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EuGH-Urteil zu Illumina/Grail: Rechts­si­cher durch die Fusi­ons­kon­trolle?

Gastbeitrag von Christian Horstkotte

20.09.2024

Die scheidende EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager bei einer Konferenz im September 2022

2021 entwickelte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager eine kreative Praxis bei der Fusionskontrolle, die aber gegen Unionsrecht verstößt. picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Olivier Matthys

Anfang September wies der EuGH die EU-Kommission für ihr kreatives Vorgehen bei der Fusionskontrolle in ihre Schranken. Dennoch wird die neue Wettbewerbskommissarin wohl an der bisherigen Strategie festhalten, meint Christian Horstkotte.

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Unter der scheidenden EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager erließ die EU-Kommission 2021 eine neue – viel kritisierte – Verwaltungspraxis. Sie schuf die Möglichkeit, Unternehmenszusammenschlüsse auch dann zu prüfen, wenn sie weder in Brüssel noch in einem EU-Mitgliedstaat der Fusionskontrolle unterlagen. Das erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Sache Illumina/Grail mit seinem Urteil vom 3. September 2024 für unzulässig (Rs. C-611/22 P und C-625/22 P). Ein Machtwort des Gerichts, nachdem die Fusion der beiden kalifornischen Biotech-Unternehmen Grail und Illumina seit 2021 bereits mehrfach die EU-Kommission und die Europäischen Gerichte beschäftigt hatte. 

Trotz dieser empfindlichen Niederlage wird die Kommission weiterhin an der Praxis festhalten und mit anderen Mitteln versuchen, Zusammenschlüsse unterhalb der zuständigkeitsbegründenden Schwellenwerte zu prüfen. Dies wird zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit bei der Vorbereitung von M&A-Transaktionen führen und sollte daher bei jedem Unternehmen, das Akquisitionen plant, auf dem Radarschirm sein.

Der Weg, den die Kommission in den letzten Jahren ging, war kreativ: Sie brachte die die Mitgliedstaaten dazu, die Prüfung der Fusion an die Kommission zu verweisen. Zu einer solchen Verweisung ermächtigt Art. 22 der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO). Der war allerdings ursprünglich nur für solche Mitgliedstaaten konzipiert, die zum Zeitpunkt der Einführung der FKVO noch kein eigenes Funktionskontroll-Regime hatten. Dies geschah insbesondere auf Betreiben der Niederlande, was Art. 22 den Beinamen "The Dutch Clause" einbrachte. Da aber im Laufe der Zeit bis auf Luxemburg alle EU-Mitgliedstaaten eigene Fusionskontrollgesetze erließen, wurde Art. 22 mehr oder weniger bedeutungslos – bis Vestager 2021 eine Idee hatte.

Die Kommission legte die Vorschrift seitdem so aus, dass auch solche Mitgliedstaaten einen Zusammenschluss nach Brüssel verweisen können, die zwar über ein Fusionskontrollregime verfügen, nach welchem aber mangels Erreichens der Zuständigkeitsschwellen die Fusion nicht angemeldet werden muss. Damit erreichte die Kommission, dass sie alle Zusammenschlüsse mit niedrigen Umsätzen, an denen sie ein Prüfungsinteresse hatte, rechtlich prüfen konnte. Von Interesse für die Brüsseler Wettbewerbshüter sind zum Beispiel sog. Killer Acquisitions im Bereich der Digitalwirtschaft oder in der Pharmaindustrie. Unter Killer Acquisitons versteht man die Strategie, innovative Startups zu kaufen und dann vom Markt zu nehmen, bevor sie den etablierten Playern Wettbewerb machen. 

EuGH: Auslegung der Kommission methodenwidrig

Der erste Testfall für diese Praxis war im Jahr 2021 der Erwerb des US-Startups Grail, das im Bereich von innovativen Tests in der Krebsforschung erfolgreich war, durch das US-Biotech-Unternehmen Illumina. Grail hatte in Europa keine Umsätze, weswegen der Zusammenschluss weder in Brüssel noch in einem EU-Mitgliedstaat zur Fusionskontrolle angemeldet werden musste. Die Kommission ging aber davon aus, dass das Unternehmen im Wettbewerb in Europa eine bedeutende Rolle spielen werde, und wollte den Fall daher prüfen. Sie regte daher bei den Mitgliedstaaten an, den Fall gemäß Art. 22 FKVO nach Brüssel zu verweisen. Insgesamt sieben Mitgliedstaaten kamen dem auf Initiative von Frankreich nach.

Illumina meldete die Übernahme von Grail nach der Verweisung auf Druck der Kommission zwar an, bestritt aber weiterhin die Zuständigkeit der Kommission für die Prüfung. Obwohl die Kommission die Prüfung noch nicht abgeschlossen hatte, vollzogen die beiden US-Unternehmen den Zusammenschluss. Später untersagte die Kommission dann die Fusion, ordnete die Auflösung an und verhängte gegen Illumina ein Rekordbußgeld von 432 Millionen Euro.

