Die EZB erwirbt immer mehr Staatsanleihen verschuldeter Euro-Staaten. Dieser ökonomisch umstrittene Schritt wird von vielen Seiten auch als Verstoß gegen die europäischen Verträge gesehen. Alexander Thiele legt dar, dass die Maßnahmen der EZB mit diesen Bestimmungen vereinbar sind, deshalb freilich nicht automatisch als zweckmäßig angesehen werden können.
Der Finanzbedarf des Staates wird nicht allein durch Steuern, sondern auch durch die Aufnahme von Krediten auf den Finanzmärkten gedeckt. Private aber auch institutionelle Investoren vergeben diese Kredite und erhalten im Gegenzug sogenannte Staatsanleihen, in denen sich die Staaten nach unterschiedlichen Konditionen verpflichten, diese Kredite in einem bestimmten Zeitraum und mit einem vorher vereinbarten Zinsaufschlag zurückzuzahlen.
Dieser Zinsaufschlag variiert in Abhängigkeit von der Bonität des Schuldners, die sich bei Staaten vor allem nach der Bewertung der führenden Rating-Agenturen bemisst. Dementsprechend haben gegenwärtig die schlecht bewerteten Staaten wie Griechenland, zunehmend aber auch Spanien und Italien, Probleme, ihre Staatsanleihen zu einem angemessenen Zinssatz zu platzieren.
Mit einer Pressemitteilung vom 7.8.2011 kündigte der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) daher an, dass die Bank ihr "Securities Market Programme" nunmehr aktiv implementieren werde. Wenn auch der Ankauf von bereits platzierten Staatsanleihen nicht unmittelbar angesprochen wurde, so war doch jedem klar, was diese Aussage bedeuten sollte. Tatsächlich zeichnete die EZB anschließend auch Staatsanleihen aus Spanien und Italien, nachdem sie griechische Anleihen bereits in den vergangenen Monaten erworben hatte. Der Kauf selbst erfolgte dabei freilich allein auf dem sogenannten Sekundärmarkt. Die EZB kaufte privaten und institutionellen Anlegern also bereits platzierte Anleihen ab, vergab aber keine neuen Kredite an die betroffenen Staaten. Es erfolgte also kein unmittelbarer, sondern allein ein mittelbarer Anleiheerwerb durch die EZB.
Ziel: Sicherung der Transmissionswege – oder doch nicht?
Die EZB begründete diesen Schritt vornehmlich mit der notwendigen Sicherung der Transmissionswege ihrer Geldpolitik, eine wichtige Aufgabe einer Zentralbank. Denn nur wenn eine effektive Transmission gesichert ist, kann sie mit ihrer Zinspolitik den gewünschten Einfluss auf die Preisentwicklung nehmen. Gleichwohl wird in den Medien und der Literatur immer wieder gemutmaßt, dass die EZB hier tatsächlich allein den Mitgliedstaaten in ihrem Bemühen zur Seite springen wollte, die Finanzmärkte zu beruhigen und eine Kreditaufnahme Italiens und Spaniens zu ermöglichen. Die durch die Intervention der EZB bewirkte erhöhte Nachfrage nach Staatsanleihen führte denn auch tatsächlich zu einer Verringerung der Zinsaufschläge für Anleihen aus Italien und Spanien.
Aus ökonomischer Perspektive ist diese Maßnahme mehr als umstritten – die Entscheidung in dieser Form in den Anleihemarkt einzugreifen, wurde offenkundig auch im Rat der Bank nicht einstimmig getroffen. Gegner der Maßnahme weisen zum einen auf gestiegene Inflationsrisiken aufgrund der erhöhten Geldmenge hin, obgleich die Währungsbehörde aus Frankfurt angekündigt hat, mithilfe anderer Instrumente auf eine Reduzierung der Geldbasis hinzuwirken. Zum anderen beklagen sie einen Verlust der Unabhängigkeit der EZB. Schon der Rücktritt des bisherigen Präsidenten der Bundesbank, Axel Weber, hing zumindest auch mit den von ihm in dieser Hinsicht stark kritisierten Anleihekäufen durch die EZB zusammen.
Verstoß gegen Art. 123 AEU und damit Kaufverbot?
Doch auch unabhängig von der ökonomischen Zweckmäßigkeit wird immer häufiger in diesem Verhalten der EZB auch ein Verstoß gegen die europäischen Verträge gesehen. Namentlich ist es Art. 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEU-Vertrag), der in diesem Zusammenhang als verletzt angesehen wird. Dieser untersagt seinem Wortlaut nach zwar nur den unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen durch die EZB, zu dem es in diesem Zusammenhang jedoch nicht gekommen ist. Allerdings, so heißt es, sei dieses Verbot auch auf den mittelbaren Erwerb auf den Sekundärmärkten zu übertragen. Denn die "ökonomischen Wirkungen" seien jeweils äquivalent. In beiden Fällen komme es nämlich zu einer "Ausweitung der Geldmenge", was angesichts der damit verbundenen Inflationsrisiken als unzulässig angesehen werden müsse. Damit begründet diese Ansicht letztlich ein umfassendes "Anleiheerwerbsverbot" für die EZB.
