An modernen Schiedsgerichten sollen alle Schriftsätze öffentlich sein. Doch am Bundesverfassungsgericht ist das bisher nicht üblich. Im Interview spricht dessen Vizepräsident Ferdinand Kirchhof über Transparenz in Karlsruhe.
LTO: Herr Professor Kirchhof, kann es sein, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) weniger transparent ist als ein modernes Schiedsgericht für Staat-Investor-Streitigkeiten?
Kirchhof: Was verstehen Sie denn unter einem "modernen" Schiedsgericht? Es sind auf EU-Ebene derzeit ja verschiedene Modelle in der Diskussion.
LTO: Das stimmt. Aber allen Vorschlägen ist gemeinsam, dass die Schiedsgerichte ziemlich transparent arbeiten sollen. So müssten grundsätzlich alle Schriftsätze eines derartigen Verfahrens öffentlich zugänglich sein. Das entspricht den Transparenzregeln der UN-Kommission für internationales Handelsrecht (Uncitral). Dahinter bleibt das BVerfG doch zurück?
Kirchhof: Die Uncitral-Regeln von 2013 enthalten einen interessanten neuen Ansatz. Dennoch ist die vollständige Transparenz des Investitionsschutzverfahrens bislang eher Vision als Realität. Es gibt noch wenige Fälle, in denen sie angewandt wurden. Außerdem enthalten die Transparenzregeln natürlich auch etliche Ausnahmebestimmungen für Geschäfts- und Staatsgeheimnisse.
"Bundesverfassungsgericht nicht mit Schiedsgericht vergleichbar"
LTO: Natürlich. Aber grundsätzliche Transparenz ist nun doch eine starke Ansage für die Schiedsgerichtsbarkeit. Könnte das nicht ein Vorbild sein?
Kirchhof: Ich denke nicht, denn schon im Ausgangspunkt ist das Bundesverfassungsgericht nicht mit einem Schiedsgericht zu vergleichen.
In der staatlichen Gerichtsbarkeit gilt der Grundsatz des gesetzlichen Richters und es gibt in der Regel einen festen Instanzenzug. Die Verfahrensordnung ist dort rechtlich bindend; darüber hinaus sind staatliche Richter demokratisch legitimiert. Besonders deutlich ist dies bei den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts zu sehen, die direkt durch den Bundestag oder den Bundesrat gewählt werden.
Bei Staat-Investor-Streitigkeiten gelten für Schiedsgerichte andere Rahmenbedingungen: Die Streitparteien bestimmen die Besetzung des Schiedsgerichts und können in Grenzen auch über das Verfahrensrecht disponieren. Nur teilweise werden die Schiedssprüche veröffentlicht; auch eine Rechtsfortbildung durch Präjudizien findet kaum statt, was die Berechenbarkeit der Rechtsanwendung einschränkt. Durch diese Faktoren entsteht ein Legitimationsdefizit, dem man mit Transparenz teilweise abhelfen will. Das ist ein sinnvoller Ansatz, den ich dort begrüße.
"Transparenz ist kein Selbstzweck"
LTO: Die EU-Kommission will nun aber Investitionsgerichte mit staatlich gewählten Richtern installieren. Und auch dort sollen die Uncitral-Transparenzregeln gelten...
Kirchhof: Dies ist ein neuer Vorschlag, über den im Rahmen der TTIP-Verhandlungen mit den USA erst noch gesprochen werden muss. Wenn sich dieses Modell durchsetzt, wäre es ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem Verhandlungsergebnis bei CETA, dem geplanten Freihandelsabkommen der EU mit Kanada. Auch in diesem neuen Vorschlag dienen die Transparenzregeln dazu, die Legitimation von Schiedsgerichten zu stärken.
LTO: Hat das Bundesverfassungsgericht keine Stärkung seiner Legitimation nötig?
Kirchhof: Nein.