Der EuGH aber gab nun Illumina Recht und erklärte die Praxis der Kommission für unzulässig. Er schloss sich damit Illuminas Rechtsauffassung an, Art. 22 FKVO erlaube keine Verweisungen durch für die Prüfung nicht zuständige Mitgliedstaaten. Insbesondere stellten die Richter mit einer für Luxemburger Urteile bemerkenswerten sprachlichen Schärfe klar, dass die Schwellenwerte für die Fusionskontrollanmeldung von "zentraler Bedeutung" sind. Sie ermöglichten es den Unternehmen, leicht festzustellen, ob ihre geplante Transaktion geprüft werden muss und, wenn ja, von welcher Behörde und wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist. Dies sei eine wichtige Garantie für Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit im europäischen Kartellrecht.

Die Auslegung von Art. 22 FKVO durch die Kommission stehe daher im Widerspruch zum Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts zwischen Kommission und mitgliedstaatlichen Behörden. Sie sei keinesfalls als Korrekturmechanismus für vermeintlich problematische Transaktionen vorgesehen, die die Kommission gerne prüfen möchte.

Mitgliedstaaten treffen abweichende Regeln

Auf den ersten Blick ist es ein Sieg für mehr Rechtssicherheit bei der Planung von Transaktionen. Gleichwohl hat Noch-Wettbewerbskommissarin Vestager in einer ersten Reaktion auf das Urteil bereits klargestellt, dass die Kommission weiterhin mit anderen Mitteln versuchen wird, solche Grenzfälle zu prüfen.

Solche kreativen Maßnahmen finden derzeit auch auf Ebene der Mitgliedstaaten statt: Italien und Schweden etwa haben in den vergangenen Jahren eigene sog. Call-in-Möglichkeiten für Zusammenschlüsse unterhalb der Schwellenwerte nach ihrem nationalen Recht geschaffen. Deutschland und Österreich haben bereits 2017 umsatzunabhängige Schwellenwerte auf Basis des Transaktionswertes eingeführt, um problematische Fälle trotz niedriger Umsätze prüfen zu können. Einige Kartellbehörden, z.B. in Frankreich, versuchen bereits, Zusammenschlüsse außerhalb der Fusionskontrolle nach den Vorschriften über wettbewerbswidrige Absprachen zu prüfen, wenn dadurch eine marktbeherrschende Stellung entsteht. 

Der EuGH selbst bestätigte im vergangenen Jahr in der Sache Towercast (Rs. C‑449/21), dass nationale Wettbewerbsbehörden bereits vollzogene Zusammenschlüsse einer Ex-post-Kontrolle nach den Maßstäben der Regeln über den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung unterziehen können. 

Man kann also trotz des klaren Votums aus Luxemburg für Rechtssicherheit im Fusionskontrollverfahren zahlreiche Tendenzen auf mitgliedstaatlicher Ebene erkennen, diese Rechtssicherheit mit neuartigen Maßnahmen wieder zu verunsichern.

In Brüssel wird auch unter der neuen Kommissarin ein frischer Wind wehen 

Am Dienstag stellte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Vorschläge für die Mitglieder der neuen EU-Kommission für die Periode 2024 bis 2029 vor. Die nominierte neue spanische Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera wird das Thema vermutlich sofort aufnehmen. In dem an sie adressierten "mission letter" erhält Ribera die Aufgabe, die Wettbewerbspolitik zu modernisieren. Sie soll nicht nur zahlreiche Vorschläge des jüngsten Berichts von Ex-EZB-Chef Mario Draghi zur Wettbewerbsfähigkeit Europas berücksichtigen. Auch und insbesondere soll sie die Praxis der Kommission, gegen Killerakquisitionen vorzugehen, verschärfen. Denkbar wäre dazu auch eine Änderung der FKVO, etwa durch Absenken oder Neufassung der Schwellenwerte, was von vielen nun gefordert wird. Dazu wird aber ein Konsens aller Mitgliedstatten benötigt, der so schnell nicht zu erlangen sein dürfte.

Dieser besondere Fokus auf die Risiken von Killerakquisitionen dürfte eine direkte Folge des Illumina/Grail-Urteils sein. Die vom EuGH geforderte Rechtssicherheit in der Fusionskontrolle wird es daher trotz eindeutigen Urteils auch in Zukunft nicht geben. Das M&A-Geschäft bewegt sich damit weiterhin auf unsicherem Terrain.

Christian Horstkotte ist Partner bei Mayer Brown in Düsseldorf. Er ist Co-Leiter der Europäischen Kartellrechtspraxis der Kanzlei und berät regelmäßig in komplexen Fusionskontrollverfahren.

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EuGH-Urteil zu Illumina/Grail: . In: Legal Tribune Online, 20.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55463 (abgerufen am: 18.11.2025 )

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