Als streitbarer und umstrittener Richter war Thomas Fischer häufig in den Schlagzeilen, seit einem Jahr schreibt er sie selbst. Die Vermischung von dritter und vierter Gewalt fesselt zahlreiche Leser – und stößt ebenso viele vor den Kopf.
Mit Thomas Fischer verbreitet sich seit einem Jahr ein Richter, zumal ein Vorsitzender am Bundesgerichtshof (BGH), öffentlich über die Belange seiner Zunft. Seine Kolumne bricht mit der sonst üblichen Zurückhaltung der Justiz gegenüber den Medien – und dies in einem Ton, der selbst nach den liberalen Maßstäben letzterer oft deutlich bis drastisch anmutet.
Dabei heraus kommen opulente Artikel jenseits der 20.000 Zeichen, die trotz oder wegen ihres eher freizügigen Umgangs mit journalistischen Gepflogenheiten beträchtliche Erfolge feiern: Seine Kommentierung zur Kölner Silvesternacht lasen innerhalb von zwei Tagen fast eine Million Menschen, seine populärsten Stücke werden im März als Sammelband verlegt.
Den Erfolg seiner Kolumne, die rhetorisch hoch fliegt und dogmatisch tief schürft, erklärte er bei einer Podiumsdiskussion in Berlin mit der ihm eigenen Mischung aus Augenzwinkern, Selbstgewissheit und Eignung zum Zitat: "Weil sie einfach richtig gut ist." Und weil uns das nicht reichte, haben wir ihn in seinem Haus in bester Baden-Badener Hanglage besucht und nachgehakt.
"Erstaunt und enttäuscht von oberflächlicher Gerichtsberichterstattung"
LTO: Herr Professor Fischer, schön ist es hier, und friedlich. Dabei las ich auf dem Hinweg Ihre Kolumne über die Berichterstattung zum NSU-Prozess, die Sie als "Schlachtfest des gesunden Menschenverstandes" bezeichnen. Warum sind Sie oft so zornig?
Fischer: Das bin ich nicht, wohl aber erstaunt und enttäuscht von der oberflächlichen Art, mit der gerichtliche Arbeit dargestellt wird. Journalisten, die im Leben noch keinen juristischen Kommentar aufgeschlagen haben, meinen Fehlurteile sicher zu erkennen, weil sie dem Ergebnis, das sie zuvor herbei geschrieben haben, nicht entsprechen. Gerichtsreporter glauben, einen Prozess zu durchschauen, wenn sie mal in einer Verhandlung saßen, und die Leser, die von der Sache genauso wenig verstehen, glauben es nach der Lektüre auch – so bedingt und bestärkt die Unkenntnis sich wechselseitig.
Angeklagte werden als Dümmlinge abgestempelt, zu Monstern stilisiert oder als Unschuldsengel verteidigt, obwohl die Realität fast immer viel komplexer ist, und die Justiz nur über einen ganz kleinen, punktuellen Ausschnitt zu entscheiden hat.
Statt das Geschehen zu erklären, wird es mit belanglosen Details emotional aufgeladen, passend gewählt zur gewünschten Stoßrichtung. Ob Frau Zschäpe hämisch oder schuldbewusst dreinschaut, wird genauestens eruiert, aber um welche Straftatbestände es in dem Verfahren eigentlich geht oder wie viele Mitangeklagte es gibt, können viele nicht beantworten. Das geschieht nicht nur im Boulevard, sondern – etwas klammheimlicher und verschämter – auch in den sogenannten Qualitätsmedien.
"Die gebotene Deutlichkeit macht es nicht unsachlich"
LTO: Also mussten Sie her, um es besser zu machen?
Fischer: Ich bin nicht mit diesem Anspruch angetreten. Aber ich denke schon, dass ich ein wenig mehr zum Verständnis beitrage, wenn ich anlässlich Frau Zschäpes Prozessverhalten das Wesen des Zeugnisverweigerungsrechts und der Pflichtverteidigung erkläre, statt mich in gefühlsduseligen Deutungen ihres Innenlebens zu ergehen. Allgemein versuche ich, mich nicht in den Details zu verlieren, sondern Zusammenhänge zu zeigen, die die meisten Leser gar nicht kennen, und sie in neue Blickwinkel zu setzen.
LTO: Das hört sich sehr sachlich an, liest sich in Ihrer Kolumne aber oft ganz anders.
Fischer: Den Ton bestimmt das Thema. In vielen Texten erkläre ich einfach nur rechtliche Grundlagen; die sind dann auch entsprechend formuliert. Aber wenn z.B. ein Historiker wie August Winkler anlässlich der Flüchtlingskrise in einer Talkshow vorschlägt, Asyl per Verfassungsänderung nur noch "nach Maßgabe der Möglichkeiten" zu gewähren, als ob das nicht seit jeher und für jedes Grundrecht gälte, oder wenn zahllose Journalisten sich bei den Ermittlungen gegen die Betreiber von netzpolitik.org geheimdienstliche Gefahrenprognosen anmaßen, zu denen sie nicht entfernt imstande sind, dann kritisiere ich das mit der gebotenen Deutlichkeit – was es ja noch nicht unsachlich macht.
