Der EuGH-Generalanwalt hat in den Verfahren Tele2 Sverige und Davis u.a. die Schlussanträge gestellt. Jens Schefzig zu deren Bedeutung für Deutschland und die ausstehende Entscheidung des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung hierzulande.
Nach Ansicht von EuGH-Generalanwalt Hendrik Saugmandsgaard Øe kann eine generelle Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung, die ein Mitgliedstaat den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auferlegt, mit dem Unionsrecht vereinbar sein. Nach der am Dienstag zu den Schlussanträgen veröffentlichten Pressemitteilung stellte Øe aber klar, dass mit einer solchen Verpflichtung strenge Garantien einhergehen müssen.
Ursprünglich hatte die EU mit der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung von Daten allen Mitgliedsstaaten 2006 die verbindliche Vorgabe gemacht, eine Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Deutschland setzte diese Richtlinie 2008 mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen um.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärte das Gesetz aber 2010 wegen Verstoßes gegen das Fernmeldegeheimnis für verfassungswidrig. Eine Vorratsdatenspeicherung sei grundsätzlich möglich, aber die Daten müssten dezentral gespeichert und besonders gesichert sein. Außerdem sollten Behörden die Daten nur in konkreten Fällen schwerster Kriminalität und Gefahren nutzen dürfen.
Mangels Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung leitete die Europäische Kommission daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegenüber Deutschland ein.
Dieses verlief aber im Sand: Denn während die entsprechende Klage anhängig war, hob der Europäische Gerichtshof (EuGH) in dem Verfahren Digital Rights Ireland die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf. Die Richtlinie verletzte die Europäische Grundrechtecharta (GRC), namentlich das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 7 GRC), des Grundrecht auf Schutz der personenbezogenen Daten (Art 8 GRC) und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art 52 GRC).
Rechtsgeschichte wird zu Rechtslage
Deutschland führte 2015 trotzdem eine neue Vorratsdatenspeicherung ein. Sie ist Gegenstand heftiger politischer und juristischer Auseinandersetzungen. Und hier wird die Rechtsgeschichte zur Rechtslage:
Noch am vergangenen Freitag waren gegen die Vorratsdatenspeicherung gerichtete Verfassungsbeschwerden im Eilverfahren vor dem BVerfG erfolglos – das Gericht sah keine drohenden besonders schweren und irreparablen Nachteile, die es rechtfertigen würden, den Vollzug der Norm ausnahmsweise auszusetzen.
Die Richter äußerten sich dabei praktisch nicht zur europäischen Rechtslage – was angesichts des einschlägigen EuGH-Urteils überraschte. Es sei im Hauptsacheverfahren zu klären, auf welche Weise die GRC oder sonstiges Unionsrecht für die Beurteilung der Vorratsdatenspeicherung Bedeutung entfalte.
2/2: Nächstes Kapitel wieder in Europa
Die Schlussanträge Saugmandsgaard Øes vom Dienstag in den verbundenen Verfahren Tele2 Sverige und Davis u.a. (Az. C-203/15 und C-698/15) nehmen nicht nur potenziell die Entscheidung des EuGH vorweg, sondern auch die des BVerfG. Beide Vorlageverfahren haben dabei nationale Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung zum Gegenstand.
Im Verfahren Tele2 Sverige will das vorlegende schwedische Gericht wissen, ob eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten aller Personen und aller elektronischen Kommunikationsmittel ohne Ausnahme mit dem europäischen Recht vereinbar sei und welche Voraussetzungen für den Zugang der nationalen Behörden zu den Daten, die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen und die Speicherdauer gelten.
Der englische Court of Appeal stellte dem EuGH parallel die Fragen, ob das Urteil in der Sache Digital Rights Ireland verbindliche Voraussetzungen für eine nationale Vorratsdatenspeicherung festlege und es den Anwendungsbereich des aus der GRC stammenden Grundrechts auf Achtung von Privatleben und Korrespondenz gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des Euro-päischen Gerichtshofs für Menschenrecht (EGMR) erweitere.
Schlussanträge bieten wenig Neues
Nach der Pressemitteilung des EuGH vom Dienstag ist nicht nur der erhoffte beziehungsweise befürchtete Paukenschlag ausgeblieben. Vielmehr scheinen die Schlussanträge kaum Neues zu bieten: Der Generalanwalt hält eine Vorratsdatenspeicherung für grundsätzlich mit dem europäischen Recht vereinbar. Allerdings müssten die Mitgliedsstaaten bei der Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung bestimmte Voraussetzungen erfüllen:
Die Vorratsdatenspeicherung müsse in zugänglichen und vorhersehbaren Rechtsvorschriften geregelt sein, welche einen geeigneten Schutz gegen Willkür bieten.
Die Gesetze müssten den Wesensgehalt der in der GRC enthaltenen Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten wahren.
Eine Vorratsdatenspeicherung sei nur zur Bekämpfung schwerer Kriminalität legitim.
Die Erforderlichkeit sei streng zu beachten. Der Zugang zu den Daten und die Dauer ihrer Speicherung müssten auf das absolut Notwendige beschränkt und ihre Sicherheit durch konkrete Maßnahmen gewährleistet sein.
Schließlich müsse die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung in einem angemessenen Verhältnis zur Bekämpfung schwerer Kriminalität stehen.
Wie geht die Geschichte nun weiter?
Die Schlussanträge scheinen gegenüber dem Urteil des EuGH in der Sache Digital Rights Ireland kaum neue Erkenntnisse zu enthalten. Weder ergänzen noch konkretisieren sie die dort gemachten Vorgaben nennenswert. Sie wiederholen letztlich die bekannten Eckpunkte bei der Beurteilung der Vorratsdatenspeicherung.
Sollte der EuGH in seinem Urteil also nicht weitere Punkte ergänzen, wird Europa die deutsche Lösung nicht vorschreiben. Das BVerfG könnte bei seiner Beurteilung der Vorratsdatenspeicherung dann relativ frei agieren.
Der Autor Dr. Jens Schefzig ist Rechtsanwalt bei Osborne Clarke in Hamburg. Sein fachlicher Schwerpunkt liegt auf sämtlichen Rechtsfragen rund um das Thema Daten.
Dr. Jens Schefzig, Vorratsdatenspeicherung vor dem EuGH: Weichenstellung für ganz Europa? . In: Legal Tribune Online, 19.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20046/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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