2/2: Beweislastumkehr ginge zu weit
Der EuGH hält den wissenschaftlichen Kausalitätsnachweis zwischen Fehler und Schaden für nicht erforderlich, solange das Gericht die Kausalität auf Grundlage ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien als erwiesen ansieht. Es müsse zumindest ein Indizienbündel vorliegen, das mit einem hinreichend hohen Grad an Wahrscheinlichkeit den Schluss zulasse, dass der Kausalzusammenhang der Realität entspricht. Eine solche Beweisregelung verstoße nicht gegen den Grundgedanken der ProdhaftRL, da erst eine Umkehr der Beweislast mit Art. 4 der ProdHaftRL nicht mehr vereinbar wäre.
Weiterhin führe eine Beschränkung auf den wissenschaftlichen Nachweis unter Ausschluss aller anderen Arten der Beweisführung zu immensen Schwierigkeiten bei den Geschädigten. Die Chance, überhaupt jemals eine Entschädigung erlangen zu können, werde gerade im medizinischen Bereich minimiert.
Denn die Forderung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen erschwere die Beweispflicht des Anspruchstellers über alle Maßen. Es sei zu befürchten, dass aufgrund des Standes der medizinischen Forschung ein ursächlicher Zusammenhang regelmäßig weder bewiesen noch widerlegt werden könne.
In Deutschland reicht Geeignetheit der Schadensverursachung
Auf die deutsche Arzneimittelhaftung hat das Urteil zunächst keine Auswirkungen. Die Haftung für Arzneimittel setzt in Deutschland gerade nicht – wie in anderen EU-Staaten – die ProdHaftRL um. Es gelten die rein nationalen Haftungsvoraussetzungen nach §§ 84 ff. Arzneimittelgesetz (AMG). Anders als Art. 4 der ProdHaftRL definiert § 84 Abs. 2 AMG eine im Jahre 2002 eingeführte, gesetzliche Kausalitätsvermutung: das angewendete Arzneimittel muss nach den Gegebenheiten des Einzelfalls - konkret-generell - geeignet gewesen sein, den Schaden zu verursachen. Ob diese Vermutung angestellt wird, richtet sich nach Indizien, die in § 84 Abs. 2 Satz 2 AMG beispielhaft aufgeführt werden. Diese Vermutung kann der Beklagte versuchen, zu erschüttern.
Doch auch für Fälle nach deutschem Recht muss nach der EuGH-Entscheidung ein Indizienbeweis auf einem hinreichenden Bündel konkreter und ihrerseits bewiesener Umstände beruhen. Ein allzu lockerer Schluss auf die Kausalität zwischen Produktfehler und Schaden verbietet sich nach wie vor. Die nationalen Gerichte müssen dafür Sorge tragen, dass die Indizien eine Qualität aufweisen, die den Schluss auf die Kausalität zulassen. Das dürfe allerdings nicht zu einer Beweislastumkehr führen.
Schon in der Rechtssache C-503/13 (Boston Scientific) hat der EuGH ausdrücklich betont, dass die Haftung den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Fehler und erlittenem Schaden voraussetzt. Wann dieser Beweis erbracht ist, muss – so der EuGH auch in dieser Sache – im Einzelfall von dem jeweiligen nationalen Gericht entschieden werden.
Übrigens ist umstritten, ob die im deutschen AMG eingeführte Beweislastumkehr mit europäischem Recht überhaupt vereinbar ist. Dies bleibt auch nach einer anderen Entscheidung des EuGH (Urt. v. 20.11.2014, Az. C-310/13) weiterhin offen. Zwar durften die deutschen Haftungsregelungen des AMG nach Umsetzung der ProdHaftRL grundsätzlich beibehalten werden. Unklar blieb jedoch, ob die entsprechende Regelung in Art. 13 ProdHaftRL eine Bereichsausnahme oder eine Ausnahme zum Stichtag der Einführung der ProdHaftRL für die deutsche Arzneimittelhaftung darstellt.
Der Autor Dr. Boris Handorn ist Partner bei Simmons & Simmons LLP in München und dort in der Praxisgruppe Life Science insbesondere im Produkthaftungs-, Medizinprodukte- und Arzneimittelrecht tätig.
Urteil des EuGH zu nationalen Beweisregelungen: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23253 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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