeln. So steht es in § 68 des IStGH-Gesetzes, des nationalen Umsetzungsgesetzes zum völkerrechtlich maßgeblichen Römischen Statut. "Die Idee ist richtig: Bei internationalen Rechtshilfeersuchen, insbesondere solchen des IStGH, soll die Bundesregierung beteiligt sein", sagt Rechtsanwalt Dr. Nikolaos Gazeas zu LTO. Der Experte für Auslieferungsrecht fährt fort: "Ein Recht zur Überprüfung, ob der Haftbefehl des IStGH völkerrechtlich korrekt ist, steht dem BMJ aber nicht zu. Es muss den Haftbefehl und das Festnahme- und Überstellungsersuchen an die zuständige Generalstaatsanwaltschaft zur Veranlassung der Festnahme weiterleiten."

Dort beginnt dann das eigentliche Verfahren von der Ausschreibung zur Fahndung bis zur Überstellung, das im IStGH-Gesetz dezidiert geregelt ist. Das wird im "Normalfall" – wenn man davon bei mutmaßlichen Kriegsverbrechern wirklich sprechen mag – erst in Gang gesetzt, sobald der IStGH der Bundesregierung über die Botschaft in Den Haag ein Festnahme- und Überstellungsersuchen hat zukommen lassen. Das tut er nach Art. 89 Abs. 1 des Römischen Statuts gegenüber "jedem Staat, in dessen Hoheitsgebiet sich [die gesuchte] Person vermutlich befindet". Beide Ministerien teilten LTO mit, dass ein solches Ersuchen dort noch nicht eingegangen sei.

"Unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar"

Somit steht Merz der praktisch einfachste Weg einer Einflussnahme sogar noch zur Verfügung: Er kann seinen neuen Justizminister im Rahmen der Richtlinienkompetenz anweisen, ein mögliches IStGH-Ersuchen nicht an die zuständige Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) weiterzuleiten. Das wäre weder ein Verstoß gegen die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern noch gegen die Gewaltenteilung. Evident rechtswidrig wäre ein solches Verhalten aber trotzdem, sagt Gazeas. "Ein Überstellungsersuchen des IStGH zu ignorieren ist mit der völkerrechtlichen Verpflichtung Deutschlands aus dem Römischen Statut und mit den Vorgaben im IStGH-Gesetz unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vereinbar." Die Rechtsgrundlagen ließen keinen Raum für ein politisches Ermessen, so Gazeas.

Sobald sich ein Staatsbesuch Netanjahus ankündigen würde, ist davon auszugehen, dass der IStGH die Bundesrepublik um Festnahme und Überstellung ersuchen würde. Leitet das BMJ dieses weiter, läge das weitere Verfahren in den Händen der zuständigen Landesjustiz. Eine direkte Einflussnahme der Bundesregierung per Weisung wäre nun schon im Ausgangspunkt nicht mehr möglich. Vielmehr müsste der Bundeskanzler politischen Druck auf die zuständigen Landesjustizminister ausüben. Insofern könnte es helfen, dass in Berlin mit Felor Badenberg eine Parteikollegin von Merz das Justizressort leitet. Solange Netanjahu deutschen Boden noch nicht betreten hat, ist nach § 8 Abs. 3 IStGH-Gesetz die Justiz am Regierungssitz zuständig. Landet Netanjahu am Flughafen BER, wäre nach Abs. 1 Brandenburg zuständig. Eine Weisung müsste dann Benjamin Grimm übernehmen. Grimm gehört der SPD an – immerhin dem voraussichtlichen Koalitionspartner der Union auf Bundesebene.

Eine Weisung könnte allenfalls an die jeweilige GenStA gerichtet sein. Wegen der Gewaltenteilung offensichtlich ausgeschlossen ist eine Weisung der Exekutive an das jeweilige Oberlandesgericht (OLG). Dieses erlässt nach §§ 10 ff. IStGH-Gesetz den zur Umsetzung formal notwendigen Überstellungshaftbefehl. Da diese Entscheidung nach § 7 Abs. 2 IStGH-Gesetz aber grundsätzlich nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft und nicht eigenmächtig ergeht, hätte Badenberg bzw. Grimm hier einen Hebel. Sie könnten ihre GenStA – nach § 147 Nr. 2 Gerichtsverfassungsgesetz – anweisen, den Antrag auf Erlass eines Überstellungshaftbefehls beim Kammergericht bzw. OLG Brandenburg nicht zu stellen.

