Die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten wollen die Vorratsdatenspeicherung – unbedingt. Der EuGH hält die nur unter engen Voraussetzungen für möglich. Am Montag verhandelt die Große Kammer in fünf Fällen.
Anfang der kommenden Woche geht es vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) um die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland, Irland und Frankreich – gleich fünf Fälle haben sich die Luxemburger Richterinnen und Richter zur Verhandlung vorgenommen. Die Vorratsdatenspeicherung ist bei Strafverfolgern so begehrt wie bei Datenschützern verpönt, ein seit Jahren heftig umstrittenes Thema.
Die Vorratsdatenspeicherung erlaubt Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, auf Internet- und Telefondaten zuzugreifen, die private Telekommunikationsanbieter zu diesem Zweck auf Vorrat speichern müssen. Es geht dabei nicht um die Inhalte von Gesprächen oder Nachrichten, aber um Verbindungs- und Standortdaten, mit denen sich etwa nachvollziehen lässt, wer wann mit wem telefoniert hat, in welcher Funkzelle sich das jeweilige Gerät befand und um IP-Adressen.
Der EuGH hat bereits in mehreren Entscheidungen seine Linie deutlich gemacht: Ausgeschlossen sind Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung nicht, aber die Hürden sind hoch, nach Ansicht der EU-Kommission und der Mitgliedstaaten viel zu hoch. In Deutschland ist die Speicherpflicht nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Nordrhein-Westfalen seit 2017 ausgesetzt, die gesetzlichen Regelungen könnten aber nach einer gerichtlichen Klärung in Kraft treten. Die Bundesregierung betonte erst kürzlich, sie wolle vor einer etwaigen Reform die Verfahren vor dem EuGH abwarten. Zudem liegen mehrere Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Auch in Karlsruhe dürfte man die anstehenden Entscheidungen des EuGH deshalb interessiert verfolgen.
Schon in den vergangenen Wochen hatte sich abgezeichnet, dass nun noch einmal grundsätzlich über die Vorratsdatenspeicherung diskutiert wird: Alle fünf Fälle gehen vor die Große Kammer des EuGH.
Deutsche Speicherpflichten, ein irischer Mordfall und französische Geldwäsche-Ermittlungen
Die 15 Richterinnen und Richter haben nun die Möglichkeit, gleich eine ganze Reihe offener Fragen zur Vorratsdatenspeicherung zu klären. Denn in den Ausgangsfällen geht es nicht nur um die deutschen Speicherpflichten für Internetanbieter, sondern auch um einen Mordfall in Irland und um Ermittlungen zu Geldwäsche und Insidergeschäften.
Über die deutsche Vorratsdatenspeicherung wird am Montag ab neun Uhr verhandelt. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) will vom EuGH wissen, ob die Regelung gegen Unionsrecht (konkret gegen die Datenschutzrichtlinie 2002/58 für elektronische Kommunikation, kurz E-Privacy-Richtlinie) verstößt – wobei die Leipziger Richterinnen und Richter eher Zweifel an einem generellen Verbot erkennen lassen. Hinter dem Vorlageverfahren stehen Klagen des Internetproviders SpaceNet und der Telekom, beide sind der Meinung, dass sie nicht zur Speicherung verpflichtet werden dürfen (Az. C-793/19 und C-794/19).
Der EuGH hat nun kurzfristig noch eine weitere Rechtssache damit verbunden, über die er ebenfalls am Montag verhandelt. Dabei geht es um ein Vorlageverfahren des irischen Supreme Court. Hintergrund ist ein Mordfall, der wegen seiner Grausamkeit die irische Öffentlichkeit geschockt hat: Im März 2015 hatte eine Jury den mutmaßlichen Täter schuldig gesprochen, er habe im August 2012 eine – offenbar psychisch labile – Frau ermordet, um seine sexuellen Fantasien zu befriedigen. In dem Prozess spielten Telefondaten eine Rolle, die auf Vorrat gespeichert worden waren. Im derzeit anhängigen Berufungsverfahren will der angeklagte Mann nun geltend machen, dass diese Daten nicht als Beweis hätten verwendet werden dürfen.
Der irische Supreme Court möchte nun vom EuGH wissen, welche Anforderungen das Unionsrecht an die Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Bekämpfung der schweren Kriminalität stellt. Es geht dabei - anders als in dem deutschen Fall - vor allem um die Frage, inwiefern entsprechende Daten verwendet werden dürfen und was im Falle der Ungültigkeit des damals geltenden irischen Gesetzes passiert.
