Ist ein Asylsuchender über Italien nach Deutschland gelangt, muss das Mittelmeerland ihn eigentlich zurücknehmen. Das verweigert Italien aber seit Jahren. Wird Deutschland dann zuständig? Der EuGH-Generalanwalt antwortet differenziert.
Über kaum etwas besteht in der europäischen Asylpolitik so viel Konsens wie darüber, dass das Dublin-System nicht funktioniert. Staaten mit EU-Außengrenzen wie Italien und Griechenland werden unverhältnismäßig belastet, denn Kern von Dublin ist: Der Staat, in dem eine geflüchtete Person zuerst den Boden der EU betritt, ist für den Asylantrag zuständig. Sind sie bereits in andere EU-Länder weitergereist und haben dort einen Asylantrag gestellt, müssten sie eigentlich rücküberstellt werden. Aber was, wenn der eigentlich zuständige Mitgliedstaat – wie derzeit Italien – die Rücknahme verweigert?
Dann könnte subsidiär der Mitgliedstaat, der das Verfahren zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats (Dublin-Verfahren) durchführt, selbst für das Asylverfahren zuständig werden. Denn die Dublin-III-Verordnung sieht einen solchen Übergang der Zuständigkeit in bestimmten Fällen vor, vereinfacht gesprochen bei Unmöglichkeit der Überstellung (Art. 3 Abs. 2) oder nach Ablauf von sechs Monaten (Art. 29 Abs. 2). Es liegt an diesen Regeln, dass das Dublin-System nicht nur in den Staaten mit Außengrenze, sondern auch bei Mitte-rechts-Politikern in Staaten ohne Außengrenze verhasst ist. Unter anderem damit begründet die Bundesregierung ihre Zurückweisungspraxis, die ihrerseits gegen die Dublin-Regeln verstößt.
Dublin ist also aus zwei Richtungen unter Beschuss. Hochhalten können die Regeln in diesen Zeiten allein die Gerichte, verbindlich auslegen kann sie nur der Europäische Gerichtshof (EuGH). Der erhält aktuell Gelegenheit, in einem Fall aus Deutschland über die Rechtsfolgen der italienischen Verweigerungshaltung zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht (VG) Sigmaringen will wissen: Wird Deutschland nach Dublin subsidiär zuständig, wenn Italien sich pauschal weigert, die Pflicht zur Auf- und Rücknahme der dort erstmals in die EU eingereisten Geflüchteten einzuhalten?
Am Donnerstag hat der zuständige EuGH-Generalanwalt Maciej Szpunar seine Schlussanträge vorgelegt. Die Antwort fällt differenziert aus: Eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Rücküberstellung ergebe sich aus Italiens Weigerung nicht; ein Zuständigkeitswechsel wegen Ablaufs der Sechsmonatsfrist sei aber sehr wohl möglich.
EuGH entschied schon 2024 über Italiens Weigerungshaltung
Im Ausgangsfall reiste ein syrischer Staatsangehöriger im April 2023 nach Deutschland ein und stellte dort einen Asylantrag. Weil er laut der Datenbank Eurodac in Italien erstmals europäischen Boden betreten hatte, ersuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Italien um Aufnahme, worauf die dortigen Behörden nicht reagierten. Im Juli lehnte das BAMF den Asylantrag mangels Zuständigkeit als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Syrers nach Italien an.
Dagegen klagte der Mann vor dem VG Sigmaringen. Per Eilantrag konnte er erreichen, dass die Abschiebung bis zur gerichtlichen Entscheidung ausgesetzt wird. In der Hauptsache hätte er mit der Klage gegen die Abschiebung nur dann Erfolg, wenn die Zuständigkeit für den Asylantrag wegen Italiens Weigerungshaltung auf Deutschland übergegangen wäre. In zwei Rundschreiben hatte Italiens Regierung 2022 erklärt, keine Rücküberstellungsgesuche mehr anzunehmen; Ausnahmen gälten nur bei Familienzusammenführungen. Das VG sieht in dieser Haltung einen "Systembruch" mit Dublin, der nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-Verordnung zum Übergang der Zuständigkeit auf Deutschland führen könne.
Generalanwalt Szpunar sieht das anders. Der EuGH hat bereits 2024 – auch auf Vorlage aus Deutschland – entschieden, dass Italiens Weigerung, die Dublin-Pflichten einzuhalten, nicht unter Art. 3 Abs. 2 fällt (Urt. v. 19.12.2024, C-185/24 u. C-189/24). Der italienische Auf- und Rücknahmestopp sei nicht als "systemische Schwachstelle" des Asylverfahrens bzw. der Aufnahmebedingungen nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 zu qualifizieren. Italiens Weigerung allein begründe keine solchen Mängel am Asylverfahren oder an den Aufnahmebedingungen in Italien. Die dort teils desolate Lage könne zwar eine Überstellung der Geflüchteten rechtlich ausschließen, das müsse aber anhand der jeweils aktuellen Lage konkret geprüft und belegt werden.
Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
Dass sich ein Mitgliedstaat nicht aus einer Pflicht befreien kann, indem er die Weigerung, sie einzuhalten, öffentlich erklärt, erscheint plausibel wie gerecht. Für die betroffene Person aber folgt daraus: Wenn keine systemischen Mängel im eigentlich zuständigen Staat vorliegen, wird der um Überstellung ersuchende Staat nicht zuständig, der dort gestellte Asylantrag ist dann unzulässig, die Abschiebung gerechtfertigt.
Das VG Sigmaringen hält dieses Ergebnis offenbar für ungerecht. Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung sei doch anzuwenden, die Aufnahmebereitschaft des an sich zuständigen Staats sei ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Generalanwalt Szpunar überzeugt das nicht. Er weist darauf hin, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 und 3 Dublin-III-Verordnung auf ein EuGH-Urteil von 2011 zurückgingen. Dabei gehe es um den Schutz Geflüchteter vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Deshalb sei die Bestimmung nicht durch Hineinlesen ungeschriebener Tatbestandsmerkmale auf andere Konstellationen wie die pauschale Weigerung eines Staates zur Rücknahme anzuwenden. Das werde auch durch das EuGH-Urteil vom Dezember 2024 bekräftigt.
Anstatt die weitere Prüfung hier abzubrechen, äußerte sich Szpunar noch ausführlich zur äußerst praxisrelevanten Fristenregelung des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung. Hierzu hatte das VG Sigmaringen gar keine Vorlagefrage formuliert, die Vorschrift hatte laut Szpunar jedoch in den Stellungnahmen mehrerer Verfahrensbeteiligter und in der mündlichen Verhandlung eine zentrale Rolle gespielt.
Nach Zeitablauf geht die Zuständigkeit über
Art. 29 Abs. 1 schreibt vor, dass die Überstellung so bald wie möglich, spätestens innerhalb von sechs Monaten nach Annahme des Auf- bzw. Rücknahmegesuchs erfolgt. Verstreicht diese Frist, geht die Zuständigkeit nach Abs. 2 auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. "Das vorlegende Gericht scheint der Ansicht zu sein, dass die Dublin-III-Verordnung keine Bestimmungen über die Folgen einer Aussetzung der Aufnahme durch den zuständigen Mitgliedstaat enthalte", schreibt Szpunar. Dabei sei es doch diese Regelung, Art. 29 Abs. 2 der Verordnung, die geeignet sei, die Folgen des Bruchs mit dem Dublin-System abzumildern und zu verhindern, dass der Asylsuchende zum “refugee in orbit” wird.
Streitig war unter den am Verfahren Beteiligten aber, ob diese Rechtsfolge für alle Fälle gelten kann, in denen die Überstellung nicht innerhalb der Frist erfolgt. Weil die Überstellung nach Abs. 1 eigentlich "nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten" erfolgen solle, könnte man daraus schließen, dass die Säumnisfolge des Abs. 2 in einem Fall wie hier, in dem sich der ersuchte Mitgliedstaat schlicht weigert, nicht zur Anwendung kommen soll. Die Bundesregierung und die dänische Regierung hatten in dem Verfahren vertreten, es könne nicht angehen, dass Italien de facto einseitig einen Übergang der Zuständigkeit bewirken könnte.
Generalanwalt Szpunar hingegen hält zusammen mit der Europäischen Kommission sowie weiteren Regierungen eine weite Auslegung für richtig. Maßgeblich sei zum einen der Wortlaut von Art. 29 Abs. 2, der keine Einschränkung vorsehe. Zudem anderen diene eine solche Fristenregelung immer der Rechtssicherheit: Es gehe darum, nach einem festen Stichtag Klarheit zu haben, wer zuständig ist – ohne dass weitere Umstände zu prüfen sind. Szpunar wies in dem Zusammenhang darauf hin, dass die italienische Regierung ihren Erlass jederzeit zurücknehmen könnte.
Auch nach GEAS-Reform relevant
Der EuGH schließt sich im Allgemeinen häufig den Schlussanträgen der Generalanwälte an. Gerade im Asyl- und Migrationsrecht weicht er jedoch auch immer wieder davon ab. Mit einer Entscheidung ist in einigen Monaten zu rechnen.
Die Auswirkungen der Entscheidung werden auch nach der Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im kommenden Jahr relevant bleiben. Die Dublin-III-Verordnung wird zwar durch eine neue Verordnung ersetzt. Die Dublin-Kernregel, wonach der Erstzutrittsstaat zuständig ist, bleibt aber erhalten. Auch die Regelungen zum Überstellungsverfahren bleiben im Wesentlichen bestehen, so jedenfalls die Sechsmonatsfrist und ihre Säumnisfolge.
Schlussanträge zu Dublin-Überstellung: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58402 (abgerufen am: 13.11.2025 )
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