Der katalanische Ex-Präsident Puigdemont soll in Spanien vor Gericht erscheinen. Freiwillig will er nicht aus Brüssel zurückkehren. Martin Heger erklärt, was passiert, sobald der angekündigte Haftbefehl die belgischen Justizbehörden erreicht.
Während mehrere Mitglieder der abgesetzten katalanischen Regierung bereits in Madrid in Untersuchungshaft sitzen, hält sich der ehemalige Regionalpräsident Carles Puigdemont weiter in Brüssel auf. Eine Rückkehr nach Spanien lehnt er ab, dort erwarte ihn kein faires Verfahren. Nach Angaben seines Anwalts erließ die spanische Justiz inzwischen einen Europäischen Haftbefehl (EuHB). Nun wird darüber spekuliert, ob die Behörden damit seine Überstellung nach Spanien erreichen können.
Ein EuHB kann nach Art. 2 Abs. 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RB) bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats (Spanien) mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind. Puigdemont werden Auflehnung gegen die Staatsgewalt, Rebellion und Unterschlagung öffentlicher Gelder vorgeworfen. Angesichts der möglichen Höchststrafe für Rebellion nach spanischem Recht von 30 Jahren wäre diese Voraussetzung erfüllt.
Für einen Katalog von 32 Deliktsgruppen müsste darüber hinaus nicht einmal geprüft werden, ob das Verhalten auch im Vollstreckungsmitgliedstaat (Belgien) strafbar ist. Allerdings handelt es sich bei den in Rede stehenden Delikten nicht Katalogtaten. Daher kommt es gemäß Art. 2 Abs. 4 RB darauf an, ob die Handlungen, auf die sich der EuHB bezieht, nach belgischem Recht Straftaten darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat. Das müsste die belgische Justiz nach Eingang eines EuHB prüfen – sofern Belgien nicht auf die beiderseitige Strafbarkeit verzichtet, was möglich wäre.
Wäre Puigdemonts Handeln auch in Belgien strafbar?
Das Ergebnis einer solchen Prüfung lässt sich hier nicht vorwegnehmen, zumal es für die Frage der Strafbarkeit nach belgischem Recht ja nicht nur auf den Wortlaut der belgischen Gesetze ankommt, sondern – wie im Fall Assange mit Recht durch die englische Justiz festgestellt – auf die gelebte Rechtspraxis.
Geprüft werden müsste vor der Vollstreckung des EuHB, sofern Belgien am Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit festhält, ob eine aus spanischer Sicht verfassungswidrige Sezessionserklärung einer Region nach belgischem Recht ebenfalls strafbewehrt wäre – als "Rebellion" oder was auch immer. Im deutschen Strafgesetzbuch fiele es jedenfalls schwer, ein Pendant zu finden.
Allerdings scheint es hier einen Notnagel für die spanischen Behörden zu geben, denn die Anschuldigung zielt wohl auch auf eine Unterschlagung öffentlicher Gelder durch die Durchführung des vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Referendums. Die vorsätzliche unzulässige Ausgabe öffentlicher Mittel dürfte wohl in allen EU-Staaten als solche strafbar sein (in Deutschland wäre es eher Untreue als Unterschlagung). Belgien müsste also jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt – unterstellt die Mindesthöchststrafe hierfür liegt in Spanien bei mindestens einem Jahr –einen EuHB vollstrecken.
Kann Spanien auch wegen Rebellion anklagen?
Nach dem im Auslieferungsrecht üblichen Grundsatz der Spezialität könnte bei Auslieferungen außerhalb des EuHB in Spanien nur das der Auslieferung zugrundeliegende Delikt angeklagt werden. Wenn Belgien am Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit festhalten sollte, Rebellion aber nach belgischem Recht nicht strafbar ist, dürfte Puigdemont deshalb nach seiner Überstellung nach Madrid nur wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder der Prozess gemacht werden könnte.
Allerdings gilt dieser Grundsatz im Rahmen eines EuHB nur eingeschränkt. So sieht Art. 28 Abs. 1 RB vor, dass die Mitgliedstaaten (hier also Belgien) darauf auch generell verzichten können. Liegt ein solcher Verzicht nicht vor, könnte immer noch die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. g RB für den Einzelfall ihre Zustimmung zu einer Nichtbeachtung des Spezialitätsgrundsatzes erteilen.