LTO: Auch wenn Sie es nicht nötig haben: Wäre es nicht einfach eine gute Idee, alle Schriftsätze der Verfahren auf der Webseite des Bundesverfassungsgerichts zu veröffentlichen?
Kirchhof: Transparenz ist kein Selbstzweck. Wir müssen uns also fragen, wozu sie dienen soll. In verfassungsgerichtlichen Verfahren sähe ich eher negative Auswirkungen, wenn die Schriftsätze auf unserer Internetseite veröffentlicht würden.
LTO: Zum Beispiel?
Kirchhof: Gerade bei Verfassungsbeschwerden geht es oft um ganz persönliche Angelegenheiten - beispielsweise um sozialrechtliche Ansprüche, das Sorgerecht für Kinder und die Rechte von Strafgefangenen.
Vieles davon ist so privat, dass es für die öffentliche Verbreitung nicht geeignet ist. Dies ist eine völlig andere Konstellation als in Staat-Investor-Streitigkeiten, in denen es überwiegend um ökonomische Fragen geht.
2/2: "Öffentlich zugängliche Akten: nur bei abstrakten Normenkontrollen denkbar"
LTO: Aber Sie haben ja eben selbst darauf hingewiesen: Jede Transparenzregel hat ihre Ausnahmen für Persönlichkeitsrechte, Geschäftsgeheimnisse...
Kirchhof: Ich hielte es für unpraktikabel, wenn wir bei jedem Schriftstück entscheiden müssten, ob wir es herausgeben können oder nicht. Allein im letzten Jahr gingen über 6.500 Verfassungsbeschwerden im Bundesverfassungsgericht ein, viele davon mit langen Schriftsätzen und umfangreichen Beiakten. Dabei sind die meisten Verfahren von überschaubarem öffentlichem Interesse. Wahrscheinlich wären auch die meisten Beschwerdeführer nicht mit der Publikation ihrer Verfahrensakten einverstanden.
LTO: Und wenn man die Transparenz auf die rund 30 Verfahren beschränkt, die pro Jahr in den beiden Senaten entschieden werden? Da geht es doch eindeutig um grundsätzliche Fragen...
Kirchhof: Von den Senatsverfahren im Ersten Senat sind die meisten Verfassungsbeschwerden und konkrete Normenkontrollen. Hinter deren Verfassungsfragen stehen häufig private und persönliche Streitigkeiten.
Nur bei den wenigen abstrakten Normenkontrollen, die bei uns beantragt werden, könnte ich mir öffentlich zugängliche Akten vorstellen. Wenn Bundestagsabgeordnete, die Bundesregierung oder Landesregierungen ein Gesetz angreifen, stehen nicht persönliche Schicksale im Vordergrund, sondern die Normen an sich. Die Beteiligten sind an mediale Öffentlichkeit gewöhnt und begreifen das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht ohnedies häufig als einen Teil der öffentlichen Diskussion.
"Keine Einwände gegen Herausgabe eigener Schriftsätze durch Parteien"
LTO: Sie sind also wenigstens bei abstrakten Normenkontrollverfahren für mehr Transparenz?
Kirchhof: Bei abstrakten Normenkontrollen findet eine mündliche Verhandlung statt, welche die Öffentlichkeit einbezieht und schon auf diese Weise ausreichende Transparenz herstellt. Eine mündliche Verhandlung ist in diesen Verfahren auch deswegen sinnvoll, weil andere Gerichte noch nicht für eine Aufbereitung der tatsächlichen und rechtlichen Fragen gesorgt haben; wir werden gewissermaßen wie ein erstinstanzliches Gericht mit dem Verfahrensstoff befasst.
Für eine darüber hinaus gehende Veröffentlichung der Verfahrensakten sehe ich kein wirkliches Bedürfnis. Sie könnte zudem bewirken, dass die Schriftsätze vermehrt als Schaufenster für die öffentliche Darstellung dienen.