"Zuspitzungen zur Verdeutlichung systemischer Missstände"
LTO: Journalisten, "deren intellektuelle Fähigkeiten und Fachkenntnisse gerade eben zum Zubinden der Schuhe und zum Auftragen von Mascara ausreichen". Und ein Historiker, von dem Sie fragen, ob er "wahnsinnig geworden" sei…
Fischer: Das sind Zuspitzungen zur Verdeutlichung im Einzelfall. Sie werden nicht bestreiten, dass es auch solche Journalisten gibt. Journalist darf sich bei uns jeder nennen, der einen Kugelschreiber bedienen kann. Namentlich nenne ich übrigens nur Personen, die auch einen gewissen Namen haben. Herr Winkler ist einer von Deutschlands prominentesten Historikern, deshalb wird er ja in solche Runden eingeladen. Und deshalb muss er es ertragen, dass bemerkt wird, wenn er dort auch einmal populistischen Unsinn erzählt.
Viel mehr empörte Zuschriften erhalte ich, wenn ich über ganze Berufsgruppen schreibe, zum Beispiel über Journalisten, oder auch über Ärzte in der Kolumne zu Korruption im Gesundheitswesen. Dann fühlen sich viele angegriffen, obwohl ich sie überhaupt nicht persönlich angesprochen habe. Der Halbsatz, dass es natürlich in jedem Berufsstand viele kluge und ethisch arbeitende Menschen gibt, würde da vielleicht die Spannung rausnehmen, allerdings im doppelten Wortsinn. Ich spare ihn mir meist, weil ich das für eine Selbstverständlichkeit halte, und weil es mir ja gerade darum geht, systemische Missstände aufzuzeigen, die zwar nicht alle betreffen, aber doch auffällig viele. In dem Punkt bin ich mit der Justiz übrigens nicht nachsichtiger als mit allen anderen auch.
2/3: "BGH-Kollegen tun, als gäbe es meine Kolumne nicht"
LTO: Kann man wohl sagen. Gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Doppelvorsitz des 2. und 4. Strafsenats des BGH oder die mangelnde Aktenlektüre aller einen Beschluss unterzeichnender Richter des BGH machen Sie kräftig Stimmung – und das, obwohl Sie schon als Senatsvorsitzender und Herausgeber eines der wichtigsten Strafrechtskommentare erheblichen Einfluss ausüben. Bauen Sie da nicht eine bedenkliche Diskurshoheit auf?
Fischer: Eine erstaunliche Frage! Es steht ja jedem frei, selbst Richter zu werden, einen Kommentar herauszugeben oder Zeitungsartikel zu schreiben; alles drei geschieht auch. Am BGH herrscht in letzterer Hinsicht allerdings verbissenes Schweigen. Meine Kolumne empfinden manche Kollegen dort vielleicht als Verletzung der angeblich feinen Umgangsformen oder eines Komments gravitätischen Schweigens, und tun daher so, als gäbe es sie nicht.
Gleichzeitig erhalte ich aber viele Rückmeldungen aus den Instanzgerichten, manche davon mit der reflexartigen Beteuerung, bei ihnen gehe alles nach bester Ordnung zu, manche auch mit Dank und Lob, weil ich bestimmte Missstände offen anspreche. Alles, was ich zu den von Ihnen erwähnten Themen in der Presse gesagt habe, habe ich zudem auch in einschlägigen Fachveröffentlichungen gesagt, und zwar deutlich früher.
"Auch in der Fachwelt gewinnt nicht immer das beste Argument"
LTO: Und dort offenbar keine Mehrheit für Ihren Standpunkt gefunden. Ist es dann angemessen, die Debatte in die Öffentlichkeit zu zerren, wo man mit ganz anderen Mitteln punkten kann?
Fischer: Der Frage liegt die leider unzutreffende Vorstellung zu Grunde, in der Fachwelt gäbe es einen Diskurs, bei dem unter rein sachlichen Gesichtspunkten stets das beste Argument gewinnt. So ist es gedacht, so wird es auch versucht, aber so funktioniert es in der Praxis natürlich nicht immer. Die Entscheidung zum Doppelvorsitz oder die gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, vier Augen sähen bei der Aktenlektüre ebenso viel wie zehn, sind von solch kristallener Unsinnigkeit, dass sich dafür beim besten Willen kein vernünftiges Argument finden lässt, und auch bis heute nicht gefunden wurde. Aber beides dient dem Interesse der Justiz an der Wahrung ihrer Abläufe bzw. der Exekutive an der Schonung von Ressourcen. Deshalb wird die Gegenmeinung sich in einer Debatte nicht durchsetzen können, die von Angehörigen dieser Gruppen beherrscht wird. Die Gefahr unsachlicher Argumentation hat sich also längst verwirklicht – dann will ich die Fragen zumindest denen vor Augen führen, die mit den Antworten leben müssen. Namentlich also den Bürgern, denen nicht gesagt wird, dass sie, damit ein paar Richterstellen gespart werden, mit weniger gründlicher Arbeit des Obersten Gerichtshofs leben müssen: Das Personal des BGH ist nach der Wiedervereinigung nicht substanziell erhöht worden, sondern "erledigt" seit 1990 die Revisionen von 20 Millionen neuen Bürgern einfach zusätzlich. Es liegt auf der Hand, dass dies zu einer Verringerung der Gründlichkeit führt.
