Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge atmeten nach einem EuGH-Urteil im Frühjahr kurz auf: Sie könnten ihre Familien nachholen, auch wenn sie während des Verfahrens volljährig geworden sind. Deutschland folgt der Entscheidung aber nicht.
Minderjährige werden irgendwann volljährig. Passiert das unbegleiteten Minderjährigen während des laufenden Asylverfahrens, so haben diese Flüchtlinge ein Problem. Denn ab dem Tag des Eintritts der Volljährigkeit verlieren diese ehemaligen Kinder das Recht, ihre Familien nachzuholen – so sieht es jedenfalls offenbar das Auswärtige Amt (AA) dieser Tage.
Nun dauern Asylverfahren einige Zeit, entsprechend hatte sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits mit der Frage befasst, was passiert, wenn Minderjährige während des Verfahrens volljährig werden. So entschieden die Luxemburger Richter bereits im April dieses Jahres: Wird ein Minderjähriger während des laufenden Asylverfahrens volljährig, so behält er den Anspruch auf Familienzusammenführung (EuGH, Urt. v. 12.04.2018, Az. C-550/16).
Abzustellen sei in solchen Fällen auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung – und eben nicht auf die Entscheidung über den Antrag, so der EuGH im Frühjahr. In dieser Festlegung räumt das Gericht den Mitgliedstaaten ausdrücklich keinen Ermessensspielraum ein. Er stützte sein Ergebnis auf den Wortlaut, die Struktur und das Ziel der Richtlinie unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs, in den sie sich einfügt, und auf die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts. Alles andere führt seiner Auffassung nach nämlich zu Rechtsunsicherheit für den Minderjährigen, der von der Behördenentscheidung abhängig – und damit der "mehr oder weniger schnellen Bearbeitung" seines Antrags.
In der Praxis müssen die Eltern des unbegleiteten, ehemals Minderjährigen also lediglich innerhalb von drei Monaten nach der Anerkennung des Kindes als Asylberechtigter iSd § 3 Asylgesetz (AsylG) einen Antrag auf Visumserteilung zwecks Familienzusammenführung stellen, um einreisen zu können – möchte man meinen.
Niederländischer Fall, Entscheidung auf Deutschland übertragbar?
Allerdings spielte der im April zu entscheidende Fall vor dem EuGH in den Niederlanden. Während sich Flüchtlingsorganisationen bereits für die von ihnen betreuten Minderjährigen freuten, interpretierte das Auswärtige Amt die Rechtslage nach dem Urteil aus Luxemburg indes anders. Bei einem Fachtag zum Familiennachzug im September war eine autorisierte Vertreterin des AA zugegen. Die soll erklärt haben, das Auswärtige Amt sei "nach intensiver fachlicher Auseinandersetzung mit den zuständigen Stellen in Deutschland zu der nunmehr abgestimmten Auffassung gekommen, dass aus den Auslegungsvorgaben des EuGH-Urteils zum Elternnachzug" in diesen "im Hinblick auf die Rechtslage in Deutschland kein Umsetzungsbedarf" bestehe – und zwar grundsätzlich.
Das führt aktuell dazu, dass die Eltern betroffener Minderjähriger schon bei der Terminanfrage zur Visumserteilung vom AA den Hinweis bekommen: "Eine Visumantragstellung hat keinerlei Aussicht auf Erfolg." Da sich die niederländische von der deutschen Rechtslage deutlich unterscheide, entfalte das EuGH-Urteil keine Bindungswirkung, argumentiert das AA. In den Niederlanden hätten die Eltern eines Minderjährigen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht (i.S.v. Art. 15 Abs. 2 Familienzusammenführungsrichtlinie), das nicht mit dem Ende der Minderjährigkeit erlischt. Entsprechende Schreiben liegen LTO vor.
Kein Recht auf Familie bei Volljährigkeit
Im deutschen Recht findet sich die entsprechende Regelung im Aufenthaltsgesetz (AufenthG): Nach § 36 Abs. 1 AufenthaltG ist den Eltern der minderjährigen Asylberechtigten/Flüchtlings eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Allerdings wird diese Aufenthaltserlaubnis in aller Regel nur befristet bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Kindes erteilt.
"Tatsächlich wirft die Frage der Übertragbarkeit der Entscheidung des EuGH vor dem Hintergrund der offenkundigen Unterschiede zwischen der niederländischen und der deutschen Regelung Probleme auf", sagt Dr. Roman Lehner, Akademischer Rat a.Z. und Habilitand an der Universität Göttingen. Nach der Richtlinie zur Familienzusammenführung seien die Mitgliedstaaten an sich nicht verpflichtet, über die Volljährigkeit hinaus die Familienzusammenführung zu ermöglichen. "Die deutsche Regelung sieht generell vor, dass das von den Kindern abgeleitete Aufenthaltsrecht der Eltern mit dem Eintritt der Volljährigkeit endet", bestätigt Lehner. Bis dahin könnten zwar andere eigene Aufenthaltsrechte der Eltern entstanden sein, der Elternnachzug selbst sei aber nicht auf eine Aufenthaltsverfestigung angelegt, erklärt der Asylrechtler. Das habe das Bundesverwaltungsgericht schon 2013 klargestellt (Urt. v. 18.04.2013, Az. 10 C 9.12).
So erklärt es auch das AA gegenüber den Visums-Antragstellern, wie aus den der LTO vorliegenden Schreiben hervorgeht: Gemäß § 36 Abs. 1 AufentG sei für den Anspruch auf Nachzug der Eltern hingegen erforderlich, "dass das Kind zum Zeitpunkt der Einreise der Eltern nach Deutschland minderjährig ist, denn die Regelung dient dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern. Nach Eintritt der Volljährigkeit sieht das AufenthG keine Grundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Eltern von zuvor minderjährig nach Deutschland eingereisten Kindern vor", so das AA. Und abschließend: "Falls Sie dennoch einen Visumantrag stellen möchten, teilen Sie dies bitte mit, damit ein Termin zur Antragsabgabe vereinbart werden kann."
Das Auswärtige Amt und auch das Innenministerium haben dazu auf LTO-Nachfrage keine inhaltliche Stellungnahme abgegeben.
Andere Ansicht: OVG Berlin-Brandenburg?
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg sieht die Rechtslage indes offenbar anders als das AA. Das Gericht hat gerade in einem Beschluss auf eine "bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung" zu § 36 Abs.1 AufenthG beim Eintritt der Volljährigkeit Bezug genommen. Die Richtlinie zur Familienzusammenführung sei nach dem EuGH-Urteil vom April dahin auszulegen, dass der volljährig gewordene Ausländer als Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sei. Das OVG nimmt explizit Bezug darauf, dass die Regelung des § 36 AufenthG seine Grundlage in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG habe (vgl. BT-Drucksache 16/5065).
Dass § 36 AufenthG grundsätzlich im Sinne der Richtlinie ausgelegt werden muss, meint auch Roman Lehner: "Das Problem bleibt aber: Was folgt daraus? Für welchen Zeitraum etwa wäre die Aufenthaltserlaubnis für die Eltern des inzwischen volljährigen Flüchtlings zu erteilen?" Diese Frage lasse sich mit dem EuGH-Urteil nicht beantworten. Lehner geht mit der Einschätzung des Bundesfachverbands unbegleitete minderjährige Flüchtlinge jedenfalls in einem Punkt d'accord: Eine Klärung wird nur im Klagewege möglich sein. Zur Not also wieder bis nach Luxemburg.
Elternnachzug bei volljährig werdenden Flüchtlingen: . In: Legal Tribune Online, 10.10.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31413 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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