Unterschiedliche Schutzlevel: Wie viele Wölfe braucht Europa?

von Mathilde Harenberg

13.12.2024

In manchen EU-Ländern wie Estland ist der Wolf weniger streng geschützt als in anderen Mitgliedstaaten. Geregelt ist das in der Habitatrichtlinie, die eine Grundsatzfrage aufwirft, welche jetzt der EuGH klären muss.

Der Schutz von Wölfen richtet sich in den europäischen Mitgliedstaaten nach der sogenannten Habitatrichtlinie (Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenen Tiere und Pflanzen). Während der Wolf in vielen Mitgliedstaaten den strengen Schutz nach Art. 12 der Habitatrichtlinie genießt, der unter anderem die Jagd von Wölfen grundsätzlich verbietet, gilt in Estland der schwächer ausgeprägte Schutz nach Art. 14 der Richtlinie.

Nach diesem niedrigeren Schutzlevel ist die Jagd zwar grundsätzlich zulässig, jedoch muss der Mitgliedstaat Schutzmaßnahmen treffen, falls die Aufrechterhaltung eines "günstigen Erhaltungszustands" gefährdet ist. Aber wie genau ist der günstige Erhaltungszustand festzustellen? Das ist Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens von Estlands höchstem Gericht an den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der muss eine Grundsatzfrage klären, zu denen die Generalanwältin Juliane Kokott jetzt die Schlussanträge gestellt hat.

Habitatrichtlinie: Was wie geschützt werden muss

Ziel der Habitatrichtlinie ist es, die Artenvielfalt durch die Erhaltung natürlicher Lebensräume und wildlebender Tiere und Pflanzen besser zu schützen. Hierfür sollen günstige Erhaltungszustände der natürlichen Lebensräume und wildlebender Tier- und Pflanzenarten, die von "gemeinschaftlichem Interesse sind", bewahrt oder wiederhergestellt werden. Wird der Erhaltungszustand einer solchen Art gefährdet oder beeinträchtigt, kann das dazu führen, dass Mitgliedstaaten bestimmte Handlungen nicht vornehmen dürfen. In schweren Fällen müssen die Mitgliedstaaten sogar selbst aktiv werden, um einen günstigen Erhaltungszustand zu wahren.

Arten von gemeinschaftlichem Interesse sind laut der Richtlinie vor allem solche Arten, die (potenziell) bedroht oder selten sind. Zum Erhaltungszustand einer Art gehören danach alle Einflüsse, die sich langfristig auf die Verbreitung und Größe der Population der Art in diesem Gebiet auswirken können. Der Erhaltungszustand ist nach der Richtlinie "günstig", wenn Daten über die Population der Art ergeben, dass die Art in ihrem natürlichen Lebensraum lebensfähig ist und das auch langfristig bleiben wird.

Grundsatzfrage: Wie berechnet man den günstigen Erhaltungszustand?

Das Vorabentscheidungsverfahren aus Estland kam nun zustande, weil die gemeinnützige Organisation MTÜ Eesti Suurkiskjad (Gemeinnützige Organisation Estnische Großraubtiere) Klage gegen eine Verfügung des estländischen Umweltamts erhob, die eine Wolfsjagdquote festlegen sollte. Der Rechtsstreit hierüber führte letztendlich dazu, dass das Oberste Gericht Estlands in einem Vorabentscheidungsverfahren den EuGH um die Beantwortung folgender Fragen bat:

  1. Inwieweit sind Populationen außerhalb von Estland bei der Beurteilung des Erhaltungszustands zu berücksichtigen?
  2. Ist für die Berücksichtigung von Populationen in anderen Mitgliedstaaten eine förmliche Vereinbarung zwischen diesen Mitgliedstaaten notwendig?
  3. Welche Bedeutung hat die Einstufung einer Population als "gefährdet" durch die Weltnaturschutzunion?
  4. Kann den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie regionaler und örtlicher Besonderheiten bei der Feststellung des Erhaltungszustands Rechnung getragen werden?

Alle Fragen zielen darauf ab, zu kären: Wie berechnet man einen günstigen Erhaltungszustand? Oder noch einfacher ausgedrückt: Wann kann man davon ausgehen, dass es genug Wölfe in Europa gibt?

Es kommt auf jedes EU-Land an

In ihren Schlussanträgen nimmt die Generalanwältin Kokott zu diesen Fragen Stellung. Der EuGH ist an die Schlussanträge des Generalanwalts generell nicht gebunden, er folgt ihnen aber recht oft.

Auf die ersten zwei Fragen gibt es laut Kokott eine konkrete Antwort: Jeder Mitgliedstaat müsse auf seinem Gebiet einen günstigen Erhaltungszustand der Art gewährleisten. Sich darauf verlassen, dass es in einem EU-Nachbarland schon genug Wölfe geben werde, dürften sie sich demnach nicht.

Für die Beurteilung des Erhaltungszustands müssen die Mitgliedstaaten laut Kokott auch den Austausch zwischen den eigenen Populationen und den Populationen in anderen Staaten berücksichtigen. Wie es zu bewerten ist, wenn ein Wolfsrudel regelmäßig Ländergrenzen überschreitet, hänge dabei davon ab, wie stark die anderen Populationen geschützt sind und wie eng die beiden Mitgliedstaaten beim Schutz der Art zusammenarbeiten.

Welche Rolle spielen Wissenschaft und Regionales beim Schutz des Wolfes?

Bei der Antwort auf die dritte Frage wird Kokott vage. Dass die Kriterien der Weltnaturschutzunion (International Union for Conversation of Nature and Natural Ressources, IUCN) einzubeziehen sind, sehe die Habitatrichtlinie zwar nicht ausdrücklich vor. Bei der Prüfung müssten aber die "besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und Methoden verwendet werden", so Kokott. Und hierzu zähle auch die sogenannte Rote Liste der Weltnaturschutzorganisation, wonach Tiere als "gefährdet" eingestuft werden können.

Die vierte Frage, ob die regionale Wirtschaft, Gesellschaft oder Kultur Umstände sind, die sich auf die Beurteilung des Erhaltungszustands einer Art auswirken könnten, bejaht Kokott. Das dürfe aber nicht dazu führen, den Erhaltungszustand einer Art als "günstig" anzusehen, obwohl er das nach objektiven Kriterien gar nicht mehr ist.

Zuletzt verweist die Generalanwältin noch darauf, dass Estland nach dem Berner Übereinkommen völkerrechtlich sowie unionsrechtlich verpflichtet sei, den Wolf streng zu schützen.

Mit einer Entscheidung des EuGH ist in einigen Monaten zu rechnen.

Zitiervorschlag

Unterschiedliche Schutzlevel: . In: Legal Tribune Online, 13.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56110 (abgerufen am: 20.01.2025 )

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