Auf deutschem Boden tötet ein US-Soldat einen Deutschen, gesteht die Tat und wird von einem US-Gericht freigesprochen. Der Fall sorgte für Empörung, vieles blieb unklar. LTO-Recherchen zeigen: Auch deutsche Ermittler tragen eine Mitschuld.
Ein lauer Sommerabend in Wittlich, Rheinland-Pfalz, im August 2023. Auf dem Marktplatz herrscht Trubel – die Säubrennerkirmes läuft. Für den 28-jährigen Deutschen Michael Ovsjannikov sollte es ein unbeschwerter Abend mit Freunden werden. Doch wenige Stunden später ist er tot – erstochen im Streit mit einem US-Soldaten. Was folgt, ist ein Justizdrama über Paralleljustiz auf deutschem Boden, das Grundfesten des deutschen Rechtsstaats erschüttert – und weit über Wittlich hinaus für Empörung sorgt.
Der Fall scheint zunächst klar. Zwei tatverdächtige US-Soldaten von der 20 Minuten entfernten Air Base Spangdahlem werden schnell festgenommen. Einer von ihnen, Grant H., gesteht die Tat. So ist es in den LTO vorliegenden Ermittlungsakten dokumentiert.
In seiner Vernehmung am 19. August 2023 erklärt der damals 27-Jährige, seit zwei Jahren in Deutschland stationiert zu sein. Wegen schwerer Depressionen wolle er die Armee verlassen, ein Selbstmordversuch liege hinter ihm. Seit zwei Tagen nehme er ein neues Medikament.
An jenem Abend sei er mit einem Freund und zwei Frauen unterwegs gewesen. Nach stundenlangem Alkoholkonsum auch auf der Kirmes sei es auf dem Heimweg zu einem Streit mit einem "unbekannten Typen" gekommen. Aus Angst um seinen Freund habe er mindestens zweimal in die rechte Körperseite des Unbekannten gestochen. Dann seien sie geflüchtet. Auf die Frage, warum er nicht einfach versucht habe, seinen Freund von Ovsjannikov wegzuziehen, antwortet H.: "Ich bin einfach ausgeflippt." Ovsjannikov stirbt laut Obduktionsbericht an inneren Blutungen direkt am Tatort.
Kein Fall für die deutsche Justiz?
Bei der Befragung sind nicht nur der Kriminalhauptkommissar B. der Polizei Trier, sondern auch zwei US-Ermittler anwesend. Special Agent Angelo M. und Special Investigator Denise W., die auch als Übersetzerin fungiert.
Der Grund für diese anfängliche Doppelermittlung liegt in einer bemerkenswerten Rechtslage: Trotz eines Totschlags auf deutschem Boden könnte die US-Militärgerichtsbarkeit zuständig werden – konkret das Air Force Office of Special Investigations (AFOSI). Die Frage der Zuständigkeit wird durch das NATO-Truppenstatut (NTS) geregelt. Es legt fest, welche Nation die Strafverfolgung übernimmt, wenn NATO-Soldaten in Gastländern Straftaten begehen. Die Staatsanwaltschaft Trier entscheidet nach diesen Vorschriften, den Fall den Amerikanern zu übergeben – eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Welche rechtlichen Spielräume der Staatsanwaltschaft dabei tatsächlich bestanden – und ob die Entscheidung unumgänglich war –, wird später noch von Bedeutung sein.
Die Staatsanwaltschaft stellt das deutsche Ermittlungsverfahren jedenfalls ein und übergibt die Akten sowie den Beschuldigten an die US-Militärjustiz. Diese klagt Grant H. unter anderem wegen "unpremeditated murder", also wegen eines ungeplanten Totschlags, nach Artikel 118 des Uniform Code of Military Justice (UCMJ) an.
In der aktuellen Folge des Podcast "Mordlust" besprechen LTO-Chefredakteur Felix. W. Zimmermann zusammen mit Podcast-Hostin Paulina Krasa den Fall Wittlich unter dem Titel "Das fatale Abkommen".