LTO: Die Gelegenheit nutzen Sie aber auch, um über abweichende Ansichten anderer Richter zu spotten. Kein Wunder, dass der BGH Sie hasst.
Fischer: Ach was, der BGH liebt mich – er weiß es nur noch nicht. Mit der Trennung von Kritik in der Sache und Kritik an der Person tun sich manche Kollegen zwar leider schwer. Ich spotte aber nicht über sie und auch nicht über ihre "Ansichten" sondern über deren Präsentation, die versucht, Kritik auszugrenzen oder als "persönlichen" Spleen zu denunzieren.
3/3: "Dass ich sage, was ich ohnehin denke, ändert an meiner Unabhängigkeit nichts"
LTO: Aber Sie sind in der Öffentlichkeit zur Zurückhaltung verpflichtet. Das ist nicht nur eine Gepflogenheit, sondern folgt aus § 39 des Deutschen Richtergesetzes, nach dem der Richter sich "innerhalb und außerhalb seines Amtes" so zu verhalten hat, dass "das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird".
Fischer: Das wird sie aber nicht, weil ich Ansichten äußere, die ich ohnehin habe, und darüber offen diskutiere. Es ist naiv zu denken, Rechtsprechung sei wie Mathematik, wo es für jedes Problem genau eine richtige Lösung gibt. Die Lösung hängt, innerhalb der oft weiten gesetzlichen Spielräume, von den persönlichen Überzeugungen des Richters ab, die durch seine Weltanschauung und natürlich auch durch seine politische Einstellung geprägt sind. Dieser Überzeugung zu folgen ist Ausdruck seiner Unabhängigkeit, und sie zu veröffentlichen ist weder für die Unabhängigkeit eine Gefahr noch für das Vertrauen in sie. Die Welt ist voll von Richtern mit Vor-Urteilen, die wie Sphinxen dasitzen und so zu tun versuchen, als träten sie den Dingen wie Neugeborene entgegen.
LTO: Ein wegen Vergewaltigung angeklagter Neonazi könnte dennoch Bedenken anmelden, nachdem Sie über diese Personengruppe geäußert haben, sie bestehe aus "Witzfiguren", die auf "Kindertrommeln" dreschen, "saufen", bis sie sich "vollpissen", und darüber doch nicht vergessen können, dass "der hübsche Syrer mit Auto, Arbeitsplatz und Wohnung" mehr Erfolg beim anderen Geschlecht hat.
Fischer: Und er dürfte Befangenheit rügen wie jeder andere. Allerdings: Erstens fehlt mir wegen der Bewertung einer Gruppe nicht der Blick für die Situation ihrer einzelnen Mitglieder, die durch Schicksalsschläge zur Tat gedrängt oder auch völlig unschuldig sein mögen. Und zweitens ist eine ablehnende Einstellung gegenüber rechtsextremistischen Gewalttätern für einen deutschen Richter gewiss nicht unziemlich. Ich habe auch noch nie gehört, dass einem Richter vorgehalten wurde, er habe eine grundsätzlich eher negative Einstellung gegenüber islamistischen Terroristen.
"Rückblickend würde ich manchmal einen anderen Ton wählen"
LTO: Ihre Texte sind meist sehr umfangreich. Wie lang sitzen Sie daran?
Fischer: Ich schreibe die Kolumne normalerweise am Sonntag und habe vorher zwar ein Thema im Kopf, aber keinen genauen Plan. Der ergibt sich. Am Montag früh ergänze ich noch ein paar Gedanken, die mir über Nacht gekommen sind.
LTO: Haben Sie schon mal im Nachhinein etwas bereut, was Sie geschrieben haben?
Fischer: Dass man auf die eigenen Texte auch kritisch zurückblickt, ist selbstverständlich und Voraussetzung jedes reflektierten Schreibens. Konkret: Manche Details würde ich aus heutiger Sicht anders intonieren. Das ist beim Schreiben nicht anders als im Jazz.
LTO: Fällt es Ihnen schwer, jede Woche ein neues Stück liefern zu müssen?
Fischer: Nein. Die Regelmäßigkeit mag der Fluch des Kolumnisten sein, aber mir hat sie noch keine Probleme bereitet.
LTO: Zu guter Letzt: Wann sehen wir Sie endlich auf Twitter?
Fischer: Nicht in diesem Leben. Es gibt auch Grenzen…
Prof. Dr. Thomas Fischer ist Vorsitzender des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof und Autor des Standardwerks Fischer: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. Auf Zeit Online veröffentlicht er wöchentlich die Kolumne "Fischer im Recht".
Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.
Constantin Baron van Lijnden, Thomas Fischer: Der Richter als Kolumnist: "Der BGH liebt mich, er weiß es nur noch nicht" . In: Legal Tribune Online, 18.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18172/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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