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45274

EuGH zu Ausweisung von Unionsbürgern: Bloße Aus­reise genügt nicht

Gastbeitrag von Karoline Dolgowski und Dennis Traudt

22.06.2021

Die Grenze der Europäischen Union (Symbolbild)

mirsad - stock.adobe.com

Eine Ausweisungsverfügung kann erst bei einer tatsächlichen Beendigung des Aufenthalts im betreffenden Mitgliedstaat als vollstreckt angesehen werden, so der EuGH. Wann das der Fall ist, erläutern Karoline Dolgowski und Dennis Traudt.

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Am Dienstag beantwortete der Europäische Gerichtshof (EuGH) die schon länger umstrittene Frage nach den Rechtswirkungen einer Ausweisung, die nicht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit erfolgt, sondern weil die Voraussetzungen eines vorübergehenden Aufenthaltsrechts nicht mehr vorliegen (Urteil vom 22.06.2021, Rs. C‑719/19).

Grundsätzlich dürfen sich Unionsbürger innerhalb der Union frei bewegen. Gem. Art. 6 der Freizügigkeitsrichtlinie (FreizügRL) dürfen sie sich bis zu drei Monate in einem anderen Staat der Europäischen Union (EU) aufhalten und benötigen hierzu lediglich einen gültigen Personalausweis (kurzfristiges Aufenthaltsrecht).

Will sich ein Unionsbürger länger als drei Monate in einem anderen EU-Staat aufhalten, muss er entweder dort arbeiten oder über ausreichende Existenzmittel für sich und seine Familie verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts Sozialhilfeleistungen nicht übermäßig in Anspruch nehmen müssen (Art. 7 FreizügRL). Erfüllt ein Unionsbürger diese Voraussetzungen nicht, kann er von dem Aufnahmestaat gem. Art. 15 Abs. 1 FreizügRL ausgewiesen werden.

Neues Aufenthaltsrecht erst bei tatsächlicher und wirksamer Beendigung des vorherigen Aufenthalts

Der EuGH stellt nun klar, dass dem betroffenen Unionsbürger ein neuerliches Aufenthaltsrecht erst dann wieder zusteht, wenn er den Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich und wirksam beendet hat. Zum Verhältnis der Rechte aus Art. 4-7 und Art. 15 äußert sich der EuGH aber nur zwischen den Zeilen.

Dem Urteil liegt ein Rechtsstreit zwischen dem polnischen Staatsangehörigen FS und dem niederländischen Staat zugrunde. Die Niederlande wiesen FS, nachdem er sein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 FreizügRL verloren hatte, gem. Art. 15 Abs. 1 FreizügRL aus den Niederlanden aus. FS verließ die Niederlande und wohnte vorübergehend bei Freunden in Deutschland. Einen Monat später griff ihn die Polizei wegen eines mutmaßlichen Ladendiebstahls in den Niederlanden auf. Da er keine Ausweisdokumente bei sich führte und die Polizei befürchtete, dass er sich der Ausländerkontrolle und insbesondere der Ausweisung entziehen würde, nahm sie FS in Verwaltungshaft.

Ausweisungsverfügung durch Stippvisite erloschen?

Gegen diese Festnahme klagte der FS vor den niederländischen Gerichten. Der niederländische Raad van State (Staatsrat) legte den Fall dem EuGH vor.

Die Richter wollen wissen, ob ein Unionsbürger, nachdem er den Aufnahmemitgliedstaat verlassen hat, sofort wieder in diesen zurückkehren kann, um sich erneut auf ein kurzfristiges Aufenthaltsrecht zu berufen.

Falls dies nicht der Fall ist, soll der EuGH die Frage beantworten, wie lange ein Unionsbürger sich außerhalb des Hoheitsgebiets des ausweisenden Staates aufhalten muss, bevor er zurückkehren darf.

Die Freizügigkeit als Grundlage der Union

In der Sache geht es um die bis dahin vom EuGH ungeklärte Frage nach den Rechtswirkungen einer Ausweisung aus anderen Gründen als denen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gem. Art. 15 Abs. 1 FreizügRL, die als solche das Freizügigkeitsrecht des Betroffenen beschränkt.

