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Schlussanträge zu Klagen Ungarns und Polens: Der Rechts­staat wehrt sich

Gastbeitrag von Dr. Malte Symann

03.12.2021

Scales of Justice, Justitia, Lady Justice in front of the European Union flag in the background.

Corgarashu - stock.adobe.com

Polen und Ungarn halten die neue EU-Rechtsstaatsklausel für unionswidrig und zogen vor den EuGH. Der Generalanwalt sieht das in seinen Schlussanträgen anders. Malte Symann ordnet die Beurteilung ein.

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In vielen europäischen Hauptstädten waren die Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona zu den Klagen Polen und Ungarns gegen die Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (VO 2020/2092, kurz: Konditionalitätsverordnung) mit Spannung erwartet worden. Denn mit dieser neuen Verordnung möchte die Europäische Union (EU) ihren Willen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit unter Beweis stellen – und für die betroffenen Mitgliedstaaten stehen hohe Summen aus dem Unionshaushalt auf dem Spiel.   

Polen und Ungarn hatten im März dieses Jahres Nichtigkeitsklagen gegen den neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus erhoben. 

In seinen am 2. Dezember veröffentlichten Schlussanträgen bestätigt der Generalanwalt, dass die Konditionalitätsverordnung mit dem Unionsrecht vereinbar ist (Az. C-156/21 und C-157/21). Da die EU über eine entsprechende Kompetenz verfüge und die Verordnung auch inhaltlich den Anforderungen des Unionsrechts genüge, schlägt er vor, die von Polen und Ungarn erhobenen Klagen abzuweisen.     

Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch schnödes Haushaltsrecht  

Auch wenn dies in der politischen Diskussion bisweilen untergeht, soll die Verordnung vornehmlich dem Schutz des Unionshaushalts dienen: Sie sieht Sanktionen nur für solche Rechtsstaatsverstöße vor, die zugleich die finanziellen Interessen der Union bzw. die Umsetzung des unionalen Haushalts beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen. Gegen andere Rechtsstaatsverstöße, die sich nicht auf die Umsetzung des Unionshaushalts auswirken, kann die neue Verordnung also nicht in Stellung gebracht werden.  

Die Konditionalitätsverordnung ist somit, auch nach Ansicht des Generalanwalts, eine unionale Haushaltsvorschrift gemäß Art. 322 Abs. 1 lit. a des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).  

Die Rechtsstaatlichkeit schützt diese Verordnung also nur mittelbar, indem sie diese zur Vorbedingung für eine korrekte Ausführung des Unionshaushalts erklärt. Insoweit stimmt der Generalanwalt auch der Argumentation des Unionsgesetzgebers zu, dass die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze für die Umsetzung des unionalen Haushalts von grundlegender Bedeutung sein kann.  

Neue Verordnung ergänzt bisherige Sanktionsmechanismen 

Nach Ansicht des Generalanwalts kann die EU die neue Verordnung auch zusätzlich zu den bereits bestehenden Sanktionsmechanismen einführen. Voraussetzung hierfür ist insbesondere, dass sich die neuen Sanktionsmöglichkeiten von den bereits bestehenden Verfahren hinreichend unterscheiden. Letztlich soll hierdurch sichergestellt werden, dass die in den jeweiligen Mechanismen festgelegten Verfahrensabläufe und Sanktionsmöglichkeiten nicht umgangen werden.  

Insbesondere mit Blick auf das Verfahren nach Art. 7 des Vertrages der Europäischen Union (EUV) sieht der Generalanwalt dies hier als erfüllt an: Als Haushaltsvorschrift ähnelt die neue Verordnung vor allem anderen Instrumenten der finanziellen Konditionalität und der Haushaltsführung. Insoweit unterscheide sie sich von Art. 7 EUV.  

Diese Komplementarität zu bestehenden Sanktionsmechanismen ist aus Sicht der EU besonders wichtig, da die bisherigen Verfahren ihrer Ansicht nach nicht ausreichen. Sie hofft nun, mit diesem zusätzlichen Instrument besser auf Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze reagieren zu können.  

Klare Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedstaaten 

Zudem verfügen die Mitgliedstaaten nach Ansicht des Generalanwalts auch über einen "hinreichenden Kenntnisstand" über die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit, die sie nunmehr zum Schutz des unionalen Haushalts erfüllen müssen. So zählt die Verordnung unter anderem sieben Rechtsgrundsätze – von transparenten Gesetzgebungsverfahren bis zum Gleichheitssatz – auf und enthält eine indikative Liste von möglichen Rechtsstaatsverstößen.  

