Vorbild-Länder wie Kanada oder Australien haben längst ein Punktesystem, um benötigte und gewollte Einwanderung zu steuern. Die Bundesregierung hat nun selbst ein solches System aufgesetzt. Wie das zu bewerten ist, erklärt Daniel Thym.
Am Ende ging es schnell. Noch im Juni verabschiedete der Bundestag eine Reform der Fachkräfteeinwanderung, dessen letzte Änderungen erst zwei Tage vor der Abstimmung veröffentlicht worden waren. Anders als beim Heizungsgesetz führte diese Eile zu wenig Debatten. Der Bundesrat billigte das Gesetz am 7. Juli. Die neuen Regeln forcieren einen Systemwechsel, der notwendig ist, um mehr Fachkräfteeinwanderung zu erreichen, in den nächsten Monaten und Jahren aber noch für manche Diskussion sorgen wird.
Im Zentrum der Neuregelung steht auf den ersten Blick ein Punktesystem, das mit mathematischer Präzision bestimmt, wer zur Jobsuche einreisen darf – und wer nicht. Ein solches Punktesystem ist seit 20 Jahren ein Wunschziel deutscher Migrationspolitik, weil man damit zu klassischen Einwanderungsländern wie Kanada oder Australien aufschließt. Das wird nun realisiert. Allerdings zeigt ein Blick hinter die Kulissen des Punktesystems, dass der Vergleich mit Kanada und Australien hinkt.
Zentrale Neuerung: Verzicht auf eine gleichwertige Ausbildung
Schon jetzt erhalten Hochqualifizierte mit einem ausländischen, deutschen Standards entsprechenden Uniabschluss, über die sogenannte "Blaue Karte EU" einen Aufenthaltsanspruch. Voraussetzung ist, dass die Personen eine Stellenzusage oder einen Arbeitsvertrag mit einem Mindestgehalt von knapp 58.000 Euro (künftig 44.000 Euro) haben.
Auch ausländische Absolventen deutscher Hochschulen dürfen schon jetzt für 18 Monate legal im Land bleiben, um sich einen Arbeitsplatz und damit eine Aufenthaltserlaubnis zu sichern.
Andere Fachkräfte durften bisher ohne Jobzusage oder Arbeitsvertrag nur einreisen, wenn sie im Ausland einen Uni- oder Berufsabschluss erworben haben, der gleichwertig mit deutschen Standards ist. Diese Hürde können allerdings nur sehr wenige überwinden.
Die magischen sechs Punkte
Eben hier setzt die Bundesregierung an. Sie verzichtet künftig auf die formale Gleichwertigkeit und misst die Qualifikation über andere Indikatoren.
So wird nur ins Land gelassen, wer überhaupt einen Uniabschluss oder eine Berufsausbildung besitzt, auch wenn diese sich von deutschen Vorgaben unterscheiden. Das eröffnet ein potenziell riesiges Reservoir. In Schwellenländern wie Ägypten oder Brasilien studieren sehr viele, ohne auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen. Auch Berufsausbildungen gibt es weltweit. Man muss im Internet nur nach "professional training two years" und einem Land suchen, um etwas über die Angebotsvielfalt zu lernen (z.B. Venezuela, Uganda, Kambodscha).
Zweitens braucht man sechs Punkte aufgrund eines Katalogs, der im Gesetzgebungsverfahren noch ausgeweitet wurde, damit mehr Menschen die Mindestpunktzahl erreichen. Besonders gute Chancen hat, wer jung ist, ordentlich Deutsch spricht und nach Studium oder Ausbildung qualifikationsadäquat arbeitete. Potenziell ist das ein breiter Bewerbungskreis.
4 Punkte | 3 Punkte | 2 Punkte | 1 Punkt | |
Berufserfahrung gemäß Ausbildung | Teilanerkennung durch deutsche Behörden | fünf binnen sieben Jahren | zwei binnen fünf Jahren | |
Deutsch | B2 | B1 | A2 | |
Englisch | C1 | |||
Mangelberuf | IT-Branche | |||
Alter | max. 35 | > 35 < 40 | ||
Ehegatte | mit Mindestpunktzahl | |||
Voraufenthalt | mind. 6 Monate |
Nicht alle Personen mit Mindestpunktzahl dürfen einreisen
Eine Überraschung könnten manche Antragstellende am Ende des Verfahrens erleben. Es bekommen nicht alle, die die sechs Mindestpunkte erreichen, automatisch ein Einreisevisum. Über dieses entscheiden die Konsulate nämlich mit Ermessen. Dessen Ausübung richtet sich nach § 18 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), der künftig auf wirtschaftliche Interessen, die Arbeitsmarktlage, die gesellschaftliche Integration und die öffentliche Sicherheit verweist.