Dem Recht der Unionsbürger, in andere Mitgliedstaaten ein- und auszureisen und sich dort vorübergehend oder dauerhaft aufzuhalten, kommt dabei ein hoher Stellenwert zu. Das vom EuGH sowie in verschiedenen Richtlinien und Verordnungen entwickelte Freizügigkeitsrecht wurde 2004 in der FreizügRL vereinheitlicht und ist in Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie Art. 45 Abs. 1 der Grundrechtecharta auch auf Ebene des Primärrechts kodifiziert.

Die Richtlinie soll zwar vornehmlich die Rechte der Unionsbürger und ihrer Familienmitglieder stärken und enthält daher in ihren Artikeln 4 bis 7 auch zunächst die verschiedenen Ausprägungen des Freizügigkeitsrechts. Sie respektiert jedoch auch die Zu- und Abwanderungskontrolle der Mitgliedstaaten als deren grundlegende Souveränitätsrechte. Solche mitgliedstaatlichen Maßnahmen sind wiederum im Lichte des primärrechtlichen

Freizügigkeitsrechts auszulegen. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung führt dies aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Personenfreizügigkeit für die Union zu einer restriktiven Auslegung von Beschränkungen.

Physisches Verlassen allein genügt nicht

Der EuGH stellt nun jedoch klar, dass die bloße physische Ausreise eines Unionsbürgers aus dem Hoheitsgebiet des ausweisenden Staates nicht genügt, um die Ausweisungsverfügung als vollständig vollstreckt anzusehen.

Genau wie Generalanwalt Rantos in seinen Schlussanträgen ist auch der EuGH der Auffassung, dass den besonderen Voraussetzungen des vorübergehenden Aufenthaltsrechts nach Art. 6 FreizügRL und insbesondere dem Durchsetzungsinstrument der Ausweisung aus Art. 15 Abs. 1 FreizügRL ansonsten die praktische Wirksamkeit genommen würde.

Eine Auslegung, nach der die bloße Ausreise genügen würde und sich der Unionsbürger anschließend gegenüber dem Aufnahmestaat wieder auf sein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 FreizügRL berufen könnte, würde eine Umgehung der zeitlichen Begrenzung des Aufenthaltstitels nach Art. 6 FreizügRL darstellen. Der Unionsbürger könnte einen faktischen Daueraufenthalt begründen, ohne die besonderen Voraussetzungen der Art. 16ff. FreizügRL zu erfüllen.

Diese Schlussfolgerung des EuGH war letztlich unumgänglich, hätte er doch bei anderer Auslegung das Freizügigkeitssystem der EU grundsätzlich in Frage gestellt. Dieses gewährleistet eine weitgehend uneingeschränkte Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarkts und ohne Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums. Deshalb kann es den Mitgliedstaaten nicht ihr einziges Mittel zum Schutz ihrer Sozialhilfesysteme vor unangemessener Inanspruchnahme durch Unionsbürger und deren Familienangehörige während eines vorübergehenden Aufenthalts nehmen.

Kriterien für Beendigung des Aufenthaltsrechts

Reicht die physische Ausreise allein nicht aus, stellt sich die Frage, wann die Ausweisungsverfügung als vollständig vollstreckt anzusehen ist und sich der Betroffene erneut auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 FreizügRL berufen kann. Der EuGH stellt sich auf den Standpunkt, dass das erst dann der Fall ist, wenn der Betroffene seinen Aufenthalt tatsächlich und wirksam beendet.

Erforderlich ist eine umfassende Würdigung der Einzelfallumstände. Der vorübergehende Aufenthalt außerhalb des Aufnahmestaates stellt dabei nur ein Kriterium der Gesamtwürdigung dar.

