Wie alle EU-Staaten hätten auch Ungarn, Polen und Tschechien ab 2015 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufnehmen müssen. Das entschied jetzt der EuGH. Christian Rath erläutert das Urteil, das rückwirkend keine Auswirkungen hat.
Die Entscheidung kam nicht wirklich überraschend: Schon 2017 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland gebilligt. Nun hat er faktisch die damalige Entscheidung in einer neuen Konstellation bestätigt.
Die Umverteilung von Flüchtlingen wurde auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms im Jahr 2015 beschlossen. Vor allem die Länder an den EU-Außengrenzen waren überlastet. Nach den Regeln der Dublin-III-Verordnung hätten sie den größten Anteil der Asylverfahren durchführen müssen.
Im September 2015 beschloss daher der EU-Ministerrat, Griechenland und Italien zu entlasten. In zwei Rechtsakten (Beschlüsse (EU) 2015/1523 und (EU) 2015/1601) einigten sich die EU-Staaten auf die Umverteilung von zunächst 40.000 Flüchtlingen und dann weiteren 120.000 Flüchtlingen binnen zwei Jahren.
Im Ergebnis wurde dann aber nur rund 35.000 Flüchtlinge umverteilt. Deutschland nahm in diesem Verfahren rund 9.000 Menschen auf. Anfangs stellten viele Flüchtlinge in Italien und Griechenland gar keine Asylanträge, sondern schlugen sich auf eigene Faust Richtung Deutschland und Skandinavien durch. Außerdem war das Umverteilungsprogramm auf Flüchtlinge begrenzt, die aus Ländern mit Anerkennungsquoten über 75 Prozent stammen, zum Beispiel Syrien.
Generelle Verweigerung in Osteuropa
Die osteuropäischen EU-Staaten nahmen aber eine generelle Verweigerungshaltung ein. Ungarn und Polen akzeptierten im Rahmen des Programms keinen einzigen Flüchtling, Tschechien nur 12 Personen.
Ungarn und die Slowakei klagten damals sogar gegen die EU-Beschlüsse und wurden dabei von Polen als Streithelfer unterstützt. Doch im September 2017 stellte der EuGH fest (Urt. v. 06.09.2017, Az. C-643/15 und C-647/15), dass die Umverteilungsbeschlüsse rechtmäßig gewesen seien. Die Rechtsgrundlage in den EU-Verträgen - Art. 78 Abs. 3 AEUV - sei ausreichend. Die Umverteilung als Verordnung auszugestalten, sei nicht notwendig gewesen. Finanzielle Hilfen an Italien und Griechenland wären zudem weniger geeignet als eine Umverteilung von Flüchtlingen, so die Luxemburger Richter damals.
Polen, Ungarn und dann auch Tschechien weigerten sich trotzdem weiterhin, Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen. Deshalb erhob die EU-Kommission im Dezember 2017 drei Vertragsverletzungsklagen beim EuGH. Die drei Staaten hatten sich auf ihr Recht gemäß Art. 72 AEUV berufen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Dieses habe Vorrang vor EU-Beschlüssen. Sie befürchteten, dass sich unter den Flüchtlingen auch Gewalttäter und Terroristen befinden könnten, argumentierten sie.
Solidarität zeigen, auch wenn man die Maßnahmen für ineffizient hält
Der EuGH (Urt. v. 02.04.2020, Az. C-715/17, C-718/17 und C-719/17) befand am Donnerstag jedoch, dass die Mitgliedstaaten nach den angegriffenen Beschlüssen zwar die Aufnahme von konkreten Personen verweigern können, wenn sie "objektive und eindeutige" Beweise für deren Gefährlichkeit haben. Sie könnten die Aufnahme von Flüchtlingen aber nicht generell aufgrund bloßer Befürchtungen und aus Gründen der Generalprävention ablehnen. Die Mitgliedstaaten hätten vor Ort immerhin Sicherheitsgespräche mit den zur Umsiedlung vorgesehenen Flüchtlingen führen können, dabei seien sie durch Europol unterstützt worden, so die Luxemburger Richter.
Der EuGH ließ auch den tschechischen Einwand nicht gelten, dass der Umverteilungsmechanismus "ineffizient" gewesen sei. Ein Mitgliedstaat könne sich nicht mit dem bloßen Vorwurf der Ineffizienz aus einer Maßnahme verabschieden, der das Ziel der europäischen Solidarität zugrunde liegt. Die Umverteilung von Flüchtlingen sei ein "noch nie dagewesener und komplexer Vorgang" gewesen. Probleme hätten "im Geist der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens" gelöst werden können - wie es anderen Staaten ja auch gelungen sei.
Nachträglich werden jetzt keine Flüchtlinge mehr umverteilt
Das EuGH-Urteil hat vor allem politische Bedeutung. Polen, Ungarn und Tschechien wurde verdeutlicht, dass sie ihre Pflichten als EU-Mitgliedstaaten verletzt haben. Eine unmittelbare Pflicht, nun doch noch Flüchtlinge aus dem Umverteilungsprogramm aufzunehmen, ergibt sich aus der EuGH-Entscheidung aber nicht. Die EU-Kommission will auch keine neue Klage gegen Polen, Ungarn und Tschechien anstrengen, da das Umverteilungsprogramm von 2015 nicht mehr in Kraft ist. Damit könnte die EU-Kommission auch keine Zwangsgelder und Pauschalbeträge gemäß Art. 260 AEUV gegen die drei Staaten beantragen.
Entsprechend ist wohl nicht damit zu rechnen, dass sich die drei verurteilten Staaten noch beeindruckt zeigen werden. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis etwa sagte: "Wir haben diese juristische Auseinandersetzung zwar verloren, aber das ist nicht wichtig." Entscheidend sei, "dass wir keine Migranten aufnehmen werden und dass das Quotenprojekt in der Zwischenzeit beendet wurde - und das hauptsächlich dank uns."
EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen sagte in einer ersten Reaktion: "Das Urteil ist wichtig. Es bezieht sich auf die Vergangenheit, aber es wird uns eine Leitlinie für die Zukunft sein". Nach Ostern will die Kommission ihren Vorschlag für einen Migrations- und Asylpakt vorlegen. Er soll einen Durchbruch bei den jahrelangen Verhandlungen um eine generelle EU-Regelung zur Verteilung von Flüchtlingen bringen.
Konkrete Vorgaben zur Ausgestaltung der Neuregelung lassen sich der EuGH-Entscheidung nicht entnehmen. Die Schaffung neuer Regeln im EU-Asylrecht ist zunächst eine politische Frage. Obwohl keine Einstimmigkeit mehr erforderlich ist, war es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, Mehrheiten für eine Abkehr vom System der Dublin-III-Verordnung zu bekommen, das einseitig die Staaten an den EU-Außengrenzen belastet.
EuGH-Urteil zur Flüchtlingsumverteilung: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41204 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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