Die Hauptverhandlung beginnt im September 2024 vor einem US-Militärgericht auf der Air Base Spangdahlem. Ein US-Militärgericht besteht an sich nur aus Militärangehörigen: Richter, Ankläger, alle US-Militärs. Auch die achtköpfige Jury besteht aus Soldaten, sogar vom gleichen Stützpunkt wie der Angeklagte, also Spangdahlem. Allerdings besorgte sich Grant H. einen zivilen Verteidiger: Grover H. Baxley, Experte im Militärstrafrecht aus Virginia. Laut Trierer Volksfreund zerlegt Baxley die Argumentation der Anklage. Von einem Geständnis ist plötzlich keine Rede mehr. Stattdessen bezichtigt Baxley den Freund von Grant H. der Tat und präsentiert eine alternative Version des Geschehens. Doch das zentrale Beweismittel wird der Jury gar nicht präsentiert: das Geständnis von H.
Warum die Jury nichts vom Geständnis erfährt
Die Militärrichterin hatte bereits in einem Beschluss vom 15. Juni 2024, nach einem "motion hearing" entschieden, dass das Geständnis nicht verwertet werden darf. Daher erfährt die Jury auch nichts davon, dass H. selbst eingeräumt hatte, ausgeflippt zu sein, zugestochen zu haben und anschließend geflüchtet zu sein. Ohne diese Aussage bleibt der Sachverhalt für die Jury unklar. Selbst unabhängige Prozessbeobachter halten es nach dem Prozessfortgang für zweifelhaft, ob H. oder sein Freund für die Messerstiche verantwortlich war. Und so spricht die Jury den Angeklagten schließlich frei. Es folgt ein Sturm der Entrüstung in Wittlich, begleitet von Demonstrationen vor der Air Base.
Doch warum ließ die Richterin das Geständnis nicht zu? Die genauen Gründe dafür bleiben zunächst im Dunkeln. Auf Nachfrage von LTO teilt die Air Base lediglich abstrakt mit, dass das Gericht im Rahmen einer Gesamtabwägung zu dem Schluss gekommen sei, dass die Aussage des Angeklagten nicht freiwillig erfolgt sei ("was not voluntary") und daher nicht als Beweismittel habe zugelassen werden können. Worin genau die Unfreiwilligkeit gesehen wurde, bleibt unbeantwortet. Auch weigert sich die Air Base trotz mehrerer Anfragen beharrlich, die Beschlussbegründung des Gerichts zum Verwertungsverbot herauszugeben. Geheimjustiz mitten in Deutschland.
Ausgerechnet der Anwalt des Angeklagten, Grover H. Baxley, zeigt sich auskunftsfreudiger als die verschwiegenen US-Militärbehörden. Gegenüber LTO erklärt er, aus welchen Gründen das US-Militärgericht das Geständnis seines Mandanten angeblich nicht zugelassen habe. Verantwortlich dafür seien sowohl Fehler der deutschen als auch der amerikanischen Ermittler.
Sein Mandant habe die Aussage nur unter der Androhung gemacht, andernfalls die Nacht im Gefängnis verbringen zu müssen. Vor allem aber sei er nicht korrekt belehrt worden. Er habe ausgesagt, ohne überhaupt zu wissen, dass Michael Ovsjannikov verstorben sei. Baxleys Darstellung zur Begründung des Gerichts deckt sich dabei mit Informationen des Justizministeriums Rheinland-Pfalz. Gegenüber LTO teilt das Ministerium mit, dass die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz von einem Rechtsberater des US-Militärs über die Gründe für die unterbliebene Einführung des Geständnisses unterrichtet worden sei. Laut diesem habe die Richterin keine ausreichenden Belege dafür gesehen, dass der Tatvorwurf – also die Ermittlung wegen eines Tötungsdelikts – ordnungsgemäß übersetzt wurde. Die Generalstaatsanwaltschaft bestätigte gegenüber LTO zudem, dass auch im Raum gestanden habe, dass Grant H. möglicherweise Untersuchungshaft angedroht worden sei, sollte er die Tat nicht gestehen.