Am Dienstag verhandelt die Große Kammer dann zwei Fälle, die der französische Court de cassation vorgelegt hat. Dabei geht es um die Frage, ob spezielle Vorgaben des Unionsrechts – nämlich die Marktmissbrauchsverordnung Nr. 596/2014 bzw. die durch sie abgelöste Richtlinie 2003/6 – dem nationalen Gesetzgeber erlauben, die Vorratsdatenspeicherung anzuwenden.
Die Fragen an die Verfahrensbeteiligten zeigen: Der EuGH fühlt sich unverstanden
Ursprünglich war die Verhandlung zu den deutschen Speicherpflichten für Ende Juni angesetzt, verhandeln sollte die 2. Kammer des EuGH mit drei Richterinnen und Richtern. Dabei schien es zunächst so, als ob es lediglich um eine Konkretisierung der beiden Entscheidungen des EuGH vom Oktober 2020 (Urt. v. 06.10. 2020, Az. C-511/18 u.a.) und März 2021 (Urt. v. 02.03.2021, Az. C-746/18) ging. Der Gerichtshof bat die Parteien zunächst nur, sich bei ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung auf die Frage zu konzentrieren, welche Bedeutung diese Entscheidungen für die Erörterung der Vorlagefragen hätten.
Inzwischen ist aber klar, dass es in der mündlichen Verhandlung am Montag eine sehr grundsätzliche Diskussion geben wird: Die Große Kammer hat mehr als vier Stunden Redezeit angesetzt, um die Parteien und die weiteren Beteiligten zu Wort kommen zu lassen – neben Deutschland und Irland sind auch zwölf weitere EU-Mitgliedstaaten, die EU-Kommission und der EU-Datenschutzbeauftragte dem Verfahren beigetreten.
Zudem haben die Richterinnen und Richter umfangreiche weitere Fragen an die Parteien und Beteiligten gestellt, die in der mündlichen Verhandlung erörtert werden sollen – und die zeigen, dass sich der EuGH mit seiner restriktiven Haltung zunehmend isoliert, womöglich unter Druck gesetzt, zumindest aber unverstanden fühlt. Die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten setzen sich seit Jahren vehement für die Vorratsdatenspeicherung ein und von den nationalen Gerichten kann der EuGH nicht viel Schützenhilfe erwarten – im Gegenteil. Der französische Conseil d'État hat in einer Entscheidung vom April die offene Konfrontation mit dem EuGH nur geradeso vermieden und den französischen Behörden eine weitgehende Anwendung der Vorratsdatenspeicherung ermöglicht.
Die Fragen, die der EuGH nun vorab an die Verfahrensbeteiligten richtet und die LTO vorliegen, haben schon fast suggestiven Charakter. So betont der EuGH, dass er es nun mal für seine Aufgabe hält, die Verhältnismäßigkeit der mitgliedstaatlichen Regelungen im Sinne der E-Privacy-Richtlinie zu kontrollieren: "Falls der Gerichtshof nicht überprüfen könnte, dass nationale Rechtsvorschriften, die eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung dieser Daten vorsehen, die genannten Bestimmungen beachten, wie könnte der Gerichtshof dann über die umfassende Achtung der Rechte wachen, die in den Art. 7, 8 und 11 der Charta verankert sind, von denen Letzterer eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft darstellt, die zu den Werten gehört, auf die sich gemäß Art. 2 EUV die Union gründet?"
Findet die Große Kammer einen Weg aus dem Dauerkonflikt?
Ob die Große Kammer nun vorhat, den Beteiligten entgegenzukommen, oder ob sie sich mit einem restriktiven Urteil gegen die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission durchsetzen wird, ist freilich noch offen.
Offenbar will der EuGH den Dauerkonflikt mit den Mitgliedstaaten und der EU-Kommission aber jedenfalls gründlich aus dem Weg räumen – ohne seine bisherige Rechtsprechung aufzugeben. Ein entscheidender Punkt könnte die Dauer der Speicherfristen werden. In Deutschland beträgt sie zurzeit zehn Wochen, für Standortdaten vier Wochen. Auch diese Frage will der EuGH am Montag diskutieren: "Unter welchen Umständen könnte sich im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesen Urteilen die Begrenzung der Dauer der Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten auf die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Charta auswirken?" Zudem soll es um die Frage gehen, inwiefern für Verkehrsdaten und Standortdaten das gleiche Schutzniveau sicherzustellen ist.
Nach der Verhandlung wird es allerdings einige Monate dauern, bis der Generalanwalt seine Schlussanträge vorlegt und weitere Monate, bis der EuGH seine Entscheidung verkündet.
Verhandlung zur Vorratsdatenspeicherung: . In: Legal Tribune Online, 10.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45981 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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