Es bestehen also einige Möglichkeiten, den EuHB zu vollstrecken und unter Umständen auch die Rebellion weiter zu verfolgen, selbst wenn eine Sezessionserklärung in Belgien nicht unter Strafe steht.
2/2 Belgien prüft nicht, ob Spanien ein faires Verfahren gewährleistet
Die belgische Justiz kann nur prüfen, ob das angeschuldigte Verhalten in Belgien strafbar wäre. Eine Prüfung, ob das in Spanien vorgesehene Strafverfahren fair ist, stünde der belgischen Justiz dagegen grundsätzlich nicht zu. Der dem EuHB zugrundeliegende Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gebietet im Regelfall, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat in die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens vor dem Ausstellungsmitgliedstaat vertraut.
Die zuletzt in Einzelfällen vom Europäischen Gerichtshof und vom Budnesverfassungsgericht gemachten Ausnahmen betreffen nur die Situation, dass angesichts menschenunwürdiger Zustände in einem Gefängnis eine Überstellung zur Strafvollstreckung unmittelbar zu einem Menschenwürdeverstoß führen müsste.
Zu den Ländern, für die dies befürchtet worden ist, zählt Spanien nicht, sodass selbst im Fall drohender Untersuchungs- oder Strafhaft die Vollstreckung eines EuHB nicht abgelehnt werden kann.
Puigdemont wäre ja auch in Spanien gegenüber den von ihm befürchteten Verletzungen des fair trail-Gebots nicht rechtsschutzlos, denn Spanien ist an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gebunden, sodass ihm jedenfalls der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen einer möglichen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK offen stünde.
Das Verfahren muss in der Regel innerhalb von 60 Tagen abgeschlossen sein
Wenn in Brüssel ein spanischer EuHB eingeht, müssen die belgischen Behörden Puigdemont nicht unbedingt in Haft nehmen. Allerdings müssten sie sicherstellen, dass er sich nicht – wie Assange durch die Flucht in die Botschaft von Ecuador – nach Abschluss des Verfahrens über die Vollstreckung des EuHB in Belgien durch Flucht der Übergabe an Spanien entzöge.
Für die Prüfung des EuHB bleibt den belgischen Behörden wenig Zeit: Nach Art. 17 Abs. 1 RB gilt unabhängig davon, ob eine der Katalogtaten zugrunde liegt, für jeden EuHB, dass er als Eilsache vollstreckt wird. Auch hinsichtlich der im RB vorgeschriebenen Fristen gibt es keinen Unterschied zwischen Fällen, bei denen aufgrund des RB eine Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit entfällt, und den anderen Europäischen Haftbefehlen. Jeder EuHB, also auch einer, der "nur" auf die Unterschlagung öffentlicher Gelder gestützt werden kann, müsste im Regelfall binnen 60 Tagen vollstreckt werden.
Soweit – wie von Puigdemonts Anwalt angekündigt – gegen ein Übergabeverlangen in Belgien Rechtsschutz nachgesucht werde, müssten auch die Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich innerhalb dieser Frist abgeschlossen sein. Nach Art. 17 Abs. 4 RB kann nur in Sonderfällen die Frist zur Vollstreckung um 30 Tage verlängert werden.
Zusammengefasst lässt sich also sagen: Die gegen Puigdemont im Raum stehenden Vorwürfe genügen zwar für die Ausstellung eines EuHB durch die spanische Justiz wegen Rebellion und Unterschlagung öffentlicher Gelder, doch könnte die belgische Justiz dessen Vollstreckung ablehnen, soweit das Verhalten in Belgien nicht strafbar ist. Dies erscheint allerdings vor allem für den Unterschlagungs-Vorwurf so gut wie ausgeschlossen. Ein allein darauf gestützter EuHB müsste also binnen 60, maximal 90 Tagen vollstreckt werden. Ob auf dieser Basis auch der Vorwurf der Rebellion angeklagt werden könnte, hängt wiederum davon ab, ob Belgien am Spezialitätsgrundsatz festhält oder nicht.
Prof. Dr. Martin Heger hat den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, europäisches Strafrecht und neuere Rechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
Prof. Dr. Martin Heger , Europäischer Haftbefehl: Muss Belgien Puigdemont ausliefern? . In: Legal Tribune Online, 03.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25373/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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