Weisung contra legem

Doch auch das wäre rechtswidrig, sagt Strafrechtler Gazeas. Weder das Römische Statut noch das IStGH-Gesetz ließen Raum für eine solche Weisung. Eine Weisung darf nicht in Widerspruch zu zwingendem Recht stehen. Sie wäre also hier nur zulässig, wenn das IStGH-Gesetz der GenStA Ermessen einräumen würde. Und das sei nicht der Fall, sagt Gazeas, sowohl die GenStA als auch das OLG seien in ihren Entscheidungen nicht frei. 

Dessen ist sich auch die GenStA Berlin bewusst. "Ebenso wie die Ausschreibung zur Fahndung ist im Falle einer Festnahme im Inland der Erlass eines Überstellungshaftbefehls durch das für den Festnahmeort zuständige Oberlandesgericht obligatorisch", sagt Sprecher Sebastian Büchner auf LTO-Anfrage. "Ein Ermessensspielraum besteht nicht."

Auch der Göttinger Professor für Straf- und Völkerrecht Kai Ambos, der in Bezug auf Merz‘ Ankündigung auf dem Verfassungsblog von einem "Rechtsbruch mit Ansage" spricht, macht deutlich: Weder die Justizbehörden noch die Gerichte haben hier Spielraum. Vielmehr müssen sie dem Ersuchen des IStGH Folge leisten.

Rechtmäßigkeit des Haftbefehls wird nicht geprüft

Das stellt auch Art. 59 Abs. 4 S. 4 des Römischen Statuts unmissverständlich klar: “Der zuständigen Behörde des Gewahrsamsstaats steht es nicht frei, zu prüfen, ob der [IStGH-Haftbefehl] ordnungsgemäß erlassen wurde.”

Das ändert sich laut Ambos auch nach einer etwaigen Festnahme, im nachgelagerten Überstellungsverfahren, nicht. Zwar könnte Netanjahu hier grundsätzlich gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen. Eine auf Grundlage des IStGH-Gesetzes festgenommene Person ist, ebenso wie bei innerstaatlichen Haftbefehlen, nach der Festnahme unverzüglich einem Richter beim Amtsgericht vorzuführen. Allerdings werden hier nur die Personalien des Betroffenen und der Überstellungshaftbefehl darauf überprüft, ob er inzwischen aufgehoben oder sein Vollzug ausgesetzt worden ist.  

Der Betroffene kann auch beantragen, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen. Das kommt nach § 16 Abs. 2 IStGH-Gesetz i.V.m. Art. 59 Abs. 4 Römisches Statut nur in Betracht, wenn "dringende und außergewöhnliche Umstände" eine vorläufige Haftentlassung rechtfertigen. Dafür muss aber sichergestellt sein, dass der überstellende Staat die Pflicht zur Überstellung an den Gerichtshof erfüllen kann. Es handelt sich hier eben nicht um eine Freilassung. Da sich dieses Verfahren allein vor den Gerichten abspielt, haben weder Bundes- noch Landesregierung Zugriff. 

Anders beim zweistufigen Überstellungsverfahren. Hier bedarf es nach § 6 IStGH-Gesetz einer Bewilligung durch die Exekutive, zuständig ist auch hier das BMJ, im Einvernehmen mit dem AA. Hier hätte das neue Kabinett Merz also einen weiteren Hebel. Allerdings würde auch dies laut Ambos und Gazeas gegen die Vorgaben des Römischen Statuts und des IStGH-Gesetzes verstoßen.  

Unabhängig vom Verfahrensstadium liegt diesen Regelungen die Wertung zugrunde: Ein Vertragsstaat hat einem Festnahme- und Überstellungsersuchen des IStGH Folge zu leisten. "Das sagt freilich nichts darüber aus, ob der IStGH-Haftbefehl als solcher rechtlich korrekt ist oder nicht", betont Gazeas.

Kritik am Haftbefehl

Die Haftbefehle, die der IStGH im November 2024 gegen Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Gallant erlassen hat, werden vielfach kritisiert. Sie ergingen wegen des Verdachts schwerer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Parallel erließ die Vorverfahrenskammer auch einen Haftbefehl gegen – den allerdings getöteten – Hamas-Führer Mohammed Deif wegen schwerster Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen. Die Vorwürfe hatte LTO ausführlich zusammengefasst.

Besonders umstritten ist unter Völkerrechtlern die territoriale Zuständigkeit des IStGH für die palästinensischen Gebiete und mithin für Gaza. Die hatte dieselbe Kammer 2021 bereits bejaht. Mit knapper Stimmenmehrheit von 2:1 unter den Richtern entschied die Kammer, dass Palästina durch die Ratifizierung Vertragsstaat im Sinne des Römischen Statuts geworden sei, ließ aber offen, ob Palästina generell die Voraussetzungen eines Staates erfülle. Dies halten einige Völkerrechtler national wie international für inkonsequent.