LTO: Spricht aus Ihrer Sicht dann etwas dagegen, dass die Prozessparteien ihre Schriftsätze selbst auf einer eigenen Homepage veröffentlichen oder an Journalisten weitergeben?
Kirchhof: Nein, was sollte dagegen sprechen?
LTO: Wenn ich als Journalist Prozessparteien um ihre Klageschrift bitte, heißt es immer wieder, das Bundesverfassungsgericht sehe es nicht gern, wenn die Schriftsätze vor der Entscheidung bekannt werden. Stimmt das?
Kirchhof: Es ist die freie Entscheidung der Parteien, ihre Schriftsätze zu veröffentlichen oder nicht. Für beide Alternativen mag es im Einzelfall gute Gründe geben. Das Gericht hatte nie Einwände gegen die Herausgabe der eigenen Schriftsätze der Parteien.
"Gute Erfahrungen mit Live-Übertragung von Urteilsverkündungen"
LTO: Vorbildlich ist das BVerfG, wenn es um die Möglichkeit geht, die Urteile des Gerichts live zu übertragen oder aufzunehmen...
Kirchhof: Das hat der Gesetzgeber in § 17a Bundesverfassungsgerichtsgesetz so entschieden.
LTO: Aber doch wohl nicht gegen den Willen des Gerichts?
Kirchhof: Nein, das nicht. Es gab zunächst eine entsprechende Übung des Gerichts, die in internen Richtlinien geregelt wurde. 1998 hat dann der Gesetzgeber klargestellt, dass die Urteilsverkündungen des Bundesverfassungsgerichts in Bild und Ton übertragen werden dürfen.
LTO: Im Juni hat die Justizministerkonferenz vorgeschlagen, dass solche Übertragungen künftig auch bei den Urteilen aller obersten Bundesgerichte, etwa dem Bundesgerichtshof oder dem Bundesarbeitsgericht, erlaubt sein sollen. Welche Erfahrungen hat das Bundesverfassungsgericht bisher damit gemacht?
Kirchhof: Das Bundesverfassungsgericht hat mit den Übertragungen der Urteilsverkündung bislang gute Erfahrungen gemacht. Sie sind ein Weg, um die Arbeit des Gerichts authentisch zu vermitteln und Verfassungsrechtsprechung verständlich zu machen.
"Keine Angst, bei Stefan Raab zu landen"
LTO: Wie oft nutzen Medien diese Möglichkeit?
Kirchhof: Bei jeder Urteilsverkündung werden Kameras aufgebaut. Ob diese nur den Urteilstenor und die Einführung des Vorsitzenden aufnehmen oder die gesamte Urteilsbegründung, das kontrollieren wir nicht.
Im Fernsehen sehe ich eher selten längere Passagen aus den Urteilsbegründungen, was sicherlich auch mit den Zeitvorgaben der Sender zu tun hat. Wir hätten nichts dagegen, wenn die Bilder und Töne noch intensiver genutzt würden, um die zentralen Argumente des Urteils darzustellen und sie mit den markantesten Sätzen der Verkündung zu illustrieren.
LTO: Man hört, dass manche Richter Angst davor haben, als Clip in der Heute-Show, bei Stefan Raab oder bei Youtube zu landen, wenn sie sich bei einer Urteilsverkündung lustig versprechen und das gefilmt wird: Wie geht es Ihnen damit?
Kirchhof: Nein, diese Angst habe ich nicht. Zum einen ist die Gefahr gering, weil die Texte vorbereitet werden. Zum anderen macht es die Justiz auch menschlich, wenn es doch einmal zu einem Versprecher kommt.
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof ist Vizepräsident des BVerfG und Vorsitzender des Ersten Senats.
Das Interview führte Dr. Christian Rath.
Christian Rath, BVerfG-Vizepräsident Ferdinand Kirchhof: "Transparenz ist kein Selbstzweck" . In: Legal Tribune Online, 28.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17022/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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