"Drohung" mit Untersuchungshaft
Doch was ist dran an den Vorwürfen des US-Gerichts? Sind tatsächlich "ermittlungstaktische Fehler" begangen worden?
Zunächst zum Vorwurf der angedrohten Untersuchungshaft: Laut Generalstaatsanwaltschaft Koblenz haben die beiden vernehmenden Beamten den Vorwurf einer unzulässigen Drohung gegenüber den US-amerikanischen Behörden ausdrücklich zurückgewiesen. Doch selbst wenn die Polizeibeamten auf die Möglichkeit einer Untersuchungshaft hingewiesen hätten, ist nicht ersichtlich, warum darin eine rechtswidrige Drohung liegen sollte. Untersuchungshaft nach § 112 der Strafprozessordnung (StPO) ist eine mögliche und gebotene gerichtliche Anordnung bei dringendem Tatverdacht und Fluchtgefahr, wie sie typischerweise bei einem Tötungsdelikt angenommen wird. Daher erscheint ein Hinweis auf die Möglichkeit einer Inhaftierung keineswegs ungewöhnlich, sondern eher als wahrheitsgemäße Information über die möglichen Rechtsfolgen bei fehlender Ausräumung des dringenden Tatverdachts durch den Beschuldigten.
Eine Nachfrage bei Anwalt Baxley sowie bei der Air Base, warum das Militärgericht hierin dennoch eine unzulässige Drohung gesehen haben soll, blieb unbeantwortet.
Deutsche Ermittler übersetzen "versuchtes Tötungsdelikt" nicht
Nach früherer Angabe von Baxley war aber ohnehin die angeblich fehlerhafte Belehrung seines Mandanten der entscheidende Punkt. LTO liegt das von H. unterzeichnete Belehrungsformular vom 19. August 2023 vor. Darin ist sowohl dokumentiert, dass H. auf Deutsch belehrt wurde, als auch, wie die jeweiligen Passagen ins Englische übersetzt wurden. Jede einzelne Formulierung – etwa der Hinweis, dass es dem Beschuldigten freisteht, sich zur Sache zu äußern, oder dass er das Recht hat, einen Anwalt hinzuzuziehen – wurde sorgfältig ins Englische übertragen.
Nur an einer zentralen Stelle, gleich zu Beginn des Protokolls, unterlief der Trierer Polizei ein folgenschwerer Fehler:
Der Satz "Mir ist eröffnet worden, welche Straftat mir zur Last gelegt wird" wurde noch korrekt mit "I have been informed of the crime I am accused of" übersetzt. Doch nach den unmittelbar folgenden Worten "Verdacht Tötungsdelikt" folgt keine Übersetzung. Zu lesen sind lediglich die Worte "Charge / Criminal Provisions", also "Vorwurf / Strafvorschriften". Diese Wörter dienten offenbar als Platzhalter eines Standard-Belehrungsformulars, an dessen Stelle die Übersetzung des Tatvorwurfs noch hätte eingetragen werden müssen, was aber offenbar nicht erfolgt ist.
Nachfrage bei der Trierer Staatsanwaltschaft und Polizei: Wieso wurde "Verdacht Tötungsdelikt" nicht übersetzt? Der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Trier bestätigt, dass im Belehrungsformular der Eintrag nur in deutscher Sprache erfolgte. "Der Grund hierfür ist nicht bekannt", heißt es lapidar.
Ein folgenschwerer Fehler der deutschen Ermittler: Wäre die Formulierung "Verdacht Tötungsdelikt" im Formular übersetzt worden, hätte das Militärgericht das Geständnis aller Wahrscheinlichkeit nach als verwertbar angesehen, und Grant H. wäre wohl verurteilt worden.