Insbesondere eine pauschalisierte Mindestdauer eines solchen Aufenthalts, wie von den Niederlanden gefordert, sieht der Gerichtshof als unvereinbar mit der fundamentalen Bedeutung der Freizügigkeit an. Diese Schlussfolgerung erscheint zwingend, würde doch ein anderes Verständnis zu einem faktischen Einreise- bzw. Aufenthaltsverbot führen, was der Wertung des Art. 15 Abs. 3 FreizügRL widerspricht. Stattdessen gibt der EuGH den nationalen Behörden und Gerichten Kriterien an die Hand, nach denen die tatsächliche und wirksame Beendigung des Aufenthalts zu bewerten ist. Hierbei nennt er insbesondere solche Kriterien, die auf eine Auflösung der Bindung zwischen dem betreffenden Unionsbürger und dem ausweisenden Mitgliedstaat schließen lassen, beispielsweise die Kündigung eines bestehenden Mietvertrags.

Fortwirkung der Ausweisungsverfügung lässt Aufenthaltsrecht aus Art. 7 unberührt

In der Praxis bedeutet dies, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, eine erneute Ausweisungsverfügung zu erlassen, wenn der Unionsbürger zuvor seinen Aufenthalt nicht tatsächlich und wirksam beendet hat. Allerdings muss der Staat in einem solchen Fall umfassend prüfen, ob eine tatsächliche Beendigung vorliegt und dem Unionsbürger gegebenenfalls ein erneutes Aufenthaltsrecht nach Art. 6 FreizügRL zusteht. Die Behörden des Aufnahmestaates können sich dabei nicht pauschal auf die vorangegangene Ausweisungsverfügung berufen, um ein etwaiges Aufenthaltsrecht zu verweigern.

Interessant ist die Klarstellung des EuGH, dass der Unionsbürger sich jederzeit auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 FreizügRL berufen kann, wenn er aufgrund einer materiellen Änderung seiner Umstände dessen Voraussetzungen nunmehr erfüllt.

Damit äußert sich der EuGH implizit auch zum Verhältnis zwischen Art. 6 und 7 FreizügRL: Ein Unionsbürger, der sämtliche Voraussetzungen des Art. 7 FreizügRL erfüllt, kann sich jederzeit auf sein Aufenthaltsrecht aus diesem berufen. Das Aufenthaltsrecht aus Art. 6 FreizügRL steht ihm erst dann wieder zu, wenn er den Aufnahmestaat zuvor tatsächlich und wirksam verlassen hat. Diese Lösung wird dem abgestuften System für das Aufenthaltsrecht in der EU gerecht.

Ausgewogenes Verhältnis zwischen Freizügigkeit und Schutz der Sozialhilfesysteme der Mitgliedstaaten

Dem EuGH gelingt mit dem vorliegenden Urteil ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Freizügigkeitsrecht als Kerngarantie ihrer Unionsbürgerschaft und dem berechtigten Interesse der Mitgliedstaaten zum Schutz ihrer Sozialhilfesysteme vor unangemessener Inanspruchnahme.

Dabei liefert er eine wertvolle Präzisierung des Ausweisungsrechts der Mitgliedstaaten aus Art. 15 Abs. 1 FreizügRL. Eine Klärung des Verhältnisses zwischen den Art. 6 und 7 FreizügRL klingt zwar in den Entscheidungsgründen an, bedarf aber einer weiteren Klarstellung. Hier bleibt also abzuwarten, ob und wie der EuGH seine Rechtsprechung weiter präzisiert.

Wie so häufig hält der EuGH kein allgemeingültiges Rezept parat, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten zu einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls. Hierzu gibt er ihnen aber eine Reihe an Kriterien an die Hand, nach denen eine Gesamtwürdigung aller Umstände gelingen kann.

Ass. iur. Karoline Dołgowski, Master II en droit (Lille-Warwick) ist Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht von Prof. Dr. Thomas Giegerich (Universität des Saarlandes). Ihre wissenschaftlichen Interessen gelten dem Europarecht, sowie den Grundlagen des Völkerrechts, insbesondere dem Recht der internationalen Organisationen.

Dipl. Jur. Dennis Traudt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand ebenda. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf dem Europarecht, insbesondere den auswärtigen Beziehungen der EU.

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EuGH zu Ausweisung von Unionsbürgern: Bloße Ausreise genügt nicht . In: Legal Tribune Online, 22.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45274/ (abgerufen am: 30.05.2023 )

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