BVerfG-Vizepräsident Ferdinand Kirchhof: "Tran­s­pa­renz ist kein Selbstz­weck"

von Dr. Christian Rath

28.09.2015

An modernen Schiedsgerichten sollen alle Schriftsätze öffentlich sein. Doch am Bundesverfassungsgericht ist das bisher nicht üblich. Im Interview spricht dessen Vizepräsident Ferdinand Kirchhof über Transparenz in Karlsruhe.

LTO: Herr Professor Kirchhof, kann es sein, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) weniger transparent ist als ein modernes Schiedsgericht für Staat-Investor-Streitigkeiten?

Kirchhof: Was verstehen Sie denn unter einem "modernen" Schiedsgericht? Es sind auf EU-Ebene derzeit ja verschiedene Modelle in der Diskussion.

LTO: Das stimmt. Aber allen Vorschlägen ist gemeinsam, dass die Schiedsgerichte ziemlich transparent arbeiten sollen. So müssten grundsätzlich alle Schriftsätze eines derartigen Verfahrens öffentlich zugänglich sein. Das entspricht den Transparenzregeln der UN-Kommission für internationales Handelsrecht (Uncitral). Dahinter bleibt das BVerfG doch zurück?

Kirchhof: Die Uncitral-Regeln von 2013 enthalten einen interessanten neuen Ansatz. Dennoch ist die vollständige Transparenz des Investitionsschutzverfahrens bislang eher Vision als Realität. Es gibt noch wenige Fälle, in denen sie angewandt wurden. Außerdem enthalten die Transparenzregeln natürlich auch etliche Ausnahmebestimmungen für Geschäfts- und Staatsgeheimnisse.

"Bundesverfassungsgericht nicht mit Schiedsgericht vergleichbar"

LTO: Natürlich. Aber grundsätzliche Transparenz ist nun doch eine starke Ansage für die Schiedsgerichtsbarkeit. Könnte das nicht ein Vorbild sein?

© BundesverfassungsgerichtKirchhof: Ich denke nicht, denn schon im Ausgangspunkt ist das Bundesverfassungsgericht nicht mit einem Schiedsgericht zu vergleichen.

In der staatlichen Gerichtsbarkeit gilt der Grundsatz des gesetzlichen Richters und es gibt in der Regel einen festen Instanzenzug. Die Verfahrensordnung ist dort rechtlich bindend; darüber hinaus sind staatliche Richter demokratisch legitimiert. Besonders deutlich ist dies bei den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts zu sehen, die direkt durch den Bundestag oder den Bundesrat gewählt werden.

Bei Staat-Investor-Streitigkeiten gelten für Schiedsgerichte andere Rahmenbedingungen: Die Streitparteien bestimmen die Besetzung des Schiedsgerichts und können in Grenzen auch über das Verfahrensrecht disponieren. Nur teilweise werden die Schiedssprüche veröffentlicht; auch eine Rechtsfortbildung durch Präjudizien findet kaum statt, was die Berechenbarkeit der Rechtsanwendung einschränkt. Durch diese Faktoren entsteht ein Legitimationsdefizit, dem man mit Transparenz teilweise abhelfen will. Das ist ein sinnvoller Ansatz, den ich dort begrüße.

"Transparenz ist kein Selbstzweck"

LTO: Die EU-Kommission will nun aber Investitionsgerichte mit staatlich gewählten Richtern installieren. Und auch dort sollen die Uncitral-Transparenzregeln gelten...

Kirchhof: Dies ist ein neuer Vorschlag, über den im Rahmen der TTIP-Verhandlungen mit den USA erst noch gesprochen werden muss. Wenn sich dieses Modell durchsetzt, wäre es ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem Verhandlungsergebnis bei CETA, dem geplanten Freihandelsabkommen der EU mit Kanada. Auch in diesem neuen Vorschlag dienen die Transparenzregeln dazu, die Legitimation von Schiedsgerichten zu stärken.

LTO: Hat das Bundesverfassungsgericht keine Stärkung seiner Legitimation nötig?

Kirchhof: Nein.

LTO: Auch wenn Sie es nicht nötig haben: Wäre es nicht einfach eine gute Idee, alle Schriftsätze der Verfahren auf der Webseite des Bundesverfassungsgerichts zu veröffentlichen?

Kirchhof: Transparenz ist kein Selbstzweck. Wir müssen uns also fragen, wozu sie dienen soll. In verfassungsgerichtlichen Verfahren sähe ich eher negative Auswirkungen, wenn die Schriftsätze auf unserer Internetseite veröffentlicht würden.

LTO: Zum Beispiel?

Kirchhof: Gerade bei Verfassungsbeschwerden geht es oft um ganz persönliche Angelegenheiten - beispielsweise um sozialrechtliche Ansprüche, das Sorgerecht für Kinder und die Rechte von Strafgefangenen.

Vieles davon ist so privat, dass es für die öffentliche Verbreitung nicht geeignet ist. Dies ist eine völlig andere Konstellation als in Staat-Investor-Streitigkeiten, in denen es überwiegend um ökonomische Fragen geht.

Zitiervorschlag

Christian Rath, BVerfG-Vizepräsident Ferdinand Kirchhof: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17022 (abgerufen am: 08.10.2024 )

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