Diese Auffassung erweist sich freilich als nicht haltbar. Denn die Tatsache, dass Staatsanleihen zu einer Ausweitung der Geldmenge bzw. der Geldbasis führen, ist ebenso unbestritten wie im Grundsatz unproblematisch. Es ist vielmehr gerade die Aufgabe der EZB, insbesondere über das Zinsniveau die Geldbasis zu regulieren. Der definitive Ankauf von Wertpapieren, zu denen auch Staatsanleihen zu zählen sind, ist in diesem Zusammenhang ein ganz typisches Instrument einer Zentralbank zur Feinsteuerung ihrer Geldpolitik. Wann und in welcher Form sie dies tut, ist letztlich eine geldpolitische Frage, die sich einer juristischen Bewertung weitgehend entzieht und auch unter Ökonomen selbst außerhalb einer Krise höchst umstritten ist.
Festzuhalten bleibt aber, dass die EZB für eine Geldbasisausweitung auf den Ankauf gerade von Staatsanleihen überhaupt nicht angewiesen ist. Dementsprechend ist die bewirkte Geldbasisausweitung auch weder der Grund für das Verbot unmittelbarer Staatsanleihenankäufe des Art. 123 AEU-Vertrag noch taugt sie als Argument für eine Ausweitung des Verbots auf den mittelbaren Anleiheerwerb.
Art. 123 AEU verhindert Umgehung der Sekundärmärkte
Entscheidend ist vielmehr, dass Art. 123 AEU-Vertrag den zu Recht als besonders problematisch angesehenen unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen verschuldeter Staaten ausschließen will. Ein solcher unmittelbarer Erwerb durch die EZB – letztlich also eine unmittelbare Vergabe neuer Kredite an die (überschuldeten) Staaten – würde nämlich unter Umgehung der disziplinierenden Sekundärmärkte erfolgen.
Im Fall des mittelbaren Erwerbs müssen die von den Staaten auf den Markt gebrachten Anleihen demgegenüber zunächst durch andere Marktteilnehmer erworben werden. Diese Marktteilnehmer werden solche Anleihen nur zu einem aus ihrer Sicht angemessenen Preis zeichnen. "Riskante" Staatsanleihen werden in der Konsequenz nur mit entsprechenden Risikoaufschlägen (höheren Zinsen) erworben. Erwirbt die EZB diese anschließend, ändert sich an diesen Konditionen nichts. Die Staaten müssen also weiterhin die vereinbarten Zinsleistungen erbringen – allein der Gläubiger hat gewechselt.
Beim problematischen und verbotenen unmittelbaren Erwerb würden hingegen auch die Anleihekonditionen unmittelbar zwischen EZB und emittierendem Staat ausgehandelt. Die Gefahr, dass in einem solchen Fall die notwendigen Risikoaufschläge aufgrund politischer Erwägungen unterbleiben, ist kaum von der Hand zu weisen. Es droht ein Verlust der Unabhängigkeit der EZB, indem diese von den Staaten zum "Anwerfen der Druckerpresse" genötigt werden kann.
Unmittelbarer und mittelbarer Erwerb von Staatsanleihen sind aus ökonomischer und insbesondere aus der Sicht des emittierenden Staates also mitnichten "äquivalent", sondern gänzlich unterschiedlich zu bewerten. Auch Art. 123 AEU-Vertrag untersagt daher zu Recht allein den unmittelbaren Anleiheerwerb.
Mittelbarer Erwerb ist keine Umgehung des Verbots
Insofern ist es problematisch, im Falle eines mittelbaren Erwerbs von einer "Umgehung" des Art. 123 AEU-Vertrag zu sprechen. Denn wenn das Ziel des Art. 123 AEU-Vertrag darin liegt, eine Umgehung der Sekundärmärkte zu verhindern, kann diese Bestimmung bei einem Kauf von ebendiesem Sekundärmarkt schwerlich umgangen werden. Eine grenzenlose Finanzierung der Staaten wird dadurch bereits ausgeschlossen.
Anders wäre möglicherweise nur dann zu entscheiden, wenn die EZB eine Ankaufgarantie für alle Staatsanleihen abgeben würde. Dann könnte die disziplinierende Wirkung der Sekundärmärkte entfallen, weil Marktteilnehmer aufgrund dieser Garantie auf notwendige Risikoaufschläge verzichten. Davon kann vorliegend jedoch keine Rede sein.
Ein absolutes "Anleiheerwerbsverbot" würde die geldpolitischen Instrumentarien der EZB zudem zu sehr einschränken und wäre daher nicht wünschenswert. Die Einführung eines solchen Verbots im Wege einer Änderung der Bestimmungen ist also schon wegen deren Bedeutung für die Offenmarktgeschäfte der Bank im Rahmen der Feinsteuerung ihrer Geldpolitik abzulehnen.
Das heißt freilich nicht, dass die Ankäufe auch ökonomisch oder geldpolitisch sinnvoll sind. Allein juristisch lässt sich die Diskussion nicht entscheiden. Jedenfalls sollte sich die Jurisprudenz davor hüten, den Wortlaut vertraglicher Bestimmungen aufgrund angeblich offenkundiger Erwägungen zu deren Sinn und Zweck allzu schnell zu überspielen.
Der Autor Dr. Alexander Thiele, Akademischer Rat a.Z. ist Habilitand und Assistent am Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften der Universität Göttingen.
Alexander Thiele, EZB-Anleihekäufe: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4005 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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