Daneben ist auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) von besonderer Bedeutung: Dieser hat in zahlreichen Urteilen bereits verschiedene Aspekte der Rechtsstaatlichkeit durchdekliniert und entsprechende Vorgaben präzisiert, etwa zur Bedeutung und Ausgestaltung der richterlichen Unabhängigkeit (Verfahren gegen Polen: Urt. v. 05.11.2019, Az. C-192/18; v. 24.06.2019, Az. C-619/18 und zu Rechtswirkungen einer Ausweisung: Urt. v. 22.06.2021, Az. C-719/19).  

Weitere Entscheidungen zu verschiedenen Fragen der Rechtsstaatlichkeit sind zu erwarten. Hieran dürfte sich die Kommission auch bei der Anwendung der neuen Verordnung orientieren.

Baldige Umsetzung der finanziellen Sanktionen zu erwarten

Nach diesen eindeutigen Schlussanträgen ist damit zu rechnen, dass auch der EuGH in seinem Urteil die Vereinbarkeit der Verordnung mit dem Unionsrecht feststellen wird. Damit wird diese eine wichtige Hürde nehmen: Zwar hatten sich Parlament und Rat auf diese neue Verordnung in zähen Verhandlungen und letztlich im Gesamtpaket mit der Verständigung über den mehrjährigen Finanzrahmen sowie den Wiederaufbaufonds geeinigt.  

Allerdings verständigte sich der Europäische Rat auch darauf, dass die Kommission erst nach einer Entscheidung des EuGH über die Rechtmäßigkeit der Verordnung konkrete Sanktionsmaßnahmen vorschlagen soll.  

Auch wenn es sich hierbei um eine rein politische (und rechtlich nicht bindende) Absichtserklärung handelt, hat die Kommission in der Tat noch immer keine konkreten Sanktionsmaßnahmen in die Wege geleitet. Sie bereitet solche Maßnahmen derzeit nur mit zwei Auskunftsersuchen an Polen und Ungarn vor. Das europäische Parlament kritisiert diese schleppende Umsetzung schon lange und hat kürzlich sogar eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission eingereicht.    

Polen und Ungarn seit Jahren in der Kritik

Zwar ist weiter fraglich, ob die Konditionalitätsverordnung allein ausreicht, um den Rechtsstaat in der gesamten EU zu schützen. Sie könnte aber tatsächlich Bewegung in die Diskussion um den Schutz der Rechtsstaatlichkeit insbesondere in Polen und Ungarn bringen.  

Beide Staaten stehen seit Jahren wegen zahlreicher Justizreformen in der Kritik. Die bisher ergriffenen Maßnahmen auf EU-Ebene – Resolutionen, Vertragsverletzungsverfahren und die derzeit blockierten Verfahren nach Art. 7 EUV – waren aber bisher nicht erfolgreich. De facto hat sich die Rechtsstaatskrise in den letzten Jahren also weiter verschärft. Dies zeigte sich erst kürzlich an der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, mit dem es den Vorrang der Landesverfassung vor wichtigen Bestandteilen des Unionsrechts feststellte (Urt. v. 7.10.2021, Verfahren K 3/21).  

Da die EU mit dieser neuen Verordnung nun schneller reagieren und vor allem empfindlichere Strafen verhängen kann, könnte sie in Zukunft tatsächlich in den betroffenen Mitgliedstaaten stärker Gehör finden. Dadurch kann die Union nicht nur ihren Haushalt und die Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten besser schützen, sondern auch allgemein ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz verbessern.  

Letztlich sind Sanktionen der EU aber kein Allheilmittel – es liegt auch an den Bürgerinnen und Bürgern selbst, die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze von ihren Regierungen und Abgeordneten einzufordern.   

Dr. Malte Symann ist Rechtsanwalt bei Freshfields Bruckhaus Deringer, promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema "Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht" und wurde vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) als Sachverständiger in Rechtsstaatsfragen berufen.

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Schlussanträge zu Klagen Ungarns und Polens: Der Rechtsstaat wehrt sich . In: Legal Tribune Online, 03.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46832/ (abgerufen am: 19.05.2022 )

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