Strenges US-Strafprozessrecht gerade bei Militärangehörigen
Doch ist es umgekehrt überzeugend, dass das Gericht der Jury das Geständnis wegen dieses Fehlers vorenthalten worden ist? Beschuldigtenanwalt Baxley erläutert gegenüber LTO, dass die Rechte von Militärangehörigen in Strafverfahren in vielerlei Hinsicht weiterreichen als die Rechte amerikanischer Zivilisten. Im Gegensatz zu Ermittlungen gegen Zivilpersonen verlange Art. 31 UCMJ, dass ein militärischer Beschuldigter bereits vor der Vernehmung ausdrücklich über die Art des Tatvorwurfs informiert wird. Ein einmal begangener prozessualer Fehler hat in den USA oft drastische Konsequenzen. Dort gilt die sogenannte "Fruit of the Poisonous Tree"-Doktrin: Nicht nur Beweismittel, die unmittelbar durch eine rechtswidrige Maßnahme erlangt wurden, sind unzulässig – auch alle weiteren Beweise, die auf diesen unrechtmäßigen Erkenntnissen beruhen, werden von der Verwertung ausgeschlossen.
Aber lässt sich allein aus der fehlenden Übersetzung im Belehrungsformular tatsächlich darauf schließen, dass H. – entgegen den Anforderungen von Art. 31 UCMJ – vor der Vernehmung nicht über den Tatvorwurf informiert wurde? Ein Blick in die Akten des anschließenden Vernehmungsprotokolls spricht zunächst dagegen: Gleich zu Beginn der Vernehmung bestätigt H., dass er bereits vor Vernehmungsbeginn über den Tatvorwurf aufgeklärt worden sei.
Wörtlich heißt es dort: "Weiterhin wurde mir der Tatvorwurf erläutert. Ich weiß also, warum ich heute hier vernommen werde. Konkret geht es um einen Vorfall von heute Nacht hier in Wittlich, bei dem eine Person gewaltsam zu Tode gekommen ist. Die Polizei ermittelt wegen des Verdachts eines Tötungsdelikts. Mir wurde auch erklärt, dass ich derzeit aufgrund der bisherigen Ermittlungen der Polizei verdächtigt werde, etwas mit dem Tötungsdelikt zu tun zu haben. Daher wurde ich hier auch als Beschuldigter belehrt."
Deutsche Ermittler denken nur an ihr Protokoll
Nachfrage beim Anwalt: Belegt diese Passage nicht, dass die Belehrung von Anfang an stattgefunden hat?
Nein, so Baxleys Antwort. Denn die Passage existiere lediglich in deutscher Sprache im Protokoll. Was sein Mandant auf Englisch gefragt wurde und wie er sich daraufhin auf Englisch geäußert habe, sei nicht dokumentiert. Die deutschen Beamten hätten zwar ein Diktiergerät mitlaufen lassen, aber die Vernehmung nur bruchstückhaft aufgezeichnet, das Tonband immer wieder an- und ausgeschaltet. Die Stimme seines Mandanten sei auf den Aufzeichnungen nicht zu hören. Insbesondere gebe es keine einzige Stelle, in der ausdrücklich von "homicide" oder einem vergleichbaren Begriff die Rede sei. Daher bestehe auch kein Beweis dafür, dass er den Tatvorwurf kannte.
Die Staatsanwaltschaft und Polizei Trier bestätigen gegenüber LTO den nur sporadischen Einsatz des Diktiergeräts. Auf dieses werde nur "das eingesprochen, was später von einer Schreibkraft für die Akte niedergeschrieben wird". Entsprechend würden nur die auf Deutsch gestellten Fragen der Beamten und die deutsche Übersetzung von H.s Antworten durch die Dolmetscherin diktiert. Weder die Übersetzung der Fragen für H. durch die Dolmetscherin noch H.s englische Originalantworten wurden auf Tonband aufgenommen.
Die Staatsanwaltschaft Trier ergänzt, ein derartiger bruchstückhafter Einsatz des Diktiergeräts sei nichts Ungewöhnliches: "Das Diktiergerät dient dabei nicht der Aufzeichnung und Dokumentation des gesprochenen Wortes, sondern ist lediglich ein Hilfsmittel für die Verschriftlichung, das den Einsatz einer Schreibkraft vor Ort ersetzt." Diese Verfahrensweise sei gängige Praxis bei kriminalpolizeilichen Vernehmungen.
