Um den Motor zu schützen, muss die Abgasreinigung hinten anstehen – mit dieser Begründung bauen die Autohersteller Abschalteinrichtungen ein. Folgt der EuGH diesem Argument nicht, kommt es dicke für die Branche, zeigt Felix W. Zimmermann.
Auch im Jahre 2020, fünf Jahre nach Aufdeckung des Dieselskandals, fahren in Deutschland und Europa Millionen schmutzige Dieselautos herum. Gesetzlich vorgesehene Grenzwerte werden um ein Vielfaches überschritten, die Gesundheit der Bevölkerung geschädigt. Die bisherigen behördlichen Maßnahmen haben daran so gut wie nichts geändert.
Zwar hat das Kraftfahrtbundesamt seit 2015 bei einigen Dieselautos eine illegale Abschalteinrichtung festgestellt und Hersteller zu Software-Updates verpflichtet. Dabei handelte es sich aber um Alibimaßnahmen: Zum einen wurden sehr viele – oft sogar die besonders dreckigen Fahrzeuge – unbeanstandet gelassen, zum anderen machen auch die Software-Updates die Dieselautos nicht sauber. Die vorgesehenen Grenzwerte werden im realen Fahrbetrieb, wo sie nach Auffassung des Europäischen Gerichts ebenso gelten wie auf dem Prüfstand (Urt. v. 13.12.2018, Az. T-339/16), nicht ansatzweise eingehalten.
Grund dafür ist der nach wie vor fehlende Katalysator zur Entstickung. Ohne diesen Katalysator gibt es technisch betrachtet einen Zielkonflikt zwischen gut funktionierender Abgasreinigung und Motorleistung. Das bedeutet beispielsweise, dass die Programmierung des Fahrzeugs die Abgasreinigung stellenweise abschaltet, damit das Auto nicht ruckelt.
Hinsichtlich dieser sogenannten Abschalteinrichtungen wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) bald urteilen (Rechtssache C-693/18). Am Donnerstag stellt die Generalanwältin des EuGH bereits ihre Schlussanträge. Die kommende Entscheidung ist bedeutend für die Automobilbranche in ganz Europa. Aber eins nach dem anderen.
Wie Abschalteinrichtungen funktionieren und warum sie so weit verbreitet sind
Katalysatoren sind teuer, Software ist billig - und so haben die Hersteller zu Lasten der Umwelt vielfach Abschalteinrichtungen in die Motorsteuerungssoftware eingebaut. Es handelt sich vereinfacht gesagt um Software, die unter bestimmten Voraussetzungen die Abgasreinigung des Fahrzeugs verringert oder ganz außer Kraft setzt (s. Art. 3 Nr. 10 Verordnung (EG) 715/2007).
Nicht nur die berühmt gewordene VW-Betrugssoftware des Motorentyps EA189, die die Abgasreinigung nur für den staatlichen Zulassungstest vollständig aktivierte, sonst aber das Auto auf schmutzig schaltete, stellt eine solche Abschalteinrichtung dar. Auch wenn zum Beispiel bei bestimmten Geschwindigkeiten oder Außentemperaturen während der Fahrt die Abgasreinigung durch die Software reduziert wird, kommt dabei eine Abschalteinrichtung zum Einsatz.
Allerdings: Derartige Abschalteinrichtungen sind nach Art. 5 Abs. 1 Verordnung (EG) 715/2007 grundsätzlich verboten. Trotzdem sind sie in fast jedem Auto verbaut und so programmiert, dass zwar unter Bedingungen des staatlichen Zulassungstests Grenzwerte eingehalten werden, bei normalem Fahrbetrieb aber saubere Luft keinerlei Priorität hat.
Argument der Autobauer: Motorschutz geht sauberer Luft vor
Wie kann es dann rechtens sein, dass so viele schmutzige Fahrzeuge weiterhin herumfahren dürfen? Rechtlich begründen die Zulassungsbehörden die Schonung der Autorhersteller mit einer extensiven Auslegung einer Ausnahmebestimmung. So ist nach Art. 5 Abs. 2 Verordung (EG) 715/2007 eine Abschalteinrichtung zulässig, wenn sie "notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung" zu schützen.
Den Autoherstellern ist es damals gelungen, die Politik, Behörden und manche Medienvertreter etwa davon zu überzeugen, dass sogenannte Thermofenster zum Motorschutz erforderlich seien. Die Reinigung des Abgassystems, so die Autobauer, könne bei bestimmten Temperaturen, die nicht innerhalb dieses Thermofensters liegen, nicht so gut funktionieren, ohne den Motor zu schädigen; die Abgasreinigung müsse daher reduziert bzw. abgeschaltet werden.
Nun sollte man intuitiv meinen, dass das Thermofenster erst bei eher extremen Temperaturen wie etwa Minustemperaturen greift. Das ist aber nicht der Fall: Schon bei in Deutschland alles andere als ungewöhnlichen 15 Grad ist es – vereinfacht gesagt – der Abschalteinrichtung "zu kalt". Kurzum: Mit dieser Argumentation dürfen Dieselautos bereits bei ganz normalen und vollkommen üblichen Temperaturen dreckig sein, Grenzwerte reißen und letztlich die Gesundheit der Bevölkerung schädigen.