Doch auch wenn man sich dieser Auffassung anschließt, macht das den Haftbefehl nicht ungültig. Vielmehr muss derjenige, der von einer gegen ihn ergangenen Gerichtsentscheidung betroffen ist, ein Rechtsmittel einlegen. Von dieser Möglichkeit hat Israel im Fall Netanjahu auch Gebrauch gemacht, eine Entscheidung der IStGH-Berufungskammer steht aber noch aus. Solange der IStGH-Haftbefehl in der Welt ist, muss Deutschland ihn wie die übrigen 124 Vertragsstaaten aber eben umsetzen. Nur wenn man eine grobe Kompetenzanmaßung des IStGH annähme, ein Handeln außerhalb aller Grenzen – im Juristenlatein: ultra vires –, nur dann könnte man argumentieren, dass Deutschland den Beschluss nicht beachten muss. Diese Auffassung vertrat im Mai 2024 der Wiesbadener Staats- und Verwaltungsrechtler Matthias Friehe in einem Gastbeitrag in der FAZ mit dem Titel: "Deutschland dürfte Netanjahu nicht ausliefern."

Der Streit um die Immunität

Friehe sieht ein Vollzugshindernis zudem in der Immunität ausländischer Staatsoberhäupter bei Staatsbesuchen; diese sei völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Die Konsequenz wäre, dass die Immunitätsregel unter Art. 25 Grundgesetz (GG) fiele und damit höheren Rang hätte als völkerrechtliche Verträge wie das Römische Statut. Diese werden nach Art. 59 Abs. 2 GG per einfachem Zustimmungsgesetz ins deutsche Recht überführt.

Neun renommierte Kollegen traten in einer direkten Replik beiden Einwänden entgegen. Diese "entsprechen nicht dem heutigen Stand des Völkerrechts", heißt es in dem gemeinsamen Gastbeitrag, der ebenfalls in der FAZ erschienen ist. Mit-Autorinnen Stefanie Bock und Julia Geneuss (zusammen mit dem am FAZ-Beitrag nicht beteiligten Aziz Epik) haben ihre Auffassung gegenüber Beck-aktuell bzw. auf LTO bekräftigt. Sie sind Professorinnen für Internationales Strafrecht. Auch Völkerrechtsprofessor Christoph Safferling von der FAU Erlangen-Nürnberg geht gegenüber dem Tagesspiegel von einer Umsetzungspflicht Deutschlands aus. Eine offensichtliche Überschreitung der eigenen Kompetenzen durch den IStGH können die Experten nicht erkennen. Auf die theoretische Option einer Ultra-vires-Kontrolle gehen sie jedoch nicht explizit ein.

Zum Immunitätseinwand argumentieren die Professoren in der FAZ unter Verweis auf eine Entscheidung des IStGH aus dem Jahr 2019. Gegenstand war die nicht erfolgte Überstellung des ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Bashir von Jordanien an den IStGH. Jordanien hatte sich ebenfalls auf die "Head of State immunity" berufen, doch der IStGH erteilte diesem Argument eine Absage. Aus Art. 27 des Römischen Statuts folge, dass sich Staats- und Regierungschefs vor dem IStGH generell nicht auf ihre personelle Immunität berufen können. Dies gelte auch dann, wenn der Heimatstaat der gesuchten Person – wie Sudan und Israel – kein Vertragsstaat ist. Diese Regel ist nach Auffassung der neun Völkerrechtler nun zu Gewohnheitsrecht erstarkt, auch weil sie sich mit Entscheidungen einiger andere völkerstrafrechtlicher Tribunale decke. Folgt man dem, ist nicht die Immunität, sondern deren Nichtanerkennung Gewohnheitsrecht – und dann steht sie im Rang über den einfachen Bundesgesetzen.

Dass eine künftige Merz-geführte Bundesregierung meint, den Stand des Völkergewohnheitsrechts besser einschätzen zu können als internationale Gerichte und eine große Mehrheit renommierter Völkerrechtler, ist in diesen Zeiten nicht auszuschließen. Dann würde er Netanjahu freies Geleit mit der juristischen Brechstange garantieren. Ähnlichkeit hätte ein solches Regierungshandeln mit dem auf der anderen Seite des Atlantiks.

Zitiervorschlag

Friedrich Merz will Netanjahu-Festnahme verhindern: . In: Legal Tribune Online, 26.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56674 (abgerufen am: 19.04.2025 )

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