Ob gängige Praxis oder nicht – auch hier zeigt sich, dass der auf das deutsche Protokoll begrenzte Blick der deutschen Ermittler wenig weitsichtig war und sich im Nachhinein als Fehler erwies. Wäre die Vernehmung von Anfang an vollständig dokumentiert worden, hätte sich für die Verteidigung von Grant H. diese Lücke für ein Argumentationsmuster gar nicht erst aufgetan.
Videovernehmung belegt Kenntnis vom Tatvorwurf
Für eine sofortige und vollständige Aufzeichnung der Vernehmung dürfte auch die Strafprozessordnung sprechen. In § 136 Abs. 4 StPO heißt es, dass die Vernehmung des Beschuldigten aufzuzeichnen "ist", wenn dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und keine dringenden Gründe dagegen sprechen. Gemeint ist damit allerdings nicht die bloße Tonaufnahme, sondern eine audiovisuelle Vernehmung. Erst nach dem ersten Geständnis ging die Polizei Trier dazu über, die Vernehmung entsprechend dieser Vorgabe als Videovernehmung fortzusetzen, und wiederholte dort die gestellten Fragen.
Allerdings deutet auch das Protokoll der audiovisuellen Vernehmung darauf hin, dass H. bereits am Anfang über den Tatvorwurf belehrt worden ist. So erklärt der vernehmende Beamte: "Dann würde ich nochmal, wie gesagt, die Beschuldigtenbelehrung auf Deutsch wiederholen. Der Tatvorwurf, der hier im Raum steht, ist der Verdacht eines Tötungsdelikts." Darauf antwortet H.: "Yes." Doch auch hier fehlt die schriftliche Übersetzung im Protokoll. Auf mehrmalige Nachfrage von LTO sichtet die Staatsanwaltschaft Trier das Vernehmungsvideo und teilt den Wortlaut der mündlichen Übersetzung mit: "So he will repeat the advisement as subject. And the allegation is, allegation of homicide." Darauf H.: "Yes." Und weiter: "Last night, at the event, a person passed away during the incident, and we are going to ask some questions about this." Antwort: "Yes."
Also doch die Bestätigung, dass H. auf Englisch vom Tatvorwurf erfahren hat. Was sagt dazu Anwalt Baxley? Die Aussagen in der Videovernehmung spielten keine Rolle, so seine Antwort. Entscheidend sei, dass sein Mandant bereits bei der ersten Vernehmung nicht ordnungsgemäß belehrt wurde und seine Aussagen deshalb unter Verstoß gegen seine Rechte zustande gekommen seien.
Im Ergebnis überzeugt das nicht. Denn die Fragen und Antworten in der Videovernehmung belegen, dass die Belehrung zum Tatvorwurf lediglich wiederholt wurde. Die Dolmetscherin spricht ausdrücklich von "repeat". H's Bestätigung mit "Yes" dürfte belegen, dass die Erläuterung des Tatvorwurfs bereits in der ersten Vernehmung erfolgte. Und zwar naheliegenderweise an der Stelle, wo sie auch im deutschen Protokoll vermerkt ist: ganz am Anfang – wie es Artikel 31 UCMJ vorschreibt. Dass die Stelle im Vernehmungsprotokoll falsch übersetzt wurde und, noch dazu, die von H. eingeräumte Belehrung an ganz anderer Stelle stattfand, ist äußerst unwahrscheinlich. Somit bleibt es bislang unplausibel, dass das US-Militärgericht das deutsche Geständnis nicht verwertete. Die genaue Begründung des Militärgerichts bleibt weiter in Spangdahlem unter Verschluss.
Deutsche und amerikanische Ermittler und US-Militärgericht mit schweren Versäumnissen
Nach Abschluss der Videovernehmung waren die US-Ermittler an der Reihe und vernahmen H. erneut. Denn alles sollte ja doppelt und dreifach beweissicher sein, auch nach US-Militärrecht. Doch die Fehler setzten sich auch bei den US-Ermittlern fort: Special Agent Angelo M. belehrte H. nicht wegen Totschlags, sondern lediglich wegen schwerer Körperverletzung ("aggravated assault"). Das sagen übereinstimmend Anwalt Baxley und der Rechtsberater des US-Militärs gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz. "Aggravated assault" ist ein Delikt, das laut Baxley nach dem UCMJ mit einer Höchststrafe von fünf Jahren Freiheitsentzug geahndet wird, während bei Totschlag eine lebenslange Haftstrafe drohen könne.