EuGH wird entscheiden: Wie weit reicht der Motorschutz wirklich?
Ob die "Ausnahme Motorschutz" tatsächlich derartig weit ausgelegt werden darf, dass die "Ausnahme Abschalteinrichtung" zur Regel wird, entscheidet bald der EuGH. Hintergrund ist ein Dieselverfahren von VW-Kunden vor dem Tribunal de Grande Instance de Paris. Die Fragen, die das französische Gericht vom EuGH beantwortet haben will, enthalten aber nicht nur für den Wolfsburger Autokonzern, sondern für die gesamte europäische Automobilindustrie Sprengstoff.
Sollte der EuGH nämlich annehmen, dass zum Beispiel nur plötzlich auftretende Motorschäden den Einsatz von Abschalteinrichtungen rechtfertigen, wäre das Argument der Autobauer, Temperaturfenster für den Motorschutz zu benötigen, dahin. Dies gälte auch für den Fall, wenn der EuGH entschiede, dass Autokonzerne sich beim Einbau von Abgasreinigungssystemen nach dem aktuellen Stand der Technik richten müssen. Dies haben viele Autokonzerne in Europa aber unterlassen - aus Kostengründen.
In den USA setzen die Autobauer modernere Technik ein
Dass es auch anders geht und die betroffenen Autobauer Technik nach dem neuesten Stand einsetzen, zeigt ein Blick nach Übersee: In den USA, wo die Behörden besonders streng sind, hat etwa BMW seinen X3 mit einem modernen, sogenannten SCR-Katalysator mit AdBlue-Technik ausgestattet. So kann der Wagen auch bei niedrigen Temperaturen die Abgaswerte einhalten, ohne dass das Fahrverhalten beeinträchtigt wird. Das Auto ruckelt nicht, trotzdem reicht's für saubere Luft. Technisch wäre das dem Dieselskandal zugrunde liegende Problem also zu lösen.
Für europäische Fahrzeuge ist diese Technik aber einfach nicht eingebaut worden - obwohl im Fall des BMW X3 sogar eine Aushöhlung, also ein Bauraum, für die Technik vorhanden ist, wie Frontal21 berichtete. Die Folge: Das Fahrzeug reißt die geltenden Grenzwerte im Realbetrieb um ein Vielfaches. Die EU-Kommission vertrat in einem LTO vorliegenden Leitlinienpapier die Auffassung, es müsse jeweils der beste Stand der Technik eingebaut werden. So lautet auch die Auffassung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags.
Schließt sich der EuGH dieser Meinung an, könnte dies bedeuten, dass Millionen Fahrzeuge zu Unrecht eine Straßenzulassung erhalten haben und Behörden einen Rückruf anordnen könnten - oder sogar müssten.
Neuer Schwung für die Nachrüstungsdebatte
Je nachdem, wie die Entscheidung ausfällt, könnte das auch für die Nachrüstungsdebatte Auswirkungen haben, die im Zusammenhang mit Dieselfahrverboten geführt wird. Bislang ist allen voran Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer der Auffassung, man könne Hersteller zu Hardware-Nachrüstungen, die Dieselautos tatsächlich sauber machen, nicht verpflichten. Urteilt der EuGH, dass die Ausnahmevorschrift zum Motorschutz eng auszulegen ist, wäre auch diese Auffassung nicht mehr haltbar.
Der EuGH entscheidet erst in einigen Monaten. Am Donnerstag stellt die Generalanwältin aber schon einmal ihre Schlussanträge vor, in der sie ihre rechtliche Bewertung der Dinge darlegt. Die ist für die Luxemburger Richter nicht bindend, sie folgen ihr aber in vielen Fällen.
Was bis zur Entscheidung der Luxemburger Richter auf jeden Fall feststeht: Die Aufarbeitung des Dieselskandals ist bislang mindestens kurios. Der eigentliche Missstand für die Gesellschaft sind die miserablen Abgaswerte der Fahrzeuge, die die Luft verpesten. Doch nach der Rechtsauffassung der Behörden spielt die Luftverschmutzung überhaupt keine Rolle: Trickreiche Prüfstandserkennungen à la VW werden zwar als illegal eingestuft, doch wenn die Abgasreinigung schon bei 15 Grad reduziert wird, soll das legal sein, selbst wenn derartige Autos besonders schmutzig sind.
So kommt es, dass bislang nur die Spitze des Eisbergs im Dieselskandal auf dem Radar der Behörden ist. Ob es dabei bleiben darf, wird der EuGH in seinem kommenden Urteil entscheiden.
Kommendes EuGH-Urteil zum Dieselskandal: . In: Legal Tribune Online, 29.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41449 (abgerufen am: 05.12.2024 )
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