Für den Fall einer Antragsflut behält sich die Bundesregierung ein weiteres Hintertürchen offen. Im Wege einer Rechtsverordnung können jederzeit zahlenmäßige Höchstquoten eingeführt werden, die nach dem Gesetzeswortlaut allerdings nicht nach Ländern oder Qualifikationen differenzieren dürfen. Das Gesetz schweigt dazu, wer im Fall einer solchen Kontingentierung priorisiert einreisen darf und wer nicht. Im Zweifel muss das Verwaltungsgericht (VG) Berlin entscheiden, das für alle Klagen gegen das Auswärtige Amt zuständig ist.
Schwammiger Begriff der "qualifikationsadäquaten" Erfahrung
Offen bleibt zudem, wie die Behörden die qualifikationsadäquate Berufserfahrung bewerten: Reicht hier eine Selbstauskunft? Was genau meint qualifikationsadäquat? Außerdem müssen die Uni- bzw. Berufsabschlüsse nach Herkunftslandstandards zuvor von einer deutschen Stelle bestätigt werden. Der Bundesgesetzgeber hält sich vornehm zurück, welche Stelle das sein soll. Das sollen nämlich die Länder bestimmen, zum Beispiel in Form der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) bei der Kultusministerkonferenz.
Diese administrativen Unsicherheiten könnten sich auch dann als Achillesverse der Reform erweisen, wenn man anerkennt, dass es im deutschen Föderalismus selten einfache Lösungen gibt. Es wäre schon peinlich für den "Standort Deutschland", wenn die Regierung prominent ein Punktesystem aufsetzt, die Bearbeitung sich dann aber ewig hinzieht oder schlecht funktioniert. Mittelfristig sollte daher der CDU/CSU-Vorschlag zur Einrichtung einer Bundesagentur für Einwanderung ("Work-and-Stay"-Agentur) ernsthaft geprüft werden. Eben dies will die Ampelregierung nun auch machen.
Das wahre Juwel – versteckt in der Beschäftigungsverordnung
Der begrenzte Anwendungsbereich ist der entscheidende Unterschied zwischen dem deutschen Punktesystem gegenüber denen aus Kanada und Australien. Das deutsche Punktesystem gilt nur für diejenigen, die noch keinen Arbeitsvertrag besitzen. Das Einreisevisum heißt offiziell "Chancenkarte", was bereits sprachlich auf die erfolgreiche Jobsuche verweist. Um einer "Einwanderung in die Sozialsysteme" vorzubeugen, muss man Geldmittel darlegen und bekommt kein Bürgergeld.
Für die Arbeitssuche hat man regelmäßig 18 Monate, während derer man kleine Nebenjobs ausüben kann. Danach muss ein adäquater Job gefunden werden, für den man auch direkt hätte einreisen können. Helfertätigkeiten reichen nicht.
Die Bundesregierung schafft außerdem in der Beschäftigungsverordnung (BeschV) eine neue Einreiseoption, die unabhängig vom Punktesystem ist, aber einer ähnlichen Logik folgt. § 6 BeschV gilt künftig für alle, die einen Uni- oder Berufsabschluss unabhängig von deutschen Standards besitzen und hierzulande einen Job mit einem Jahresgehalt von etwas mehr als 40.000 € in einem Sektor finden, in dem sie im Ausland bereits zwei Jahre lang arbeiteten. Deutschkenntnisse und ein Konnex zwischen Ausbildung und Berufstätigkeit sind nicht notwendig, könnten allerdings bei der Ermessensbetätigung berücksichtigt werden.
Dieser versteckte Zugangsweg könnte sich als viel wichtiger erweisen als das Punktesystem. Ausländische Ausbildung, Berufserfahrung und deutscher Arbeitsvertrag reichen künftig zur Einwanderung. In der Praxis wird das garantiert nachgefragt werden.
Prof. Dr. Daniel Thym ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz.
Regierung erleichtert Anerkennung ausländischer Abschlüsse: . In: Legal Tribune Online, 13.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52233 (abgerufen am: 04.10.2024 )
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