Wie kann es sein, dass erfahrenen US-Strafverfolgern, die die strengen Belehrungsvorschriften für Militärangehörige eigentlich genau kennen müssten, ein solcher Lapsus unterläuft? Eine Nachfrage bei der Air Base hierzu bleibt unbeantwortet.
Und die Fehler der US-Ermittler gehen weiter: Bei dem "motion hearing" wurde die Übersetzerin Denise W. nicht als Zeugin benannt. Wer, wenn nicht sie, hätte aussagen können, ob Grant H. gleich zu Beginn der Verhandlung über den Tatvorwurf auf Englisch zutreffend informiert wurde. Zudem hätte die Staatsanwaltschaft gegen den Verwertungsverbotsbeschluss der Richterin – im Gegensatz zum späteren Juryfreispruch – Rechtsmittel einlegen können. Doch auch das unterblieb. Warum?
Nach Auskunft der Air Base handelte es sich dabei um eine strategische Entscheidung ("strategic decision") mit Blick auf die möglichen Auswirkungen auf die im Prozess noch zur Verfügung stehenden Beweismittel. Offenbar befürchtete die Staatsanwaltschaft, dass eine Berufung zu erheblichen Verzögerungen geführt hätte, die wiederum die Befragung der Zeugen zum eigentlichen Tatgeschehen erschwert hätten.
Was bleibt: Versagen und Missstände auf mehreren Ebenen. Ein US-Militärgericht, das seine Entscheidung zur Beweisverwertung unter Verschluss hält. US-Ankläger, die – trotz Kenntnis der strengen Vorschriften – den Beschuldigten offenbar falsch belehren, eine zentrale Zeugin nicht laden und gegen einen offenkundig prozessentscheidenden Beweisverwertungsbeschluss keine Rechtsmittel einlegen. Und schließlich auch Versagen auf deutscher Seite: eine Polizei, die ein Belehrungsformular ausgibt, ohne den Tatvorwurf korrekt zu übersetzen. Hinzu kommt die wenig vorausschauende Entscheidung, die erste Vernehmung nicht vollständig aufzuzeichnen – obwohl § 136 Abs. 4 StPO dies ausdrücklich ermöglicht, möglicherweise sogar vorschreibt. Die Trierer Polizei und Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens trägt damit eine Mitverantwortung für das trostlose Ende dieses Prozesses.
Nach deutschem Strafprozessrecht sind Nachlässigkeiten oft folgenlos
Die Nachlässigkeit der deutschen Ermittler könnte auch damit zusammenhängen, dass eine solche Unachtsamkeit nach deutschem Recht in der Regel folgenlos bleibt. Das deutsche Strafverfahrensrecht kennt keinen Grundsatz, wonach ein Verfahrensverstoß automatisch ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Vielmehr entscheidet eine Abwägung im Einzelfall, wobei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig der Wahrheitsfindung Vorrang eingeräumt wird. Ein Belehrungsfehler führt oft nicht zu einem Beweisverwertungsverbot.
Ausnahmen bestehen etwa bei arglistiger Täuschung oder Folterandrohung, hier ist die Unverwertbarkeit der Aussage in § 136a Abs. 3 S. 2 StPO ausdrücklich angeordnet.
Somit ist naheliegend, dass Grand H. vor einem deutschen Gericht verurteilt worden wäre, auch wenn das konkrete Ergebnis einer Beweisaufnahme natürlich nicht antizipiert werden kann. Jedenfalls hätte ein deutsches Gericht sehr wahrscheinlich keine durchgreifenden Bedenken gegen die Verwertung des Geständnisses gehabt, auch weil der protokollierte Gesprächsverlauf die Belehrung zum Tatvorwurf offenkundig macht.
Ping-Pong-Zuständigkeit im NATO-Truppenstatut
Womit zur Frage zurückzukommen ist, ob die deutschen Ermittler den Fall überhaupt an die US-Amerikaner hätten abgeben müssen. Die eingangs erwähnten Regeln des NATO-Truppenstatuts laufen auf ein komplexes Zuständigkeits-Ping-Pong hinaus: Eigentlich hat im Fall eines Totschlags mit deutschem Tatopfer grundsätzlich Deutschland das Vorrecht der Strafverfolgung (Art. 7 Abs. 3 NTS).
Allerdings kann auf dieses Vorrecht verzichtet werden (Art. 7 Abs. 3 NTS). Aus der Ausnahme "Verzicht" hat Deutschland die Regel gemacht. Es hat gegenüber den USA allgemein den Verzicht auf das Vorrecht der Strafverfolgung erklärt, es sei denn die Todesstrafe droht. Diesen allgemeinen Verzicht ermöglicht das Zusatzabkommen zum Truppenstatut (Z-NTS) ausdrücklich in Art. 19.
Doch dieser allgemeine Verzicht verdammt die deutsche Staatsanwaltschaft keineswegs zur Untätigkeit. Nach den NATO-Regeln kann sie den Verzicht zurücknehmen und den Fall wieder an sich ziehen. Voraussetzung dafür ist, dass "Belange der deutschen Rechtspflege" dies "erfordern" (vgl. Art. 19 Abs. 3 Z-NTS). Zu diesen Belangen zählen ausdrücklich schwere Straftaten, bei denen der Tod eines Menschen verursacht wird – vorausgesetzt, das Tatopfer ist kein US-Militärangehöriger. Der Totschlag an einem deutschen Staatsbürger durch einen US-Soldaten müsste also, dem Geist der Regelung folgend, eigentlich ein typischer Fall für die Rücknahme des Verzichts auf die deutsche Gerichtsbarkeit sein.
Landesverwaltungsvorschrift verunmöglicht faktisch deutsche Ermittlungen
Doch der letzte Ping-Pong-Schlag bringt den Ball zurück zu den US-Amerikanern. Nach einer Verwaltungsvorschrift des Landes Rheinland-Pfalz (JBl. 2004, 92) besteht mit den amerikanischen Behörden das "Einvernehmen", dass selbst im Bereich schwerer Kriminalität eine Rücknahme des Verzichts nicht gerechtfertigt ist, wenn "nach gewissenhafter Prüfung der Sach- und Rechtslage nach menschlichem und juristischem Ermessen hinreichende Aussicht besteht, dass der Fall im amerikanischen Militärstrafverfahren innerhalb kurzer Zeit zu einem auch nach deutschem Rechtsempfinden angemessenen Abschluss gebracht wird".
Die Kurzfassung: Selbst wenn ein US-Soldat auf deutschem Boden einen deutschen Staatsbürger tötet, soll die Strafverfolgung grundsätzlich in den Händen des US-Militärs bleiben – es sei denn, es gibt konkrete Hinweise darauf, dass die US-Militärjustiz den Fall nicht zügig und angemessen abwickeln wird.
Eine Regelung, die sich vollständig von der Schwere der Tat löst und die deutschen Ermittler zu einer Glaskugel-Prognose zwingt. Denn wie soll im Vorfeld zuverlässig beurteilt werden, ob die US-Militärjustiz das Verfahren tatsächlich schnell und rechtsstaatlich korrekt führen wird? Welche greifbaren Hinweise könnte es überhaupt für das Gegenteil geben? Überdies kann die Staatsanwaltschaft auch nicht eigenmächtig entscheiden, sondern muss die Zustimmung des Landesjustizministeriums einholen, womit Ermittlungen zum Politikum würden.
Nach Auskunft der US Air Base Spangdahlem gegenüber LTO hat es in den vergangenen 30 Jahren jedenfalls kein einziges Mal eine Rücknahme des Verzichts gegeben. Eine Umfrage bei anderen Staatsanwaltschaften ergibt, dass die "Abgabe" des Verfahrens fast ausnahmslos Regel ist, meist handelt es sich um Verkehrsdelikte.
Auch im konkreten Fall Wittlich erklärte die Staatsanwaltschaft, den Verzicht nicht zurückzunehmen. Zur Begründung hieß es gegenüber LTO, dass "nach damaliger Einschätzung keine Zweifel bestanden", dass "das US-amerikanische Strafverfahren ebenso wie ein deutsches Strafverfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführt wird". Die Formulierung "nach damaliger Einschätzung" liest sich im Rückblick fast wie das Eingeständnis eines Irrtums. Die unterlassene Rücknahme des Verzichts sollte sich ex post als Fehler erwiesen haben.
Weiter so nach Wittlich?
Nach dem Wittlicher Fall ist eine Diskussion über die NATO-Regeln entbrannt. Der kürzlich verstorbene Justizminister von Rheinland-Pfalz, Herbert Mertin, verteidigte vor dem rheinland-pfälzischen Landtag das grundsätzliche Konzept und zeigte sich skeptisch, ob die deutsche Justiz künftig derartige Fälle übernehmen sollte. Die Staatsanwaltschaften in Rheinland-Pfalz könnten nicht jedes Verfahren zurückholen, da das Land andernfalls auf kaltem Wege den NATO-Vertrag unterlaufen würde – mit potenziell erheblichen diplomatischen Verwicklungen, so Mertin in der Landtagssitzung vom 12. Dezember 2024.
Das Justizministerium teilt LTO auf Anfrage mit, dass die Regeln des NATO-Truppenstatuts in die Zuständigkeit des Bundes fielen. Aus Sicht von Rheinland-Pfalz habe sich die jahrzehntelange Praxis bewährt. Die Staatsanwaltschaften des Landes arbeiteten seit vielen Jahrzehnten vertrauensvoll mit den Behörden der in Rheinland-Pfalz stationierten US-amerikanischen Streitkräfte zusammen.
Gleichwohl nehme das Ministerium den konkreten Fall zum Anlass, möglichen Handlungsbedarf zu prüfen. Es sei vorgesehen, die Erfahrungen der Staatsanwaltschaften des Landes auszuwerten und zu überprüfen, ob konkretere Vorgaben zur Umsetzung des NATO-Truppenstatuts sinnvoll wären.
Dabei könnte das Verfassungsrecht zur Überarbeitung insbesondere der Verwaltungsvorschrift zwingen, die selbst bei schweren Straftaten eine Abgabe an die US-Militärbehörden zur Regel macht. Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 einen Strafverfolgungsanspruch von Angehörigen einer schweren Straftat gegenüber dem Staat anerkannt. Es dürfte den rechtsstaatlichen Grundprinzipien Deutschlands klar widersprechen, einen solchen Strafverfolgungsanspruch auch bei schweren Straftaten an einen ausländischen Staat zu delegieren, der nicht einmal an Grundrechte gebunden ist.
Tötungsdelikte von US-Soldaten in Deutschland sind selten. Im Jahr 2011 wurde ein US-Soldat aus Spangdahlem wegen der Tötung seines Kindes verurteilt – ebenfalls von einem US-Militärgericht. Die Strafe: 22 Jahre Haft. Doch oft lassen US-Militärgerichte auch große Milde gegenüber ihren eigenen Soldaten walten, wie vielfach kritisiert wird. Ein prominentes Beispiel aus Europa: Im Jahre 1998 wurden in den Dolomiten beim Seilbahnunglück von Cavalese 29 Gondelinsassen in den Tod gerissen. Grund für den Absturz war, dass ein Pilot des US-Militärs im Tiefflug in einem Jet das Seilbahnnetz durchtrennte. Er flog dabei viel tiefer und doppelt so schnell wie erlaubt. Aufgrund des NATO-Truppenstatuts wurde das US-Militär zuständig. Auch dieses Verfahren endete mit einem Freispruch.
• Lesen Sie zu dem Thema auch den Kommentar von Felix W. Zimmermann unter dem Titel “Deutsche Strafverfolgung darf nicht ausgelagert werden”.
Freispruch trotz Geständnis im Fall Wittlich: . In: Legal Tribune Online, 05.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56722 (abgerufen am: 18.03.2025 )
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